Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Grammatik die Litteratur in den Vordergrund treten; die philologische Behand¬
lung muß aufhören, die historisch-ästhetische muß beginnen. Leider geschieht
das nicht. Die Gymnasiallehrer sind zumeist Philologen. Wie jeder Mensch
halten sie dasjenige für die Hauptsache, dem sie ihr Leben gewidmet haben:
die Sprache. Sie vergessen fortwährend, daß die Sprache keineswegs Zweck,
sondern lediglich Mittel zum Zweck ist; sie behalten die wesentlich philologische
Behandlung auch dann noch bei, wenn es sich gar nicht mehr um die Sprache
handelt, sondern um die Litteratur. Ich habe zehn Jahre lang ein Gymnasium
besucht, das einen altbegründeten und hohen Ruf besaß. Dort stand die Philo¬
logie in üppigster Blüte. Noch in Prima wurde täglich stundenlang über
grammatische Formen, über Lesarten, Konjekturen u. tgi. verhandelt, zumeist in
lateinischer Sprache, als hinge das Heil der Welt davon ab; hätten wir nicht
Romane unterm Tische gehabt, wir wären umgekommen vor Langerweile. Ein
volles Semester wurde an der Antigone gelesen und lateinisch herumexponirt,
ohne sie zu Ende zu bringen; ein volles Semester verging darüber, die Emilia
Galotti ins Lateinische zu übersetzen- Von der poetischen Bedeutung dieser
Werke ist nie auch nur mit einem einzigen Worte die Rede gewesen. Lessing
wurde freundlich von oben herab behandelt, er hatte ja nur deutsch geschrieben.
Natürlich faßten wir alle einen grimmigen Haß gegen die alten Klassiker. Ich
habe im spätern Leben, den Horaz ausgenommen, nur dann wieder einen von
ihnen angerührt, wenn ich dessen zu einem bestimmten Zwecke bedürfte; von
meinen Kommilitonen, die Philologen ausgenommen, sicher keiner je wieder.
Das ganze Altertum war uns in Grund und Boden verleidet. Das alles ist
unzweifelhaft jetzt anders. Dennoch habe ich guten Grund anzunehmen, daß
auch jetzt uoch auf den meisten Gymnasien die Klassiker nicht in der richtigen
Weise behandelt werden. Würde es sonst vorkommen, daß die glücklich durchs
Abiturientenexamen gekommenen die armen unschuldigen Bücher ins Feuer
werfen, wie Luther die Bannbulle? Würde es vorkommen, daß man einem
deutschen Könige, der eine Fürstenschule mit seinem Besuche beehrt, den König
Ödipus griechisch vorspielt?

Wie sollen denn nun aber die Lehrer in den höhern Klassen die Klassiker
treiben? Ich will es mit kurzen Worten sagen. An der Hand der alten Schrift¬
steller sollen sie den Schüler ins Altertum einführen. Die alte Geschichte, die
politische und soziale Gestaltung des Lebens der alten Völker, ihre Beziehungen
zu einander und ihre Einwirkungen auf einander, das, was sie in jeder Rich¬
tung geschaffen und hervorgebracht haben, namentlich auf dem Felde der Wissen¬
schaft und Kunst, das muß, und zwar immer in lebendiger Beziehung auf die
Gegenwart und im Vergleich mit derselben, dem Schüler dargelegt, dafür muß
zuvörderst sein Interesse, dann sein Verständnis geweckt werden. Beim Lese,?
der alten Dichter ist vor allem der Sinn für deren poetischen Wert anzuregen.
Dieser Sinn fehlt sicher keinem Schüler; daß er aber auf den Gymnasien in


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Grammatik die Litteratur in den Vordergrund treten; die philologische Behand¬
lung muß aufhören, die historisch-ästhetische muß beginnen. Leider geschieht
das nicht. Die Gymnasiallehrer sind zumeist Philologen. Wie jeder Mensch
halten sie dasjenige für die Hauptsache, dem sie ihr Leben gewidmet haben:
die Sprache. Sie vergessen fortwährend, daß die Sprache keineswegs Zweck,
sondern lediglich Mittel zum Zweck ist; sie behalten die wesentlich philologische
Behandlung auch dann noch bei, wenn es sich gar nicht mehr um die Sprache
handelt, sondern um die Litteratur. Ich habe zehn Jahre lang ein Gymnasium
besucht, das einen altbegründeten und hohen Ruf besaß. Dort stand die Philo¬
logie in üppigster Blüte. Noch in Prima wurde täglich stundenlang über
grammatische Formen, über Lesarten, Konjekturen u. tgi. verhandelt, zumeist in
lateinischer Sprache, als hinge das Heil der Welt davon ab; hätten wir nicht
Romane unterm Tische gehabt, wir wären umgekommen vor Langerweile. Ein
volles Semester wurde an der Antigone gelesen und lateinisch herumexponirt,
ohne sie zu Ende zu bringen; ein volles Semester verging darüber, die Emilia
Galotti ins Lateinische zu übersetzen- Von der poetischen Bedeutung dieser
Werke ist nie auch nur mit einem einzigen Worte die Rede gewesen. Lessing
wurde freundlich von oben herab behandelt, er hatte ja nur deutsch geschrieben.
