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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Der Fall Harnack.

hat nichts davon verlauten lassen, daß dieser etwa bei den leitenden Organen
der Landeskirche des Großherzogtums Hessen, deren theologischer Nachwuchs
sieben Jahre lang durch Harnacks Schule gegangen ist, Erkundigungen einge¬
zogen, oder daß er etwa in Hannover oder Württemberg, wo zahlreiche Anhänger
der Theologie, die auch Harnack vertritt, im Pfarramte stehen, angefragt habe.
Vielmehr hat der Oberkirchenrat es dem Minister überlassen, das Votum der
theologischen Fakultät durch Informationen zu ergänzen, die er bei maßgebenden
Instanzen über die praktisch kirchlichen Früchte der Lehrthätigkeit Harnacks einge¬
zogen hat. Und auf Grund eben dieser Zeugnisse ist der Minister bei seinem
Entschlüsse, den Vorschlag der theologischen Fakultät anzunehmen, geblieben.
Der Oberkirchenrat hat sein ablehnendes Votum darauf gestützt, daß Harnacks
aus seinen Schriften zu erkennender theologischer Standpunkt ihn zum Lehrer
künftiger Geistlichen der evangelischen Landeskirche Preußens ungeeignet mache.
Es ist aber sehr die Frage, ob zur Abgabe eines solchen Urteils ein aus
Juristen und praktischen Theologen bestehendes Kollegium mehr berufe" sei als
eine theologische Fakultät. Der kirchliche Beruf der Theologie besteht in der
evangelischen Kirche nicht wie in der katholischen darin, die im Laufe der
Geschichte festgesetzte Summe vou Dogmen zur unantastbaren Voraussetzung
zu nehmen und die Wahrheit der autoritätsmäßig übernommenen Überlieferung
hinterher zu beweisen, wobei den geschichtlichen Thatsachen Gewalt angethan
wird und die Wissenschaft zur Advokatenkunst herabgewürdigt wird, sondern
darin, die Überlieferung daraufhin zu prüfen, ob in ihr das Evangelium seinen
zutreffenden Ausdruck gefunden habe, und diesen immer besser zu finden. Und ein
wesentliches Mittel hierfür ist die geschichtliche Erforschung nicht nur der kirch¬
lichen Entwicklung, sondern auch der Geschichte des Urchristentums, deren Urkunden
im Neuen Testament vorliegen, und der Religion Israels, deren Urkunde das Alte
Testament ist. Dabei ist es unvermeidlich, daß Vorstellungen zerstört werden,
die manchen infolge ihrer Erziehung oder theologischen Bildung mit dem
religiösen Leben untrennbar verknüpft erscheinen, obwohl sie dies keineswegs
sind. Auch die orthodoxesten Theologen können sich diesem Flusse der theologischen
Forschung so wenig entziehen, daß sie heute zu Ergebnissen gelangt sind, die
noch vor zwanzig Jahren von den damaligen Wortführern der Orthodoxie als
die Ausgeburten des krassesten Unglaubens gebrandmarkt wurden. So gewiß
nun auch der einfache Christ etwa über eine Predigt urteilen kann, ob sie das
Evangelium enthält oder nicht, so schwer ist es, ein gerechtes Urteil darüber
zu fällen, ob eine neue theologische Richtung der Kirche schädlich oder segens¬
reich sei. Und wer durch seinen praktischen Beruf daran gehindert wird, der
Bewegung der theologischen Wissenschaft wirklich zu folgen, der soll mit solchem
Urteil sehr zurückhaltend sein. Denn von der jedesmal herrschenden Richtung
ist noch immer jedes Neue, das später als segensreicher Fortschritt sich heraus¬
gestellt hat, als Abfall vom Glauben gebrandmarkt worden. Darum sind die


Der Fall Harnack.

