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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Rarlsschule und Schillers Jugendtraum.

alle unter dem Zwang und der Lüge der Kultur mißbildete Sitte, gegen alle
bestehenden Gesellschaftszustände, die mit hinreißender Wärme des Herzens ge¬
predigte Rückkehr zur Natur, zur Einfachheit und primitiven Unvcrdorbenheit
mußte das Herz eines Jünglings wie Schiller mächtig entflammen. In der
Brust des Dichters, sagt Weltrich, baute eine Welt sich auf, die zu Form und
Bestand seines äußerlich-gegenwärtigen Lebens in einem unvermittelter und
trotzigen Kontraste stand.

Diese innere Welt, wie sie in des Dichters Gemüt und Phantasie sich ge¬
staltete, ist die Heimat der "Räuber." Die Ausarbeitung dieses Trauerspiels
fällt hauptsächlich in das Jahr 1780, und es war beinahe vollendet, als Schiller
zu Ende dieses Jahres die Akademie verließ. Goethe nennt bei Eckermann das
Gedicht eine "Produktion genialer jugendlicher Ungeduld und Unwillens über
einen schweren Erziehungsdruck." Aber diese Äußerung, welche in den üblichen
litterargeschichtlichen Urteilen überall wiederklingt, wird dem Genius, der in
Schillers ersten Dramen waltet, bei weitem nicht gerecht. Ja die Hauptsache
ist übersehen. Hätte Schiller das große satirische Talent, mit welchem die
Natur ihn ausgestattet hatte, dazu verwenden wollen, seinem Unmut Luft zu
machen über den zopfigen Despotismus des Tyrannen und des Schulmeisters
Karl Eugen, so hätte ihm das Leben in der Karlsschule Stoff genug geboten
zu grotesken Szenen, denen Schillers Pinselführung die packendste Naturwahr¬
heit hätte verleihen können. Aber das Dichtergemüt Schillers empfand in dem
Hemmenden, Beengenden, sein sittliches Gefühl Störenden, was ihm begegnete,
nicht bloß den persönlichen Druck, das persönliche Leiden, es ahnte dessen Zu¬
sammenhang mit den allgemeinen Mächten der Lüge und Gewaltthat, welche
die Welt in Fesseln hielten, und, das eigne Ich zum allgemeinen Ich erwei¬
ternd, empfand er, was alle empfinden mußten, deren sittliches Gefühl ebenso
gestimmt war wie das seinige. Schillers Dichterauge erkannte hinter dem
Schleier der Erscheinung deren symbolische Bedeutung, den Hinweis auf das
Prinzip einer verlebten Weltordnung. An dieser Weltordnung, an dem ver¬
kommenen und verrotteten anoien r^uns des Bourbonentums, welches, mit
Ausnahme des vom Königtum der Pflicht beherrschten Preußens, auch Deutsch¬
land in Banden hielt, übte der Räuber Moor denselben Akt der Volksjustiz,
durch welche wenige Jahre darauf die Bastille gestürmt und der sechzehnte
Ludwig gezwungen wurde, wieder in Paris seinen Wohnsitz zu nehmen, um in
täglicher Berührung mit dem Volke inne zu werden, daß auch er ein Mensch
sei wie die Andern, die Andern Menschen wie er. In Bezug auf dramatisch
lebendige Verkörperung geschichtlicher Zeitstimmungen läßt sich kein andres Er¬
zeugnis unsrer Litteratur Schillers "Räubern" an die Seite stellen; nur Fichtes
Reden lassen sich damit vergleichen. Die Leidenschaft des sozialen Nevolutions-
gedankens kommt in des schwäbischen Dichters dramatischen Erstlingswerken ebenso
zum Ausdruck, wie bei Fichte das Pathos der nationalen Wiedergeburt. "Soll


Die Rarlsschule und Schillers Jugendtraum.

alle unter dem Zwang und der Lüge der Kultur mißbildete Sitte, gegen alle
bestehenden Gesellschaftszustände, die mit hinreißender Wärme des Herzens ge¬
predigte Rückkehr zur Natur, zur Einfachheit und primitiven Unvcrdorbenheit
mußte das Herz eines Jünglings wie Schiller mächtig entflammen. In der
Brust des Dichters, sagt Weltrich, baute eine Welt sich auf, die zu Form und
Bestand seines äußerlich-gegenwärtigen Lebens in einem unvermittelter und
trotzigen Kontraste stand.

