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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Häßlichen.

Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl und Kampf ums Dasein -- da
haben wir die vier Kategorien, in die sich die menschlichen Seelenregungen in
ihrer endlosen Fülle, alle Kräfte des Geistes, alle Bestrebungen des Charakters
nach Ansicht der Naturalisten hineinpacken lassen. Die ganze überlieferte Schul--
ästhetik mit ihren langweiligen Begriffen von Schuld und Sühne. Verantwortlich¬
keit, poetischer Gerechtigkeit, Furcht und Mitleid u. s. w. wird in Acht und
Bann erklärt. Der Klassizismus mit seiner scholastischen Pedanterie, die Ro¬
mantik mit ihrem öllÄrsment sublirns tcmscmrs xrvs as ouldutsr (wils ig. äv-
mvnos darf nicht mehr Inhalt und Form liefern für die dichterischen Erzeugnisse
der modernen Zeit. Der naturalistische Schriftsteller mag sich seinen Stoff
herholen, wo er will, wenn er nur für alle Berichte Iss Äoenmsnts nrun-uns
besitzt und überall den Beweis der Wahrheit antreten kann. Daher konnte
auch folgerichtig ein Parteimann des Naturalismus jüngst die bedeutungsvollen
Worte ausrufen: "Die Erlösung des Menschengeschlechtes steht als poetischer
Stoff nicht höher als die Geburtswehen einer Kuh." Weshalb soll auch die
Dichtkunst, die freieste aller Künste. sich ihr Darstcllungsgcbiet durch künstlich
aufgerichtete Schranken verkümmern lassen! weshalb soll das Rohe, Widerliche,
Ekelhafte nicht ebenso verwertbar und wirkungsvoll gemacht werden können wie
das Anmutige, Schöne, Erhabene!

Die Naturalisten berufen sich dabei auf die klassischen Werke der hollän¬
dischen Maler, auf die künstlerische Ausbeutung des Häßlichen in den Gemälden
eines Brouwer, Ostade, Jan Steen. Aber von dieser Anlehnung hätten sie
schon zurückkommen müssen, wenn ihnen klar geworden wäre, was Rosenkranz
w seiner "Ästhetik des Häßlichen" sagt: "Brutale Szenen sind für die bildenden
Künste durch ihre effektvoller Kontraste noch immer günstiger als für die Poesie,
denn das Bild oder die Gruppe giebt uns mit einemmale, was durch die Breite
der Beschreibung hindurchgezerrt uns nur noch abstoßender berühren kann"
(S. 258). Wenn Potter uns seine berühmte vaens <M xisss malt, so fühlen
wir uns durch die absichtslose Auffassung eines natürlichen Vorganges angezogen,
wir würden uns jedoch abwenden, wenn diese Naivität nicht vorhanden wäre
und in der Leistung das Ergebnis einer "exakten Forschung" gesucht werden
müßte. Teniers giebt uns seine Bauern in allen Arten leiblicher Verrichtung,
und wir werden nicht angewidert durch den Anblick dieser häßlichen Vorgänge,
sondern finden wohl gar das Häßliche zum Komischen aufgelöst, aber eben des¬
halb, weil es nur Augenblicke sind und keine stufenweise fortschreitende Ent¬
wicklung des Häßlichen, wie sie uns der Schriftsteller geben müßte, um uns ein
deutliches Bild vor die Sinne zu führen.

Der Dichter soll ja auch das Häßliche und Widerliche verwerten, wenn
er dadurch die Schönheit aus der allgemeinen Schablone zur individuellen Cha¬
rakteristik erhebt; aber es ist doch klar, daß dabei das Nacheinander unver¬
meidlich Veranlassung zu gefährlichen Jdeenverbindungen und daraus folgenden


Zur Ästhetik des Häßlichen.

Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl und Kampf ums Dasein — da
haben wir die vier Kategorien, in die sich die menschlichen Seelenregungen in
ihrer endlosen Fülle, alle Kräfte des Geistes, alle Bestrebungen des Charakters
nach Ansicht der Naturalisten hineinpacken lassen. Die ganze überlieferte Schul--
ästhetik mit ihren langweiligen Begriffen von Schuld und Sühne. Verantwortlich¬
keit, poetischer Gerechtigkeit, Furcht und Mitleid u. s. w. wird in Acht und
Bann erklärt. Der Klassizismus mit seiner scholastischen Pedanterie, die Ro¬
mantik mit ihrem öllÄrsment sublirns tcmscmrs xrvs as ouldutsr (wils ig. äv-
mvnos darf nicht mehr Inhalt und Form liefern für die dichterischen Erzeugnisse
der modernen Zeit. Der naturalistische Schriftsteller mag sich seinen Stoff
herholen, wo er will, wenn er nur für alle Berichte Iss Äoenmsnts nrun-uns
besitzt und überall den Beweis der Wahrheit antreten kann. Daher konnte
auch folgerichtig ein Parteimann des Naturalismus jüngst die bedeutungsvollen
Worte ausrufen: „Die Erlösung des Menschengeschlechtes steht als poetischer
Stoff nicht höher als die Geburtswehen einer Kuh." Weshalb soll auch die
Dichtkunst, die freieste aller Künste. sich ihr Darstcllungsgcbiet durch künstlich
aufgerichtete Schranken verkümmern lassen! weshalb soll das Rohe, Widerliche,
Ekelhafte nicht ebenso verwertbar und wirkungsvoll gemacht werden können wie
das Anmutige, Schöne, Erhabene!