Natürlich faßten wir alle einen grimmigen Haß gegen die alten Klassiker. Ich
habe im spätern Leben, den Horaz ausgenommen, nur dann wieder einen von
ihnen angerührt, wenn ich dessen zu einem bestimmten Zwecke bedürfte; von
meinen Kommilitonen, die Philologen ausgenommen, sicher keiner je wieder.
Das ganze Altertum war uns in Grund und Boden verleidet. Das alles ist
unzweifelhaft jetzt anders. Dennoch habe ich guten Grund anzunehmen, daß
auch jetzt uoch auf den meisten Gymnasien die Klassiker nicht in der richtigen
Weise behandelt werden. Würde es sonst vorkommen, daß die glücklich durchs
Abiturientenexamen gekommenen die armen unschuldigen Bücher ins Feuer
werfen, wie Luther die Bannbulle? Würde es vorkommen, daß man einem
deutschen Könige, der eine Fürstenschule mit seinem Besuche beehrt, den König
Ödipus griechisch vorspielt?

Wie sollen denn nun aber die Lehrer in den höhern Klassen die Klassiker
treiben? Ich will es mit kurzen Worten sagen. An der Hand der alten Schrift¬
steller sollen sie den Schüler ins Altertum einführen. Die alte Geschichte, die
politische und soziale Gestaltung des Lebens der alten Völker, ihre Beziehungen
zu einander und ihre Einwirkungen auf einander, das, was sie in jeder Rich¬
tung geschaffen und hervorgebracht haben, namentlich auf dem Felde der Wissen¬
schaft und Kunst, das muß, und zwar immer in lebendiger Beziehung auf die
Gegenwart und im Vergleich mit derselben, dem Schüler dargelegt, dafür muß
zuvörderst sein Interesse, dann sein Verständnis geweckt werden. Beim Lese,?
der alten Dichter ist vor allem der Sinn für deren poetischen Wert anzuregen.
Dieser Sinn fehlt sicher keinem Schüler; daß er aber auf den Gymnasien in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0576" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203353"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1812" prev="#ID_1811"> Grammatik die Litteratur in den Vordergrund treten; die philologische Behand¬<lb/>
lung muß aufhören, die historisch-ästhetische muß beginnen. Leider geschieht<lb/>
das nicht. Die Gymnasiallehrer sind zumeist Philologen. Wie jeder Mensch<lb/>
halten sie dasjenige für die Hauptsache, dem sie ihr Leben gewidmet haben:<lb/>
die Sprache. Sie vergessen fortwährend, daß die Sprache keineswegs Zweck,<lb/>
sondern lediglich Mittel zum Zweck ist; sie behalten die wesentlich philologische<lb/>
Behandlung auch dann noch bei, wenn es sich gar nicht mehr um die Sprache<lb/>
handelt, sondern um die Litteratur. Ich habe zehn Jahre lang ein Gymnasium<lb/>
besucht, das einen altbegründeten und hohen Ruf besaß. Dort stand die Philo¬<lb/>
logie in üppigster Blüte. Noch in Prima wurde täglich stundenlang über<lb/>
grammatische Formen, über Lesarten, Konjekturen u. tgi. verhandelt, zumeist in<lb/>
lateinischer Sprache, als hinge das Heil der Welt davon ab; hätten wir nicht<lb/>
Romane unterm Tische gehabt, wir wären umgekommen vor Langerweile. Ein<lb/>
volles Semester wurde an der Antigone gelesen und lateinisch herumexponirt,<lb/>
ohne sie zu Ende zu bringen; ein volles Semester verging darüber, die Emilia<lb/>
Galotti ins Lateinische zu übersetzen- Von der poetischen Bedeutung dieser<lb/>
Werke ist nie auch nur mit einem einzigen Worte die Rede gewesen. Lessing<lb/>
wurde freundlich von oben herab behandelt, er hatte ja nur deutsch geschrieben.<lb/>
Natürlich faßten wir alle einen grimmigen Haß gegen die alten Klassiker. Ich<lb/>
habe im spätern Leben, den Horaz ausgenommen, nur dann wieder einen von<lb/>
ihnen angerührt, wenn ich dessen zu einem bestimmten Zwecke bedürfte; von<lb/>
meinen Kommilitonen, die Philologen ausgenommen, sicher keiner je wieder.<lb/>
Das ganze Altertum war uns in Grund und Boden verleidet. Das alles ist<lb/>
unzweifelhaft jetzt anders. Dennoch habe ich guten Grund anzunehmen, daß<lb/>
auch jetzt uoch auf den meisten Gymnasien die Klassiker nicht in der richtigen<lb/>
Weise behandelt werden. Würde es sonst vorkommen, daß die glücklich durchs<lb/>
Abiturientenexamen gekommenen die armen unschuldigen Bücher ins Feuer<lb/>
werfen, wie Luther die Bannbulle? Würde es vorkommen, daß man einem<lb/>
deutschen Könige, der eine Fürstenschule mit seinem Besuche beehrt, den König<lb/>
