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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

nachdem er" anfange, oder für schön halte, in den Nebensätzen alle "habe, hatte,
hätte, war, sei, wäre" wegzuwerfen u. dergl.

Oft genug ist nun eingewendet worden: Die segensreiche Einwirkung des
Lateinischen auf den kindlichen Geist ist unbestreitbar; aber wir können ganz
dasselbe durch etwas andres erreichen, was nicht nur diesen, sondern außerdem
noch einen andern unmittelbaren Nutzen für das spätere Leben gewährt. Er¬
sparen wir daher der Jugend das Lateinische und setzen wir dieses andre an
seine Stelle.

Nun was denn zum Beispiel? Da ist zuvörderst die Mathematik; sie
vor allem lehrt doch klar denken. Unzweifelhaft. Dennoch wäre sie kein Ersatz
für die Sprache. Zwischen dem Lateinischen und der Mathematik als Unter¬
richtsgegenstand steht überhaupt die Wahl gar nicht frei. Das Lateinische ist
von allen Disziplinen bei weitem die leichteste und kann ohne alle Schwierig¬
keit bereits mit einem Knaben von acht Jahren begonnen werden; die Mathe¬
matik dagegen ist die allcrschwcrste, und sie sollte von Rechtswegen gar nicht
vor dem dreizehnten, womöglich dem vierzehnten Jahre an die Reihe kommen.
Die Mathematik wendet sich ausschließlich an den Verstand; jede Anregung oder
Thätigkeit der Phantasie ist dabei vollkommen ausgeschlossen. Sie gleicht einer
zwar sehr wertvolle Früchte tragenden, aber flachen, abwechslungslvscn Ebene,
an deren Rande nichts Unbekanntes, Überraschendes zu hoffen steht. Das er¬
müdet den noch nicht genügend reifen kindlichen Geist. Außerdem aber bedarf
es während der mathematischen Lehrstunden einer fortwährenden Anstrengung
des Willens beim Schüler, um dem Lehrer mit Aufmerksamkeit zu folgen, sonst
reißt der Faden und knüpft sich nicht leicht wieder an. Eine solche Energie
des Willens fällt aber dem Knaben um so schwerer, als er sehr wohl fühlt, daß
er von der Mathematik, die man ihn lehrt, trotz aller Versicherungen des
Gegenteils, im spätern Leben kaum je wird praktischen Gebrauch machen könne".
Denn seien mir aufrichtig -- wo sind wir je in die Lage gekommen, den Apol-
lonius Rhodius oder die Gleichungen zweiten Grades anzuwenden? Als Unter-
richtsgegenstand hat die Mathematik erst dann einen Wert -- dann freilich einen
sehr hohen --, wenn der Junge die Kinderschuhe ausgetreten hat, wenn er selbst
beginnt, an den Vcrstandesleistnngen Freude zu finden. Also: zuvörderst das
Lateinische, fünf Jahre später die Mathematik; und dann auch diese innerhalb
der richtigen Grenzen, und vor allem auf solche Weise, daß der Schüler Freude
an ihr habe, daß er nicht, wie es leider so oft geschieht, sich mit Gleichgiltigkeit
oder gar mit Widerwillen von ihr abwende.

Aber könnte das Lateinische nicht vielleicht durch eine andre Sprache, durch
eine moderne ersetzt werden? Etwa durch das Französische. Es ist nicht zu
leugnen, daß diese Tochter des Lateinischen viel von den Vorzügen der Mutter
geerbt hat, namentlich besitzt sie unter allen modernen Sprachen die einfachste
und dnrchgebildetste Grammatik. Jedenfalls halte ich sie bei weitem für die


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

nachdem er" anfange, oder für schön halte, in den Nebensätzen alle „habe, hatte,
hätte, war, sei, wäre" wegzuwerfen u. dergl.

Oft genug ist nun eingewendet worden: Die segensreiche Einwirkung des
Lateinischen auf den kindlichen Geist ist unbestreitbar; aber wir können ganz
dasselbe durch etwas andres erreichen, was nicht nur diesen, sondern außerdem
noch einen andern unmittelbaren Nutzen für das spätere Leben gewährt. Er¬
sparen wir daher der Jugend das Lateinische und setzen wir dieses andre an
seine Stelle.

