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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Menschenleben kaum ausreichen, obgleich nur das Hervorragendste davon auf
unsre Zeit gekommen ist. Wir müssen also eine Grenze ziehen. Da bin ich
denn der Zustimmung von neun Zehnteln aller "gebildeten" Männer gewiß,
wenn ich diese Grenze folgendermaßen ziehe. Von den Prosaikern: fließendes
Lesen des Livius (Tacitus und Senecci sind selbst für den Primaner nach Form
und Inhalt zu schwer und nicht verdaulich); Bekanntschaft mit Ciceros Reden
und Briefen (seine philosophischen Schriften sind großenteils seichtes Geschwätz;
wer sich mit Philosophie beschäftigen will, der lese unsre deutschen Philosophen,
und auch diese nicht vor dem dreißigsten Jahre). Unter den Dichtern verlange
ich: gute Kenntnis der Metamorphosen, hinreichende Bekanntschaft mit der
Äneide und möglichst genaue Kenntnis des Horaz. Mit aller übrigen latei¬
nischen Poesie verschone man die Jugend; dafür gebe man ihr das Bessere: die
deutsche Dichtung. Jeder "gebildete Manu" schlage an seine Brust und sage,
ob er beim Abgange zur Universität in Wahrheit mehr gewußt habe als dies,
und ob das Mehr ihm irgend von Nutzen gewesen ist.

Vergleiche ich mit diesem meinem Verlangen den Bericht des Neustadt-
Dresdner Gymnasiums über das Schuljahr 1885/86, einer Anstalt, welche mit
Recht für eine der ausgezeichnetsten ihrer Art gilt, so finde ich, daß dessen
Programm viel weiter geht. Da steht z. B. in Oberprima der ganze Tacitus;
in Unterprima: Terenz, Catull und Properz; vor allem aber, und mit sehr
großem Zeitaufwande: Extemporalia, Skripta, lateinische Aufsätze, metrische
Übungen, ja lateinische Disputationen! Diese Zeitverschwendung an Überflüssiges
ist aufs tiefste zu beklagen. Wer hat je im spätern Leben lateinisch zu sprechen,
zu schreiben oder gar zu dichten! Wird der Lehrstoff meinem Vorschlage gemäß
beschränkt und wird er zweckmäßig ans die verschieden Klassen verteilt, dann
wird es möglich werden, die lateinischen Stunden in Oberprima von wöchentlich
acht auf zwei, in Unterprima auf drei, in Sekunda von neun auf drei, in
Tertia von neun auf vier, in den untersten Klassen von neun ans fünf herab¬
zusetzen, eine gewaltige Ersparnis, die andern Gegenständen zu gute kommen
würde, namentlich den noch immer in traurigster Weise vernachlässigten körper¬
lichen Übungen. Außerdem aber würde, und hierauf lege ich großes Gewicht,
eine ganz bedeutende Verminderung der häuslichen Arbeiten, dieses Krebsschadens
unsrer höhern Schulen, möglich werden.

Aber nicht minder als an dem Zuviel krankt unser Gymnasium fast überall
an der Methode, ich möchte sagen am Geiste des Unterrichts. Der Zweck des
Lateinischlernens ist, wie ich ausgeführt habe, anfangs die Schulung des kind¬
lichen Geistes, später die Einführung in das Altertum durch die lateinischen
Schriftsteller. Dementsprechend muß der Unterricht in den ersten vier bis fünf
Jahren natürlich ein wesentlich philologischer sein. Zur Erlernung der Sprache
ist während dieser Zeit ein unerläßliches Mittel das lateinische Schreiben, das
Exerzitinm, das Skriptnm, das Extemporale. Dann aber muß anstatt der


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Menschenleben kaum ausreichen, obgleich nur das Hervorragendste davon auf
unsre Zeit gekommen ist. Wir müssen also eine Grenze ziehen. Da bin ich
denn der Zustimmung von neun Zehnteln aller „gebildeten" Männer gewiß,
wenn ich diese Grenze folgendermaßen ziehe. Von den Prosaikern: fließendes
Lesen des Livius (Tacitus und Senecci sind selbst für den Primaner nach Form
und Inhalt zu schwer und nicht verdaulich); Bekanntschaft mit Ciceros Reden
und Briefen (seine philosophischen Schriften sind großenteils seichtes Geschwätz;
wer sich mit Philosophie beschäftigen will, der lese unsre deutschen Philosophen,
und auch diese nicht vor dem dreißigsten Jahre). Unter den Dichtern verlange
ich: gute Kenntnis der Metamorphosen, hinreichende Bekanntschaft mit der
Äneide und möglichst genaue Kenntnis des Horaz. Mit aller übrigen latei¬
nischen Poesie verschone man die Jugend; dafür gebe man ihr das Bessere: die
deutsche Dichtung. Jeder „gebildete Manu" schlage an seine Brust und sage,
ob er beim Abgange zur Universität in Wahrheit mehr gewußt habe als dies,
und ob das Mehr ihm irgend von Nutzen gewesen ist.

