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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

Nach dem Gesagten wird man Wohl nun erwarten, von mir die Schlu߬
folgerung zu hören, die man bereits in Schweden und der Schweiz praktisch
gezogen hat und auf die auch unsre Ncalschulmänner, bewußt oder unbewußt,
zusteuern: das Lateinische müsse aufhören, Zwangslehrgegenstand für unsre
Jugend zu sein. Es kommt aber anders. Ich behaupte vielmehr: Nächst der
eignen Multerspache ist Lateinisch das notwendigste, was der gebildete Mensch
überhaupt lernen kann. Ginge es nach mir, schon morgen würde sogar in den
Mädchenschulen das Lateinische eingeführt. Ich werde die Gründe nicht schuldig
bleiben.

Auf zweierlei zielt gegenwärtig aller Schulunterricht auf den Gymnasien
ab: auf die Aneignung einer genügenden Menge positiver Kenntnisse, also die
Ausbildung des Gedächtnisses, und auf die Anleitung zum richtigen und selb¬
ständigen Denken, also die Entwicklung des Verstandes.

Ist nnn die Kenntnis des Lateinischen als positive Kenntnis schätzbar?
Meines Erachtens im höchsten Grade. Zwar durchaus uicht zum Eindringen in die
lateinische Litteratur; wohl aber als Vorstufe zur Erlernung moderner Sprachen,
namentlich der französischen, italienischen, spanischen und englischen. Der Aus¬
spruch Kaiser Karls V.: Ein Mann, der gut vier Sprachen spricht, ist so viel
wert als vier Männer, hat doppelte und dreifache Geltung in unsrer Zeit,
welche die Menschen wild und rücksichtslos durcheinander wirft.

Es ist mir nun durchaus nicht unbekannt, daß der Nutzen des Lateinischen
als Grundlage der romanischen Sprachen angefochten worden ist. Man hat
gesagt: Um von Dresden nach Berlin zu reisen, weshalb soll man da erst den
Umweg über Leipzig machen? Ich erwiedere darauf: Der kürzeste Weg ist
durchaus nicht immer der zweckmäßigste; die schönen Windungen der Kunst¬
straßen in den Alpen führen weit sicherer und bequemer, meist auch rascher zu
den Pässen hinauf, als wenn man rücksichtslos geradezu bergan steigt. Freilich,
würde die Frage so gestellt: Ist es notwendig oder unter allen Umständen
zweckmäßig, daß, um Italienisch, Französisch oder Spanisch zu lernen, man zuvor
Lateinisch lerne? so würde ich sie mit Nein beantworten. Deun so hoch ich
auch den Vorteil anschlage, den das Lateinische als Grundlage und Mutter der
romanischen Sprachen bietet, er ist doch immer ein nebensächlicher. Der Haupt¬
nutzen des Lateiulernens liegt auf einem ganz andern Gebiete. Ich stelle
mit aller Entschiedenheit den zwar durchaus nicht neuen, aber darum nicht
minder wahren Satz auf: Die lateinische Grammatik und die lateinische Sprache
sind weitaus das beste Mittel, um das Kind zum Denken anzuleiten; sie sind
eine Gymnastik und eine Schulung des Geistes, der schlechterdings nichts anders
an die Seite zu stellen ist.

Richtig und klar zu denken ist für jeden ein wichtiges Ding, namentlich für
jeden gebildeten Mann; er braucht es täglich in seinem Berufe und im übrigen
Verkehr mit den Menschen. Wie alles, ist aber das richtige Denken nicht bloß


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

Nach dem Gesagten wird man Wohl nun erwarten, von mir die Schlu߬
folgerung zu hören, die man bereits in Schweden und der Schweiz praktisch
gezogen hat und auf die auch unsre Ncalschulmänner, bewußt oder unbewußt,
zusteuern: das Lateinische müsse aufhören, Zwangslehrgegenstand für unsre
Jugend zu sein. Es kommt aber anders. Ich behaupte vielmehr: Nächst der
eignen Multerspache ist Lateinisch das notwendigste, was der gebildete Mensch
überhaupt lernen kann. Ginge es nach mir, schon morgen würde sogar in den
Mädchenschulen das Lateinische eingeführt. Ich werde die Gründe nicht schuldig
bleiben.

Auf zweierlei zielt gegenwärtig aller Schulunterricht auf den Gymnasien
ab: auf die Aneignung einer genügenden Menge positiver Kenntnisse, also die
Ausbildung des Gedächtnisses, und auf die Anleitung zum richtigen und selb¬
ständigen Denken, also die Entwicklung des Verstandes.

Ist nnn die Kenntnis des Lateinischen als positive Kenntnis schätzbar?
Meines Erachtens im höchsten Grade. Zwar durchaus uicht zum Eindringen in die
lateinische Litteratur; wohl aber als Vorstufe zur Erlernung moderner Sprachen,
namentlich der französischen, italienischen, spanischen und englischen. Der Aus¬
spruch Kaiser Karls V.: Ein Mann, der gut vier Sprachen spricht, ist so viel
wert als vier Männer, hat doppelte und dreifache Geltung in unsrer Zeit,
welche die Menschen wild und rücksichtslos durcheinander wirft.