Diese innere Welt, wie sie in des Dichters Gemüt und Phantasie sich ge¬
staltete, ist die Heimat der „Räuber." Die Ausarbeitung dieses Trauerspiels
fällt hauptsächlich in das Jahr 1780, und es war beinahe vollendet, als Schiller
zu Ende dieses Jahres die Akademie verließ. Goethe nennt bei Eckermann das
Gedicht eine „Produktion genialer jugendlicher Ungeduld und Unwillens über
einen schweren Erziehungsdruck." Aber diese Äußerung, welche in den üblichen
litterargeschichtlichen Urteilen überall wiederklingt, wird dem Genius, der in
Schillers ersten Dramen waltet, bei weitem nicht gerecht. Ja die Hauptsache
ist übersehen. Hätte Schiller das große satirische Talent, mit welchem die
Natur ihn ausgestattet hatte, dazu verwenden wollen, seinem Unmut Luft zu
machen über den zopfigen Despotismus des Tyrannen und des Schulmeisters
Karl Eugen, so hätte ihm das Leben in der Karlsschule Stoff genug geboten
zu grotesken Szenen, denen Schillers Pinselführung die packendste Naturwahr¬
heit hätte verleihen können. Aber das Dichtergemüt Schillers empfand in dem
Hemmenden, Beengenden, sein sittliches Gefühl Störenden, was ihm begegnete,
nicht bloß den persönlichen Druck, das persönliche Leiden, es ahnte dessen Zu¬
sammenhang mit den allgemeinen Mächten der Lüge und Gewaltthat, welche
die Welt in Fesseln hielten, und, das eigne Ich zum allgemeinen Ich erwei¬
ternd, empfand er, was alle empfinden mußten, deren sittliches Gefühl ebenso
gestimmt war wie das seinige. Schillers Dichterauge erkannte hinter dem
Schleier der Erscheinung deren symbolische Bedeutung, den Hinweis auf das
Prinzip einer verlebten Weltordnung. An dieser Weltordnung, an dem ver¬
kommenen und verrotteten anoien r^uns des Bourbonentums, welches, mit
Ausnahme des vom Königtum der Pflicht beherrschten Preußens, auch Deutsch¬
land in Banden hielt, übte der Räuber Moor denselben Akt der Volksjustiz,
durch welche wenige Jahre darauf die Bastille gestürmt und der sechzehnte
Ludwig gezwungen wurde, wieder in Paris seinen Wohnsitz zu nehmen, um in
täglicher Berührung mit dem Volke inne zu werden, daß auch er ein Mensch
sei wie die Andern, die Andern Menschen wie er. In Bezug auf dramatisch
lebendige Verkörperung geschichtlicher Zeitstimmungen läßt sich kein andres Er¬
zeugnis unsrer Litteratur Schillers „Räubern" an die Seite stellen; nur Fichtes
Reden lassen sich damit vergleichen. Die Leidenschaft des sozialen Nevolutions-
gedankens kommt in des schwäbischen Dichters dramatischen Erstlingswerken ebenso
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[0484] Die Rarlsschule und Schillers Jugendtraum. alle unter dem Zwang und der Lüge der Kultur mißbildete Sitte, gegen alle bestehenden Gesellschaftszustände, die mit hinreißender Wärme des Herzens ge¬ predigte Rückkehr zur Natur, zur Einfachheit und primitiven Unvcrdorbenheit mußte das Herz eines Jünglings wie Schiller mächtig entflammen. In der Brust des Dichters, sagt Weltrich, baute eine Welt sich auf, die zu Form und Bestand seines äußerlich-gegenwärtigen Lebens in einem unvermittelter und trotzigen Kontraste stand. Diese innere Welt, wie sie in des Dichters Gemüt und Phantasie sich ge¬ staltete, ist die Heimat der „Räuber." Die Ausarbeitung dieses Trauerspiels fällt hauptsächlich in das Jahr 1780, und es war beinahe vollendet, als Schiller zu Ende dieses Jahres die Akademie verließ. Goethe nennt bei Eckermann das Gedicht eine „Produktion genialer jugendlicher Ungeduld und Unwillens über einen schweren Erziehungsdruck." Aber diese Äußerung, welche in den üblichen litterargeschichtlichen Urteilen überall wiederklingt, wird dem Genius, der in Schillers ersten Dramen waltet, bei weitem nicht gerecht. Ja die Hauptsache ist übersehen. Hätte Schiller das große satirische Talent, mit welchem die Natur ihn ausgestattet hatte, dazu verwenden wollen, seinem Unmut Luft zu machen über den zopfigen Despotismus des Tyrannen und des Schulmeisters Karl Eugen, so hätte ihm das Leben in der Karlsschule Stoff genug geboten zu grotesken Szenen, denen Schillers Pinselführung die packendste Naturwahr¬ heit hätte verleihen können. Aber das Dichtergemüt Schillers empfand in dem Hemmenden, Beengenden, sein sittliches Gefühl Störenden, was ihm begegnete, nicht bloß den persönlichen Druck, das persönliche Leiden, es ahnte dessen Zu¬ sammenhang mit den allgemeinen Mächten der Lüge und Gewaltthat, welche die Welt in Fesseln hielten, und, das eigne Ich zum allgemeinen Ich erwei¬ ternd, empfand er, was alle empfinden mußten, deren sittliches Gefühl ebenso gestimmt war wie das seinige. Schillers Dichterauge erkannte hinter dem Schleier der Erscheinung deren symbolische Bedeutung, den Hinweis auf das Prinzip einer verlebten Weltordnung. An dieser Weltordnung, an dem ver¬ kommenen und verrotteten anoien r^uns des Bourbonentums, welches, mit Ausnahme des vom Königtum der Pflicht beherrschten Preußens, auch Deutsch¬ land in Banden hielt, übte der Räuber Moor denselben Akt der Volksjustiz, durch welche wenige Jahre darauf die Bastille gestürmt und der sechzehnte Ludwig gezwungen wurde, wieder in Paris seinen Wohnsitz zu nehmen, um in täglicher Berührung mit dem Volke inne zu werden, daß auch er ein Mensch sei wie die Andern, die Andern Menschen wie er. In Bezug auf dramatisch lebendige Verkörperung geschichtlicher Zeitstimmungen läßt sich kein andres Er¬ zeugnis unsrer Litteratur Schillers „Räubern" an die Seite stellen; nur Fichtes Reden lassen sich damit vergleichen. Die Leidenschaft des sozialen Nevolutions- gedankens kommt in des schwäbischen Dichters dramatischen Erstlingswerken ebenso zum Ausdruck, wie bei Fichte das Pathos der nationalen Wiedergeburt. „Soll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/484>, abgerufen am 01.09.2024.