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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

gelesene Bücher Bericht erstatten und gehörte zu seiner Mittwochsgesellschaft.
Aber gemütlich näher scheint sie dem Dichter nicht getreten zu sein.

Zu diesen Frauen gehörig und doch von ihnen durch eine tiefe Kluft ge¬
trennt war der Mann, dem diese Zeilen vorzugsweise gewidmet sind, der
Philosoph Arthur Schopenhauer. In den Jahren, wo der Knabe gewöhnlich
an die Schulbank des Heimatsdorfes oder der Heimathstadt gefesselt ist, durch¬
reiste er mit Vater und Mutter die meiste" Länder Europas, um "in dem Buche
der Welt lesen zu lernen," wie sein Vater sagte. Die nötigen litterarischen
Kenntnisse sammelte er gleichsam im Vorübergehen erst in einer französischen,
dann in einer deutschen Erziehungsanstalt. Dabei sog er die republikanische
Unabhängigkeit des Denkens und Handelns, der sich seine Eltern auf Reisen
gewiß mehr noch als daheim überließen, mit vollen Zügen ein. Als ein Zeichen
dieser innern Selbständigkeit darf es angesehen werden, daß der durch Reich¬
tum verwöhnte Knabe auf seinen Wanderungen über nichts eifriger grübelte,
als über das Elend der Menschen. Bis zum siebzehnten Jahre genoß er die
goldene Freiheit des Kindes, dann mußte er in Hamburg in die kaufmännische
Lehre treten. So wollte es sein Vater, der einen Erben und Nachfolger für
sein Geschäft brauchte. Aber als der Vater gestorben, die Hinterlassenschaft
geordnet war und der Jüngling auf einen beträchtlichen Vermögensanteil rech¬
nen konnte, regte sich in ihm die Lust zu studiren. Erst in Gotha, dann in
Weimar, wo seine Mutter wohnte, bereitete er sich auf die Universität vor.
In Weimar blieb er ein und dreiviertel Jahr, von Anfang 1808 bis zum
Oktober 1809. Es konnte nicht ausbleiben, daß er im Hause seiner Mutter
mit Goethe zusammentraf, aber nur an Gesellschaftsabenden unter vielen; näher
trat der Zwanzigjährige dem vielbegehrten reifen Manne noch nicht. Dazu
trug auch das unerquickliche Verhältnis bei, in dem er schon damals zu seiner
Mutter stand. Diese fühlte sich durch sein schroffes, rechthaberisches Auftreten
so sehr in ihrem vornehmen Behagen gehemmt, daß sie ihn nicht in ihr Haus
aufnahm, sondern ihn nur während des Mittagsmahles und an ihren Gesell¬
schaftsabenden bei sich duldete. Erst nachdem er in Göttingen und Berlin seine
Studien vollendet und auf Grund seiner Abhandlung: "Über die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" zum Doktor der Philosophie
promovirt wordeu war, im November 1813, kehrte er zu einem länger"
Aufenthalte nach Weimar zurück, nicht um seiner Mutter nahe zu sein, von
der er sich innerlich immer mehr entfernte, sondern ohne Zweifel, um sich des
Umganges mit Goethe zu erfreuen. Bis zum Mai 1814 genoß er dieses Glück,
denn als ein solches erschien ihm schon der Anblick des großen Mannes.
Goethe war durch die Doktorschrift auf ihn aufmerksam geworden; besonders
hatte ihn das Kapitel über den Seinsgrund angesprochen, worin die Demon¬
stration der geometrischen Sätze durch bloße Anschauung gefordert wird. Die
Anschauung, das Experiment galt ja auch Goethe für den besten Beweis. So


Goethe und Schopenhauer.

gelesene Bücher Bericht erstatten und gehörte zu seiner Mittwochsgesellschaft.
Aber gemütlich näher scheint sie dem Dichter nicht getreten zu sein.

Zu diesen Frauen gehörig und doch von ihnen durch eine tiefe Kluft ge¬
trennt war der Mann, dem diese Zeilen vorzugsweise gewidmet sind, der
Philosoph Arthur Schopenhauer. In den Jahren, wo der Knabe gewöhnlich
an die Schulbank des Heimatsdorfes oder der Heimathstadt gefesselt ist, durch¬
reiste er mit Vater und Mutter die meiste» Länder Europas, um „in dem Buche
der Welt lesen zu lernen," wie sein Vater sagte. Die nötigen litterarischen
Kenntnisse sammelte er gleichsam im Vorübergehen erst in einer französischen,
dann in einer deutschen Erziehungsanstalt. Dabei sog er die republikanische
Unabhängigkeit des Denkens und Handelns, der sich seine Eltern auf Reisen
gewiß mehr noch als daheim überließen, mit vollen Zügen ein. Als ein Zeichen
dieser innern Selbständigkeit darf es angesehen werden, daß der durch Reich¬
tum verwöhnte Knabe auf seinen Wanderungen über nichts eifriger grübelte,
als über das Elend der Menschen. Bis zum siebzehnten Jahre genoß er die
goldene Freiheit des Kindes, dann mußte er in Hamburg in die kaufmännische
Lehre treten. So wollte es sein Vater, der einen Erben und Nachfolger für
sein Geschäft brauchte. Aber als der Vater gestorben, die Hinterlassenschaft
geordnet war und der Jüngling auf einen beträchtlichen Vermögensanteil rech¬
nen konnte, regte sich in ihm die Lust zu studiren. Erst in Gotha, dann in
Weimar, wo seine Mutter wohnte, bereitete er sich auf die Universität vor.
In Weimar blieb er ein und dreiviertel Jahr, von Anfang 1808 bis zum
Oktober 1809. Es konnte nicht ausbleiben, daß er im Hause seiner Mutter
mit Goethe zusammentraf, aber nur an Gesellschaftsabenden unter vielen; näher
trat der Zwanzigjährige dem vielbegehrten reifen Manne noch nicht. Dazu
trug auch das unerquickliche Verhältnis bei, in dem er schon damals zu seiner
Mutter stand. Diese fühlte sich durch sein schroffes, rechthaberisches Auftreten
so sehr in ihrem vornehmen Behagen gehemmt, daß sie ihn nicht in ihr Haus
aufnahm, sondern ihn nur während des Mittagsmahles und an ihren Gesell¬
schaftsabenden bei sich duldete. Erst nachdem er in Göttingen und Berlin seine
Studien vollendet und auf Grund seiner Abhandlung: „Über die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" zum Doktor der Philosophie
promovirt wordeu war, im November 1813, kehrte er zu einem länger»
Aufenthalte nach Weimar zurück, nicht um seiner Mutter nahe zu sein, von
der er sich innerlich immer mehr entfernte, sondern ohne Zweifel, um sich des
Umganges mit Goethe zu erfreuen. Bis zum Mai 1814 genoß er dieses Glück,
denn als ein solches erschien ihm schon der Anblick des großen Mannes.
Goethe war durch die Doktorschrift auf ihn aufmerksam geworden; besonders
hatte ihn das Kapitel über den Seinsgrund angesprochen, worin die Demon¬
stration der geometrischen Sätze durch bloße Anschauung gefordert wird. Die
Anschauung, das Experiment galt ja auch Goethe für den besten Beweis. So


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/124>, abgerufen am 02.07.2024.