Die Naturalisten berufen sich dabei auf die klassischen Werke der hollän¬
dischen Maler, auf die künstlerische Ausbeutung des Häßlichen in den Gemälden
eines Brouwer, Ostade, Jan Steen. Aber von dieser Anlehnung hätten sie
schon zurückkommen müssen, wenn ihnen klar geworden wäre, was Rosenkranz
w seiner „Ästhetik des Häßlichen" sagt: „Brutale Szenen sind für die bildenden
Künste durch ihre effektvoller Kontraste noch immer günstiger als für die Poesie,
denn das Bild oder die Gruppe giebt uns mit einemmale, was durch die Breite
der Beschreibung hindurchgezerrt uns nur noch abstoßender berühren kann"
(S. 258). Wenn Potter uns seine berühmte vaens <M xisss malt, so fühlen
wir uns durch die absichtslose Auffassung eines natürlichen Vorganges angezogen,
wir würden uns jedoch abwenden, wenn diese Naivität nicht vorhanden wäre
und in der Leistung das Ergebnis einer „exakten Forschung" gesucht werden
müßte. Teniers giebt uns seine Bauern in allen Arten leiblicher Verrichtung,
und wir werden nicht angewidert durch den Anblick dieser häßlichen Vorgänge,
sondern finden wohl gar das Häßliche zum Komischen aufgelöst, aber eben des¬
halb, weil es nur Augenblicke sind und keine stufenweise fortschreitende Ent¬
wicklung des Häßlichen, wie sie uns der Schriftsteller geben müßte, um uns ein
deutliches Bild vor die Sinne zu führen.

Der Dichter soll ja auch das Häßliche und Widerliche verwerten, wenn
er dadurch die Schönheit aus der allgemeinen Schablone zur individuellen Cha¬
rakteristik erhebt; aber es ist doch klar, daß dabei das Nacheinander unver¬
meidlich Veranlassung zu gefährlichen Jdeenverbindungen und daraus folgenden


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[0539] Zur Ästhetik des Häßlichen. Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl und Kampf ums Dasein — da haben wir die vier Kategorien, in die sich die menschlichen Seelenregungen in ihrer endlosen Fülle, alle Kräfte des Geistes, alle Bestrebungen des Charakters nach Ansicht der Naturalisten hineinpacken lassen. Die ganze überlieferte Schul-- ästhetik mit ihren langweiligen Begriffen von Schuld und Sühne. Verantwortlich¬ keit, poetischer Gerechtigkeit, Furcht und Mitleid u. s. w. wird in Acht und Bann erklärt. Der Klassizismus mit seiner scholastischen Pedanterie, die Ro¬ mantik mit ihrem öllÄrsment sublirns tcmscmrs xrvs as ouldutsr (wils ig. äv- mvnos darf nicht mehr Inhalt und Form liefern für die dichterischen Erzeugnisse der modernen Zeit. Der naturalistische Schriftsteller mag sich seinen Stoff herholen, wo er will, wenn er nur für alle Berichte Iss Äoenmsnts nrun-uns besitzt und überall den Beweis der Wahrheit antreten kann. Daher konnte auch folgerichtig ein Parteimann des Naturalismus jüngst die bedeutungsvollen Worte ausrufen: „Die Erlösung des Menschengeschlechtes steht als poetischer Stoff nicht höher als die Geburtswehen einer Kuh." Weshalb soll auch die Dichtkunst, die freieste aller Künste. sich ihr Darstcllungsgcbiet durch künstlich aufgerichtete Schranken verkümmern lassen! weshalb soll das Rohe, Widerliche, Ekelhafte nicht ebenso verwertbar und wirkungsvoll gemacht werden können wie das Anmutige, Schöne, Erhabene! Die Naturalisten berufen sich dabei auf die klassischen Werke der hollän¬ dischen Maler, auf die künstlerische Ausbeutung des Häßlichen in den Gemälden eines Brouwer, Ostade, Jan Steen. Aber von dieser Anlehnung hätten sie schon zurückkommen müssen, wenn ihnen klar geworden wäre, was Rosenkranz w seiner „Ästhetik des Häßlichen" sagt: „Brutale Szenen sind für die bildenden Künste durch ihre effektvoller Kontraste noch immer günstiger als für die Poesie, denn das Bild oder die Gruppe giebt uns mit einemmale, was durch die Breite der Beschreibung hindurchgezerrt uns nur noch abstoßender berühren kann" (S. 258). Wenn Potter uns seine berühmte vaens <M xisss malt, so fühlen wir uns durch die absichtslose Auffassung eines natürlichen Vorganges angezogen, wir würden uns jedoch abwenden, wenn diese Naivität nicht vorhanden wäre und in der Leistung das Ergebnis einer „exakten Forschung" gesucht werden müßte. Teniers giebt uns seine Bauern in allen Arten leiblicher Verrichtung, und wir werden nicht angewidert durch den Anblick dieser häßlichen Vorgänge, sondern finden wohl gar das Häßliche zum Komischen aufgelöst, aber eben des¬ halb, weil es nur Augenblicke sind und keine stufenweise fortschreitende Ent¬ wicklung des Häßlichen, wie sie uns der Schriftsteller geben müßte, um uns ein deutliches Bild vor die Sinne zu führen. Der Dichter soll ja auch das Häßliche und Widerliche verwerten, wenn er dadurch die Schönheit aus der allgemeinen Schablone zur individuellen Cha¬ rakteristik erhebt; aber es ist doch klar, daß dabei das Nacheinander unver¬ meidlich Veranlassung zu gefährlichen Jdeenverbindungen und daraus folgenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/539>, abgerufen am 27.07.2024.