Nun was denn zum Beispiel? Da ist zuvörderst die Mathematik; sie
vor allem lehrt doch klar denken. Unzweifelhaft. Dennoch wäre sie kein Ersatz
für die Sprache. Zwischen dem Lateinischen und der Mathematik als Unter¬
richtsgegenstand steht überhaupt die Wahl gar nicht frei. Das Lateinische ist
von allen Disziplinen bei weitem die leichteste und kann ohne alle Schwierig¬
keit bereits mit einem Knaben von acht Jahren begonnen werden; die Mathe¬
matik dagegen ist die allcrschwcrste, und sie sollte von Rechtswegen gar nicht
vor dem dreizehnten, womöglich dem vierzehnten Jahre an die Reihe kommen.
Die Mathematik wendet sich ausschließlich an den Verstand; jede Anregung oder
Thätigkeit der Phantasie ist dabei vollkommen ausgeschlossen. Sie gleicht einer
zwar sehr wertvolle Früchte tragenden, aber flachen, abwechslungslvscn Ebene,
an deren Rande nichts Unbekanntes, Überraschendes zu hoffen steht. Das er¬
müdet den noch nicht genügend reifen kindlichen Geist. Außerdem aber bedarf
es während der mathematischen Lehrstunden einer fortwährenden Anstrengung
des Willens beim Schüler, um dem Lehrer mit Aufmerksamkeit zu folgen, sonst
reißt der Faden und knüpft sich nicht leicht wieder an. Eine solche Energie
des Willens fällt aber dem Knaben um so schwerer, als er sehr wohl fühlt, daß
er von der Mathematik, die man ihn lehrt, trotz aller Versicherungen des
Gegenteils, im spätern Leben kaum je wird praktischen Gebrauch machen könne».
Denn seien mir aufrichtig — wo sind wir je in die Lage gekommen, den Apol-
lonius Rhodius oder die Gleichungen zweiten Grades anzuwenden? Als Unter-
richtsgegenstand hat die Mathematik erst dann einen Wert — dann freilich einen
sehr hohen —, wenn der Junge die Kinderschuhe ausgetreten hat, wenn er selbst
beginnt, an den Vcrstandesleistnngen Freude zu finden. Also: zuvörderst das
Lateinische, fünf Jahre später die Mathematik; und dann auch diese innerhalb
der richtigen Grenzen, und vor allem auf solche Weise, daß der Schüler Freude
an ihr habe, daß er nicht, wie es leider so oft geschieht, sich mit Gleichgiltigkeit
oder gar mit Widerwillen von ihr abwende.

Aber könnte das Lateinische nicht vielleicht durch eine andre Sprache, durch
eine moderne ersetzt werden? Etwa durch das Französische. Es ist nicht zu
leugnen, daß diese Tochter des Lateinischen viel von den Vorzügen der Mutter
geerbt hat, namentlich besitzt sie unter allen modernen Sprachen die einfachste
und dnrchgebildetste Grammatik. Jedenfalls halte ich sie bei weitem für die


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[0528] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien. nachdem er" anfange, oder für schön halte, in den Nebensätzen alle „habe, hatte, hätte, war, sei, wäre" wegzuwerfen u. dergl. Oft genug ist nun eingewendet worden: Die segensreiche Einwirkung des Lateinischen auf den kindlichen Geist ist unbestreitbar; aber wir können ganz dasselbe durch etwas andres erreichen, was nicht nur diesen, sondern außerdem noch einen andern unmittelbaren Nutzen für das spätere Leben gewährt. Er¬ sparen wir daher der Jugend das Lateinische und setzen wir dieses andre an seine Stelle. Nun was denn zum Beispiel? Da ist zuvörderst die Mathematik; sie vor allem lehrt doch klar denken. Unzweifelhaft. Dennoch wäre sie kein Ersatz für die Sprache. Zwischen dem Lateinischen und der Mathematik als Unter¬ richtsgegenstand steht überhaupt die Wahl gar nicht frei. Das Lateinische ist von allen Disziplinen bei weitem die leichteste und kann ohne alle Schwierig¬ keit bereits mit einem Knaben von acht Jahren begonnen werden; die Mathe¬ matik dagegen ist die allcrschwcrste, und sie sollte von Rechtswegen gar nicht vor dem dreizehnten, womöglich dem vierzehnten Jahre an die Reihe kommen. Die Mathematik wendet sich ausschließlich an den Verstand; jede Anregung oder Thätigkeit der Phantasie ist dabei vollkommen ausgeschlossen. Sie gleicht einer zwar sehr wertvolle Früchte tragenden, aber flachen, abwechslungslvscn Ebene, an deren Rande nichts Unbekanntes, Überraschendes zu hoffen steht. Das er¬ müdet den noch nicht genügend reifen kindlichen Geist. Außerdem aber bedarf es während der mathematischen Lehrstunden einer fortwährenden Anstrengung des Willens beim Schüler, um dem Lehrer mit Aufmerksamkeit zu folgen, sonst reißt der Faden und knüpft sich nicht leicht wieder an. Eine solche Energie des Willens fällt aber dem Knaben um so schwerer, als er sehr wohl fühlt, daß er von der Mathematik, die man ihn lehrt, trotz aller Versicherungen des Gegenteils, im spätern Leben kaum je wird praktischen Gebrauch machen könne». Denn seien mir aufrichtig — wo sind wir je in die Lage gekommen, den Apol- lonius Rhodius oder die Gleichungen zweiten Grades anzuwenden? Als Unter- richtsgegenstand hat die Mathematik erst dann einen Wert — dann freilich einen sehr hohen —, wenn der Junge die Kinderschuhe ausgetreten hat, wenn er selbst beginnt, an den Vcrstandesleistnngen Freude zu finden. Also: zuvörderst das Lateinische, fünf Jahre später die Mathematik; und dann auch diese innerhalb der richtigen Grenzen, und vor allem auf solche Weise, daß der Schüler Freude an ihr habe, daß er nicht, wie es leider so oft geschieht, sich mit Gleichgiltigkeit oder gar mit Widerwillen von ihr abwende. Aber könnte das Lateinische nicht vielleicht durch eine andre Sprache, durch eine moderne ersetzt werden? Etwa durch das Französische. Es ist nicht zu leugnen, daß diese Tochter des Lateinischen viel von den Vorzügen der Mutter geerbt hat, namentlich besitzt sie unter allen modernen Sprachen die einfachste und dnrchgebildetste Grammatik. Jedenfalls halte ich sie bei weitem für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/528>, abgerufen am 01.09.2024.