Ödipus griechisch vorspielt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1813" next="#ID_1814"> Wie sollen denn nun aber die Lehrer in den höhern Klassen die Klassiker<lb/>
treiben? Ich will es mit kurzen Worten sagen. An der Hand der alten Schrift¬<lb/>
steller sollen sie den Schüler ins Altertum einführen. Die alte Geschichte, die<lb/>
politische und soziale Gestaltung des Lebens der alten Völker, ihre Beziehungen<lb/>
zu einander und ihre Einwirkungen auf einander, das, was sie in jeder Rich¬<lb/>
tung geschaffen und hervorgebracht haben, namentlich auf dem Felde der Wissen¬<lb/>
schaft und Kunst, das muß, und zwar immer in lebendiger Beziehung auf die<lb/>
Gegenwart und im Vergleich mit derselben, dem Schüler dargelegt, dafür muß<lb/>
zuvörderst sein Interesse, dann sein Verständnis geweckt werden. Beim Lese,?<lb/>
der alten Dichter ist vor allem der Sinn für deren poetischen Wert anzuregen.<lb/>
Dieser Sinn fehlt sicher keinem Schüler; daß er aber auf den Gymnasien in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0576] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien. Grammatik die Litteratur in den Vordergrund treten; die philologische Behand¬ lung muß aufhören, die historisch-ästhetische muß beginnen. Leider geschieht das nicht. Die Gymnasiallehrer sind zumeist Philologen. Wie jeder Mensch halten sie dasjenige für die Hauptsache, dem sie ihr Leben gewidmet haben: die Sprache. Sie vergessen fortwährend, daß die Sprache keineswegs Zweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck ist; sie behalten die wesentlich philologische Behandlung auch dann noch bei, wenn es sich gar nicht mehr um die Sprache handelt, sondern um die Litteratur. Ich habe zehn Jahre lang ein Gymnasium besucht, das einen altbegründeten und hohen Ruf besaß. Dort stand die Philo¬ logie in üppigster Blüte. Noch in Prima wurde täglich stundenlang über grammatische Formen, über Lesarten, Konjekturen u. tgi. verhandelt, zumeist in lateinischer Sprache, als hinge das Heil der Welt davon ab; hätten wir nicht Romane unterm Tische gehabt, wir wären umgekommen vor Langerweile. Ein volles Semester wurde an der Antigone gelesen und lateinisch herumexponirt, ohne sie zu Ende zu bringen; ein volles Semester verging darüber, die Emilia Galotti ins Lateinische zu übersetzen- Von der poetischen Bedeutung dieser Werke ist nie auch nur mit einem einzigen Worte die Rede gewesen. Lessing wurde freundlich von oben herab behandelt, er hatte ja nur deutsch geschrieben. Natürlich faßten wir alle einen grimmigen Haß gegen die alten Klassiker. Ich habe im spätern Leben, den Horaz ausgenommen, nur dann wieder einen von ihnen angerührt, wenn ich dessen zu einem bestimmten Zwecke bedürfte; von meinen Kommilitonen, die Philologen ausgenommen, sicher keiner je wieder. Das ganze Altertum war uns in Grund und Boden verleidet. Das alles ist unzweifelhaft jetzt anders. Dennoch habe ich guten Grund anzunehmen, daß auch jetzt uoch auf den meisten Gymnasien die Klassiker nicht in der richtigen Weise behandelt werden. Würde es sonst vorkommen, daß die glücklich durchs Abiturientenexamen gekommenen die armen unschuldigen Bücher ins Feuer werfen, wie Luther die Bannbulle? Würde es vorkommen, daß man einem deutschen Könige, der eine Fürstenschule mit seinem Besuche beehrt, den König Ödipus griechisch vorspielt? Wie sollen denn nun aber die Lehrer in den höhern Klassen die Klassiker treiben? Ich will es mit kurzen Worten sagen. An der Hand der alten Schrift¬ steller sollen sie den Schüler ins Altertum einführen. Die alte Geschichte, die politische und soziale Gestaltung des Lebens der alten Völker, ihre Beziehungen zu einander und ihre Einwirkungen auf einander, das, was sie in jeder Rich¬ tung geschaffen und hervorgebracht haben, namentlich auf dem Felde der Wissen¬ schaft und Kunst, das muß, und zwar immer in lebendiger Beziehung auf die Gegenwart und im Vergleich mit derselben, dem Schüler dargelegt, dafür muß zuvörderst sein Interesse, dann sein Verständnis geweckt werden. Beim Lese,? der alten Dichter ist vor allem der Sinn für deren poetischen Wert anzuregen. Dieser Sinn fehlt sicher keinem Schüler; daß er aber auf den Gymnasien in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/576
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/576>, abgerufen am 01.09.2024.