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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

eine Folge der natürlichen Begabung, sondern mehr noch der richtigen Aus¬
bildung dieser Begabung. Es beruht wesentlich darauf, daß man die Begriffe
scharf faßt und strenge von einander sondert. Auf diesem Gebiete Ordnung im
kindlichen Geiste zu schaffen, ihn zu gewöhnen, mit jedem Worte einen möglichst
präzisen Sinn zu verbinden und die Begriffe, konkrete sowohl als abstrakte,
richtig zu klassifiziren, das vor allem muß das Ziel des Unterrichts sein, sobald
man überhaupt begiunen kann, den Geist des Kindes zur Selbstthätigkeit an¬
zuregen. Und hierzu ist in erster Linie die lateinische Sprache geeignet. Denn
sie ist einesteils in hervorragendem Maße klar und logisch, andernteils sehr
leicht faßlich und dabei den kindlichen Geist durchaus nicht ermüdend.

Ich nehme an, daß der Knabe, der mit vollendetem neunten Jahre in die
Lateinschule kommt, schon recht hübsche Kenntnisse mitbringt; er kann lesen,
schreiben, die "vier Spezies" rechnen und eine Anzahl von Gedichten hersagen;
er ist in der biblischen Geschichte bewandert, kennt Alexander den Großen und
weiß, daß die deutschen Brüder in Kamerun schwarz sind. Nun aber tritt mit
dem Lateinischen zur Übung des Gedächtnisses auch die der höhern Geisteskraft
des Verstandes. Der Knabe lernt jetzt, daß zwischen den einzelnen Worten ein
Unterschied besteht, daß es Maskulinum, Femininum und Neutrum giebt, Singular
und Plural, gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeit. Dies hat für ihn
den Reiz der Neuheit; außerdem aber giebt es ihm das Bewußtsein, eine Stufe
höher zu stehen als sein ehemaliger Kamerad, der Vürgerschüler, der nicht La¬
teinisch lernt. Er begreift ferner, daß er inMW deklinircn und amo konjugireu
muß, wenn er diese Worte verwenden will; es freut ihn, wenn die Mutter
tapfer hilft und mitlernt, und mehr noch, wenn er sie bald überholt. Natürlich
lernt er dabei die deutschen Deklinationen und Konjugationen mit, die er früher
anwandte, ohne von ihrem Vorhandensein eine Ahnung zu haben. Bald ist er
imstande, jede Wortform zu "definiren" und zu "klassifiziren." Ohne Zweifel
würde nun das bloße Auswendiglernen von Vokabeln, Formen und Regeln dem
Knaben sehr bald langweilig werden. Nun aber stellt er aus dem ihm zu
Gebote stehenden Material etwas neues zusammen, wie aus den Hölzern seines
Bcmkaustcns: er bildet Sätze. Daran knüpft sich wiederum neues, die Denkkraft
anregendes: der Unterschied zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat, die Regel,
daß das Adjcktivum sich in Genus, numerus und Casns nach dem Substantivum
zu richten hat, daß es hinter dem Substantivtim, und daß das Verbum am
Ende des Satzes zu stehen hat u. s. w. Am Schlüsse des crsteir Jahres ist
der kleine Kerl richtig beim ^oousativUs vura inlliutivo angelangt, hat sich einen
reichen Vorrat von Vokabeln angeeignet, weiß eine Menge von Regeln nicht
bloß herzusagen, sondern auch anzuwenden. Daß Professor Preyer sich über
diese lateinischen Regeln lustig macht, beweist nur, daß er die Bedeutung der
lateinischen Grammatik als Bildungsmittel für den kindlichen Geist völlig ver¬
kennt. Diesen an das Regelmäßige, Gesetzliche, Feststehende zu gewöhnen, ihm das


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

eine Folge der natürlichen Begabung, sondern mehr noch der richtigen Aus¬
bildung dieser Begabung. Es beruht wesentlich darauf, daß man die Begriffe
scharf faßt und strenge von einander sondert. Auf diesem Gebiete Ordnung im
kindlichen Geiste zu schaffen, ihn zu gewöhnen, mit jedem Worte einen möglichst
präzisen Sinn zu verbinden und die Begriffe, konkrete sowohl als abstrakte,
richtig zu klassifiziren, das vor allem muß das Ziel des Unterrichts sein, sobald
man überhaupt begiunen kann, den Geist des Kindes zur Selbstthätigkeit an¬
zuregen. Und hierzu ist in erster Linie die lateinische Sprache geeignet. Denn
sie ist einesteils in hervorragendem Maße klar und logisch, andernteils sehr
leicht faßlich und dabei den kindlichen Geist durchaus nicht ermüdend.