Vergleiche ich mit diesem meinem Verlangen den Bericht des Neustadt-
Dresdner Gymnasiums über das Schuljahr 1885/86, einer Anstalt, welche mit
Recht für eine der ausgezeichnetsten ihrer Art gilt, so finde ich, daß dessen
Programm viel weiter geht. Da steht z. B. in Oberprima der ganze Tacitus;
in Unterprima: Terenz, Catull und Properz; vor allem aber, und mit sehr
großem Zeitaufwande: Extemporalia, Skripta, lateinische Aufsätze, metrische
Übungen, ja lateinische Disputationen! Diese Zeitverschwendung an Überflüssiges
ist aufs tiefste zu beklagen. Wer hat je im spätern Leben lateinisch zu sprechen,
zu schreiben oder gar zu dichten! Wird der Lehrstoff meinem Vorschlage gemäß
beschränkt und wird er zweckmäßig ans die verschieden Klassen verteilt, dann
wird es möglich werden, die lateinischen Stunden in Oberprima von wöchentlich
acht auf zwei, in Unterprima auf drei, in Sekunda von neun auf drei, in
Tertia von neun auf vier, in den untersten Klassen von neun ans fünf herab¬
zusetzen, eine gewaltige Ersparnis, die andern Gegenständen zu gute kommen
würde, namentlich den noch immer in traurigster Weise vernachlässigten körper¬
lichen Übungen. Außerdem aber würde, und hierauf lege ich großes Gewicht,
eine ganz bedeutende Verminderung der häuslichen Arbeiten, dieses Krebsschadens
unsrer höhern Schulen, möglich werden.

Aber nicht minder als an dem Zuviel krankt unser Gymnasium fast überall
an der Methode, ich möchte sagen am Geiste des Unterrichts. Der Zweck des
Lateinischlernens ist, wie ich ausgeführt habe, anfangs die Schulung des kind¬
lichen Geistes, später die Einführung in das Altertum durch die lateinischen
Schriftsteller. Dementsprechend muß der Unterricht in den ersten vier bis fünf
Jahren natürlich ein wesentlich philologischer sein. Zur Erlernung der Sprache
ist während dieser Zeit ein unerläßliches Mittel das lateinische Schreiben, das
Exerzitinm, das Skriptnm, das Extemporale. Dann aber muß anstatt der


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[0575] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien. Menschenleben kaum ausreichen, obgleich nur das Hervorragendste davon auf unsre Zeit gekommen ist. Wir müssen also eine Grenze ziehen. Da bin ich denn der Zustimmung von neun Zehnteln aller „gebildeten" Männer gewiß, wenn ich diese Grenze folgendermaßen ziehe. Von den Prosaikern: fließendes Lesen des Livius (Tacitus und Senecci sind selbst für den Primaner nach Form und Inhalt zu schwer und nicht verdaulich); Bekanntschaft mit Ciceros Reden und Briefen (seine philosophischen Schriften sind großenteils seichtes Geschwätz; wer sich mit Philosophie beschäftigen will, der lese unsre deutschen Philosophen, und auch diese nicht vor dem dreißigsten Jahre). Unter den Dichtern verlange ich: gute Kenntnis der Metamorphosen, hinreichende Bekanntschaft mit der Äneide und möglichst genaue Kenntnis des Horaz. Mit aller übrigen latei¬ nischen Poesie verschone man die Jugend; dafür gebe man ihr das Bessere: die deutsche Dichtung. Jeder „gebildete Manu" schlage an seine Brust und sage, ob er beim Abgange zur Universität in Wahrheit mehr gewußt habe als dies, und ob das Mehr ihm irgend von Nutzen gewesen ist. Vergleiche ich mit diesem meinem Verlangen den Bericht des Neustadt- Dresdner Gymnasiums über das Schuljahr 1885/86, einer Anstalt, welche mit Recht für eine der ausgezeichnetsten ihrer Art gilt, so finde ich, daß dessen Programm viel weiter geht. Da steht z. B. in Oberprima der ganze Tacitus; in Unterprima: Terenz, Catull und Properz; vor allem aber, und mit sehr großem Zeitaufwande: Extemporalia, Skripta, lateinische Aufsätze, metrische Übungen, ja lateinische Disputationen! Diese Zeitverschwendung an Überflüssiges ist aufs tiefste zu beklagen. Wer hat je im spätern Leben lateinisch zu sprechen, zu schreiben oder gar zu dichten! Wird der Lehrstoff meinem Vorschlage gemäß beschränkt und wird er zweckmäßig ans die verschieden Klassen verteilt, dann wird es möglich werden, die lateinischen Stunden in Oberprima von wöchentlich acht auf zwei, in Unterprima auf drei, in Sekunda von neun auf drei, in Tertia von neun auf vier, in den untersten Klassen von neun ans fünf herab¬ zusetzen, eine gewaltige Ersparnis, die andern Gegenständen zu gute kommen würde, namentlich den noch immer in traurigster Weise vernachlässigten körper¬ lichen Übungen. Außerdem aber würde, und hierauf lege ich großes Gewicht, eine ganz bedeutende Verminderung der häuslichen Arbeiten, dieses Krebsschadens unsrer höhern Schulen, möglich werden. Aber nicht minder als an dem Zuviel krankt unser Gymnasium fast überall an der Methode, ich möchte sagen am Geiste des Unterrichts. Der Zweck des Lateinischlernens ist, wie ich ausgeführt habe, anfangs die Schulung des kind¬ lichen Geistes, später die Einführung in das Altertum durch die lateinischen Schriftsteller. Dementsprechend muß der Unterricht in den ersten vier bis fünf Jahren natürlich ein wesentlich philologischer sein. Zur Erlernung der Sprache ist während dieser Zeit ein unerläßliches Mittel das lateinische Schreiben, das Exerzitinm, das Skriptnm, das Extemporale. Dann aber muß anstatt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/575>, abgerufen am 27.07.2024.