hat nichts davon verlauten lassen, daß dieser etwa bei den leitenden Organen
der Landeskirche des Großherzogtums Hessen, deren theologischer Nachwuchs
sieben Jahre lang durch Harnacks Schule gegangen ist, Erkundigungen einge¬
zogen, oder daß er etwa in Hannover oder Württemberg, wo zahlreiche Anhänger
der Theologie, die auch Harnack vertritt, im Pfarramte stehen, angefragt habe.
Vielmehr hat der Oberkirchenrat es dem Minister überlassen, das Votum der
theologischen Fakultät durch Informationen zu ergänzen, die er bei maßgebenden
Instanzen über die praktisch kirchlichen Früchte der Lehrthätigkeit Harnacks einge¬
zogen hat. Und auf Grund eben dieser Zeugnisse ist der Minister bei seinem
Entschlüsse, den Vorschlag der theologischen Fakultät anzunehmen, geblieben.
Der Oberkirchenrat hat sein ablehnendes Votum darauf gestützt, daß Harnacks
aus seinen Schriften zu erkennender theologischer Standpunkt ihn zum Lehrer
künftiger Geistlichen der evangelischen Landeskirche Preußens ungeeignet mache.
Es ist aber sehr die Frage, ob zur Abgabe eines solchen Urteils ein aus
Juristen und praktischen Theologen bestehendes Kollegium mehr berufe» sei als
eine theologische Fakultät. Der kirchliche Beruf der Theologie besteht in der
evangelischen Kirche nicht wie in der katholischen darin, die im Laufe der
Geschichte festgesetzte Summe vou Dogmen zur unantastbaren Voraussetzung
zu nehmen und die Wahrheit der autoritätsmäßig übernommenen Überlieferung
hinterher zu beweisen, wobei den geschichtlichen Thatsachen Gewalt angethan
wird und die Wissenschaft zur Advokatenkunst herabgewürdigt wird, sondern
darin, die Überlieferung daraufhin zu prüfen, ob in ihr das Evangelium seinen
zutreffenden Ausdruck gefunden habe, und diesen immer besser zu finden. Und ein
wesentliches Mittel hierfür ist die geschichtliche Erforschung nicht nur der kirch¬
lichen Entwicklung, sondern auch der Geschichte des Urchristentums, deren Urkunden
im Neuen Testament vorliegen, und der Religion Israels, deren Urkunde das Alte
Testament ist. Dabei ist es unvermeidlich, daß Vorstellungen zerstört werden,
die manchen infolge ihrer Erziehung oder theologischen Bildung mit dem
religiösen Leben untrennbar verknüpft erscheinen, obwohl sie dies keineswegs
sind. Auch die orthodoxesten Theologen können sich diesem Flusse der theologischen
Forschung so wenig entziehen, daß sie heute zu Ergebnissen gelangt sind, die
noch vor zwanzig Jahren von den damaligen Wortführern der Orthodoxie als
die Ausgeburten des krassesten Unglaubens gebrandmarkt wurden. So gewiß
nun auch der einfache Christ etwa über eine Predigt urteilen kann, ob sie das
Evangelium enthält oder nicht, so schwer ist es, ein gerechtes Urteil darüber
zu fällen, ob eine neue theologische Richtung der Kirche schädlich oder segens¬
reich sei. Und wer durch seinen praktischen Beruf daran gehindert wird, der
Bewegung der theologischen Wissenschaft wirklich zu folgen, der soll mit solchem
Urteil sehr zurückhaltend sein. Denn von der jedesmal herrschenden Richtung
ist noch immer jedes Neue, das später als segensreicher Fortschritt sich heraus¬
gestellt hat, als Abfall vom Glauben gebrandmarkt worden. Darum sind die


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[0110] Der Fall Harnack. hat nichts davon verlauten lassen, daß dieser etwa bei den leitenden Organen der Landeskirche des Großherzogtums Hessen, deren theologischer Nachwuchs sieben Jahre lang durch Harnacks Schule gegangen ist, Erkundigungen einge¬ zogen, oder daß er etwa in Hannover oder Württemberg, wo zahlreiche Anhänger der Theologie, die auch Harnack vertritt, im Pfarramte stehen, angefragt habe. Vielmehr hat der Oberkirchenrat es dem Minister überlassen, das Votum der theologischen Fakultät durch Informationen zu ergänzen, die er bei maßgebenden Instanzen über die praktisch kirchlichen Früchte der Lehrthätigkeit Harnacks einge¬ zogen hat. Und auf Grund eben dieser Zeugnisse ist der Minister bei seinem Entschlüsse, den Vorschlag der theologischen Fakultät anzunehmen, geblieben. Der Oberkirchenrat hat sein ablehnendes Votum darauf gestützt, daß Harnacks aus seinen Schriften zu erkennender theologischer Standpunkt ihn zum Lehrer künftiger Geistlichen der evangelischen Landeskirche Preußens ungeeignet mache. Es ist aber sehr die Frage, ob zur Abgabe eines solchen Urteils ein aus Juristen und praktischen Theologen bestehendes Kollegium mehr berufe» sei als eine theologische Fakultät. Der kirchliche Beruf der Theologie besteht in der evangelischen Kirche nicht wie in der katholischen darin, die im Laufe der Geschichte festgesetzte Summe vou Dogmen zur unantastbaren Voraussetzung zu nehmen und die Wahrheit der autoritätsmäßig übernommenen Überlieferung hinterher zu beweisen, wobei den geschichtlichen Thatsachen Gewalt angethan wird und die Wissenschaft zur Advokatenkunst herabgewürdigt wird, sondern darin, die Überlieferung daraufhin zu prüfen, ob in ihr das Evangelium seinen zutreffenden Ausdruck gefunden habe, und diesen immer besser zu finden. Und ein wesentliches Mittel hierfür ist die geschichtliche Erforschung nicht nur der kirch¬ lichen Entwicklung, sondern auch der Geschichte des Urchristentums, deren Urkunden im Neuen Testament vorliegen, und der Religion Israels, deren Urkunde das Alte Testament ist. Dabei ist es unvermeidlich, daß Vorstellungen zerstört werden, die manchen infolge ihrer Erziehung oder theologischen Bildung mit dem religiösen Leben untrennbar verknüpft erscheinen, obwohl sie dies keineswegs sind. Auch die orthodoxesten Theologen können sich diesem Flusse der theologischen Forschung so wenig entziehen, daß sie heute zu Ergebnissen gelangt sind, die noch vor zwanzig Jahren von den damaligen Wortführern der Orthodoxie als die Ausgeburten des krassesten Unglaubens gebrandmarkt wurden. So gewiß nun auch der einfache Christ etwa über eine Predigt urteilen kann, ob sie das Evangelium enthält oder nicht, so schwer ist es, ein gerechtes Urteil darüber zu fällen, ob eine neue theologische Richtung der Kirche schädlich oder segens¬ reich sei. Und wer durch seinen praktischen Beruf daran gehindert wird, der Bewegung der theologischen Wissenschaft wirklich zu folgen, der soll mit solchem Urteil sehr zurückhaltend sein. Denn von der jedesmal herrschenden Richtung ist noch immer jedes Neue, das später als segensreicher Fortschritt sich heraus¬ gestellt hat, als Abfall vom Glauben gebrandmarkt worden. Darum sind die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/110>, abgerufen am 22.07.2024.