Es ist mir nun durchaus nicht unbekannt, daß der Nutzen des Lateinischen
als Grundlage der romanischen Sprachen angefochten worden ist. Man hat
gesagt: Um von Dresden nach Berlin zu reisen, weshalb soll man da erst den
Umweg über Leipzig machen? Ich erwiedere darauf: Der kürzeste Weg ist
durchaus nicht immer der zweckmäßigste; die schönen Windungen der Kunst¬
straßen in den Alpen führen weit sicherer und bequemer, meist auch rascher zu
den Pässen hinauf, als wenn man rücksichtslos geradezu bergan steigt. Freilich,
würde die Frage so gestellt: Ist es notwendig oder unter allen Umständen
zweckmäßig, daß, um Italienisch, Französisch oder Spanisch zu lernen, man zuvor
Lateinisch lerne? so würde ich sie mit Nein beantworten. Deun so hoch ich
auch den Vorteil anschlage, den das Lateinische als Grundlage und Mutter der
romanischen Sprachen bietet, er ist doch immer ein nebensächlicher. Der Haupt¬
nutzen des Lateiulernens liegt auf einem ganz andern Gebiete. Ich stelle
mit aller Entschiedenheit den zwar durchaus nicht neuen, aber darum nicht
minder wahren Satz auf: Die lateinische Grammatik und die lateinische Sprache
sind weitaus das beste Mittel, um das Kind zum Denken anzuleiten; sie sind
eine Gymnastik und eine Schulung des Geistes, der schlechterdings nichts anders
an die Seite zu stellen ist.

Richtig und klar zu denken ist für jeden ein wichtiges Ding, namentlich für
jeden gebildeten Mann; er braucht es täglich in seinem Berufe und im übrigen
Verkehr mit den Menschen. Wie alles, ist aber das richtige Denken nicht bloß


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[0525] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien, Nach dem Gesagten wird man Wohl nun erwarten, von mir die Schlu߬ folgerung zu hören, die man bereits in Schweden und der Schweiz praktisch gezogen hat und auf die auch unsre Ncalschulmänner, bewußt oder unbewußt, zusteuern: das Lateinische müsse aufhören, Zwangslehrgegenstand für unsre Jugend zu sein. Es kommt aber anders. Ich behaupte vielmehr: Nächst der eignen Multerspache ist Lateinisch das notwendigste, was der gebildete Mensch überhaupt lernen kann. Ginge es nach mir, schon morgen würde sogar in den Mädchenschulen das Lateinische eingeführt. Ich werde die Gründe nicht schuldig bleiben. Auf zweierlei zielt gegenwärtig aller Schulunterricht auf den Gymnasien ab: auf die Aneignung einer genügenden Menge positiver Kenntnisse, also die Ausbildung des Gedächtnisses, und auf die Anleitung zum richtigen und selb¬ ständigen Denken, also die Entwicklung des Verstandes. Ist nnn die Kenntnis des Lateinischen als positive Kenntnis schätzbar? Meines Erachtens im höchsten Grade. Zwar durchaus uicht zum Eindringen in die lateinische Litteratur; wohl aber als Vorstufe zur Erlernung moderner Sprachen, namentlich der französischen, italienischen, spanischen und englischen. Der Aus¬ spruch Kaiser Karls V.: Ein Mann, der gut vier Sprachen spricht, ist so viel wert als vier Männer, hat doppelte und dreifache Geltung in unsrer Zeit, welche die Menschen wild und rücksichtslos durcheinander wirft. Es ist mir nun durchaus nicht unbekannt, daß der Nutzen des Lateinischen als Grundlage der romanischen Sprachen angefochten worden ist. Man hat gesagt: Um von Dresden nach Berlin zu reisen, weshalb soll man da erst den Umweg über Leipzig machen? Ich erwiedere darauf: Der kürzeste Weg ist durchaus nicht immer der zweckmäßigste; die schönen Windungen der Kunst¬ straßen in den Alpen führen weit sicherer und bequemer, meist auch rascher zu den Pässen hinauf, als wenn man rücksichtslos geradezu bergan steigt. Freilich, würde die Frage so gestellt: Ist es notwendig oder unter allen Umständen zweckmäßig, daß, um Italienisch, Französisch oder Spanisch zu lernen, man zuvor Lateinisch lerne? so würde ich sie mit Nein beantworten. Deun so hoch ich auch den Vorteil anschlage, den das Lateinische als Grundlage und Mutter der romanischen Sprachen bietet, er ist doch immer ein nebensächlicher. Der Haupt¬ nutzen des Lateiulernens liegt auf einem ganz andern Gebiete. Ich stelle mit aller Entschiedenheit den zwar durchaus nicht neuen, aber darum nicht minder wahren Satz auf: Die lateinische Grammatik und die lateinische Sprache sind weitaus das beste Mittel, um das Kind zum Denken anzuleiten; sie sind eine Gymnastik und eine Schulung des Geistes, der schlechterdings nichts anders an die Seite zu stellen ist. Richtig und klar zu denken ist für jeden ein wichtiges Ding, namentlich für jeden gebildeten Mann; er braucht es täglich in seinem Berufe und im übrigen Verkehr mit den Menschen. Wie alles, ist aber das richtige Denken nicht bloß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/525>, abgerufen am 01.09.2024.