Ich nehme an, daß der Knabe, der mit vollendetem neunten Jahre in die
Lateinschule kommt, schon recht hübsche Kenntnisse mitbringt; er kann lesen,
schreiben, die „vier Spezies" rechnen und eine Anzahl von Gedichten hersagen;
er ist in der biblischen Geschichte bewandert, kennt Alexander den Großen und
weiß, daß die deutschen Brüder in Kamerun schwarz sind. Nun aber tritt mit
dem Lateinischen zur Übung des Gedächtnisses auch die der höhern Geisteskraft
des Verstandes. Der Knabe lernt jetzt, daß zwischen den einzelnen Worten ein
Unterschied besteht, daß es Maskulinum, Femininum und Neutrum giebt, Singular
und Plural, gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeit. Dies hat für ihn
den Reiz der Neuheit; außerdem aber giebt es ihm das Bewußtsein, eine Stufe
höher zu stehen als sein ehemaliger Kamerad, der Vürgerschüler, der nicht La¬
teinisch lernt. Er begreift ferner, daß er inMW deklinircn und amo konjugireu
muß, wenn er diese Worte verwenden will; es freut ihn, wenn die Mutter
tapfer hilft und mitlernt, und mehr noch, wenn er sie bald überholt. Natürlich
lernt er dabei die deutschen Deklinationen und Konjugationen mit, die er früher
anwandte, ohne von ihrem Vorhandensein eine Ahnung zu haben. Bald ist er
imstande, jede Wortform zu „definiren" und zu „klassifiziren." Ohne Zweifel
würde nun das bloße Auswendiglernen von Vokabeln, Formen und Regeln dem
Knaben sehr bald langweilig werden. Nun aber stellt er aus dem ihm zu
Gebote stehenden Material etwas neues zusammen, wie aus den Hölzern seines
Bcmkaustcns: er bildet Sätze. Daran knüpft sich wiederum neues, die Denkkraft
anregendes: der Unterschied zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat, die Regel,
daß das Adjcktivum sich in Genus, numerus und Casns nach dem Substantivum
zu richten hat, daß es hinter dem Substantivtim, und daß das Verbum am
Ende des Satzes zu stehen hat u. s. w. Am Schlüsse des crsteir Jahres ist
der kleine Kerl richtig beim ^oousativUs vura inlliutivo angelangt, hat sich einen
reichen Vorrat von Vokabeln angeeignet, weiß eine Menge von Regeln nicht
bloß herzusagen, sondern auch anzuwenden. Daß Professor Preyer sich über
diese lateinischen Regeln lustig macht, beweist nur, daß er die Bedeutung der
lateinischen Grammatik als Bildungsmittel für den kindlichen Geist völlig ver¬
kennt. Diesen an das Regelmäßige, Gesetzliche, Feststehende zu gewöhnen, ihm das


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[0526] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien, eine Folge der natürlichen Begabung, sondern mehr noch der richtigen Aus¬ bildung dieser Begabung. Es beruht wesentlich darauf, daß man die Begriffe scharf faßt und strenge von einander sondert. Auf diesem Gebiete Ordnung im kindlichen Geiste zu schaffen, ihn zu gewöhnen, mit jedem Worte einen möglichst präzisen Sinn zu verbinden und die Begriffe, konkrete sowohl als abstrakte, richtig zu klassifiziren, das vor allem muß das Ziel des Unterrichts sein, sobald man überhaupt begiunen kann, den Geist des Kindes zur Selbstthätigkeit an¬ zuregen. Und hierzu ist in erster Linie die lateinische Sprache geeignet. Denn sie ist einesteils in hervorragendem Maße klar und logisch, andernteils sehr leicht faßlich und dabei den kindlichen Geist durchaus nicht ermüdend. Ich nehme an, daß der Knabe, der mit vollendetem neunten Jahre in die Lateinschule kommt, schon recht hübsche Kenntnisse mitbringt; er kann lesen, schreiben, die „vier Spezies" rechnen und eine Anzahl von Gedichten hersagen; er ist in der biblischen Geschichte bewandert, kennt Alexander den Großen und weiß, daß die deutschen Brüder in Kamerun schwarz sind. Nun aber tritt mit dem Lateinischen zur Übung des Gedächtnisses auch die der höhern Geisteskraft des Verstandes. Der Knabe lernt jetzt, daß zwischen den einzelnen Worten ein Unterschied besteht, daß es Maskulinum, Femininum und Neutrum giebt, Singular und Plural, gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeit. Dies hat für ihn den Reiz der Neuheit; außerdem aber giebt es ihm das Bewußtsein, eine Stufe höher zu stehen als sein ehemaliger Kamerad, der Vürgerschüler, der nicht La¬ teinisch lernt. Er begreift ferner, daß er inMW deklinircn und amo konjugireu muß, wenn er diese Worte verwenden will; es freut ihn, wenn die Mutter tapfer hilft und mitlernt, und mehr noch, wenn er sie bald überholt. Natürlich lernt er dabei die deutschen Deklinationen und Konjugationen mit, die er früher anwandte, ohne von ihrem Vorhandensein eine Ahnung zu haben. Bald ist er imstande, jede Wortform zu „definiren" und zu „klassifiziren." Ohne Zweifel würde nun das bloße Auswendiglernen von Vokabeln, Formen und Regeln dem Knaben sehr bald langweilig werden. Nun aber stellt er aus dem ihm zu Gebote stehenden Material etwas neues zusammen, wie aus den Hölzern seines Bcmkaustcns: er bildet Sätze. Daran knüpft sich wiederum neues, die Denkkraft anregendes: der Unterschied zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat, die Regel, daß das Adjcktivum sich in Genus, numerus und Casns nach dem Substantivum zu richten hat, daß es hinter dem Substantivtim, und daß das Verbum am Ende des Satzes zu stehen hat u. s. w. Am Schlüsse des crsteir Jahres ist der kleine Kerl richtig beim ^oousativUs vura inlliutivo angelangt, hat sich einen reichen Vorrat von Vokabeln angeeignet, weiß eine Menge von Regeln nicht bloß herzusagen, sondern auch anzuwenden. Daß Professor Preyer sich über diese lateinischen Regeln lustig macht, beweist nur, daß er die Bedeutung der lateinischen Grammatik als Bildungsmittel für den kindlichen Geist völlig ver¬ kennt. Diesen an das Regelmäßige, Gesetzliche, Feststehende zu gewöhnen, ihm das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/526>, abgerufen am 01.09.2024.