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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die neueste Politik Rußlands am Balkan,

daran festgehalten und darnach seine Politik bemessen hat, stützt sich auf die
konservative Partei, zu der Staatsmänner wie Gamschanin und Christin gehören.
Sie zählt im Lande nicht viel Anhänger, ersetzt aber das, was ihr an Zahl
abgeht, einmal dadurch, daß sie sich auf die Führer der Armee und die große
Mehrheit der niedern Offiziere verlassen kann, dann dadurch, daß sie mit aller
Energie und ohne viel Rücksicht auf liberale Grundsätze die Wahlen so zu
lenken gewohnt ist, daß sie in der Skupschtina die Mehrheit der Abgeordneten
auf ihre Seite bekommt, was ihr durch den Umstand erleichtert wird, daß der
König verfassungsmäßig zwei Drittel der Mandate für die Volksvertretung zu
vergeben hat. Die liberale Partei ist richtiger als die russische zu bezeichnen,
da sie erwiesenermaßen von Petersburg und Moskau Anregungen zu ihren
Manövern und reichliche baare Unterstützungen bezieht. Die Radikalen ferner
sind Demokraten, die an sich gegen jeden ausländischen Einfluß Front machen,
aber, wo es zu wählen galt, aus allerlei Gründen, darunter auch dem, daß
Sympathie für Nußland einträglicher ist als Hinneigung zu Österreich, in Be¬
ziehung auf das Ausland sich den Ansichten und Bestrebungen der Liberalen
näherten. Endlich erfreut sich Serbien auch einer Fortschrittspartei, die indes
nur den Namen mit der unsern gemein hat, zu der namentlich viele Beamte
zählen, und die eine vermittelnde Stellung zwischen den wechselnden Regierungen
und der jeweiligen Opposition einzunehmen pflegt. Der Streit, der ohne
Unterlaß zwischen diesen Parteien tobt und bald die eine, bald die andere zu
längerer oder kürzerer Herrschaft gelangen läßt, hat in den letzten zwölf Mo¬
naten nicht weniger als viermal den König genötigt, seine Minister zu wechseln.
Auf das Kabinet, in welchem Garaschanin den Vorsitz führte, folgte ein Mini¬
sterium mit Ristic als Präsidenten, auf dieses der radikale General Gruic mit
seinen Kollegen, und jetzt ist in den Personen des Premiers Christin und des
Ministers des Auswärtigen Mijatovic, sowie ihrer meisten Amtsgenossen wieder
einmal die konservative Partei am Nuder. Die Radikalen verfügen seit lange
schon im Lande über zahlreiche Anhänger, sodaß sie 1883 einen Aufstand
wagen zu können glaubten, der jedoch seine Zwecke nicht erreichte, sondern von
Christin mit größter Energie unterdrückt und dann an seinen Teilnehmern streng
geahndet wurde. Es floß damals ziemlich viel Blut, auch infolge standgericht¬
licher Urteile, man verhaftete oppositionelle Abgeordnete und sperrte sie in die
Belgrader Zitadelle, und die gemißbrauchte Preßfreiheit wurde ebenso wie das
Versammlungsrecht zeitweilig aufgehoben. Die Niederwerfung des Aufstandes
der Radikalen bedeutete zugleich einen Sieg der österreichisch gesinnten Serben;
denn Christin, der früher im österreichischen Heere gedient hatte, bewahrte dem
Nachbarreiche eine lebhafte Anhänglichkeit, die er niemals verleugnete. Als er
schließlich zurücktrat, erhielt er in Garaschanin einen im wesentlichen ähnlich
denkenden Nachfolger. Ristic bekam das Heft auf Grund eines Abkommens in
die Hand, das die Liberalen mit den Radikalen zu gemeinsamer Arbeit der-


Die neueste Politik Rußlands am Balkan,

daran festgehalten und darnach seine Politik bemessen hat, stützt sich auf die
konservative Partei, zu der Staatsmänner wie Gamschanin und Christin gehören.
Sie zählt im Lande nicht viel Anhänger, ersetzt aber das, was ihr an Zahl
abgeht, einmal dadurch, daß sie sich auf die Führer der Armee und die große
Mehrheit der niedern Offiziere verlassen kann, dann dadurch, daß sie mit aller
Energie und ohne viel Rücksicht auf liberale Grundsätze die Wahlen so zu
lenken gewohnt ist, daß sie in der Skupschtina die Mehrheit der Abgeordneten
auf ihre Seite bekommt, was ihr durch den Umstand erleichtert wird, daß der
König verfassungsmäßig zwei Drittel der Mandate für die Volksvertretung zu
vergeben hat. Die liberale Partei ist richtiger als die russische zu bezeichnen,
da sie erwiesenermaßen von Petersburg und Moskau Anregungen zu ihren
Manövern und reichliche baare Unterstützungen bezieht. Die Radikalen ferner
sind Demokraten, die an sich gegen jeden ausländischen Einfluß Front machen,
aber, wo es zu wählen galt, aus allerlei Gründen, darunter auch dem, daß
Sympathie für Nußland einträglicher ist als Hinneigung zu Österreich, in Be¬
ziehung auf das Ausland sich den Ansichten und Bestrebungen der Liberalen
näherten. Endlich erfreut sich Serbien auch einer Fortschrittspartei, die indes
nur den Namen mit der unsern gemein hat, zu der namentlich viele Beamte
zählen, und die eine vermittelnde Stellung zwischen den wechselnden Regierungen
und der jeweiligen Opposition einzunehmen pflegt. Der Streit, der ohne
Unterlaß zwischen diesen Parteien tobt und bald die eine, bald die andere zu
längerer oder kürzerer Herrschaft gelangen läßt, hat in den letzten zwölf Mo¬
naten nicht weniger als viermal den König genötigt, seine Minister zu wechseln.
Auf das Kabinet, in welchem Garaschanin den Vorsitz führte, folgte ein Mini¬
sterium mit Ristic als Präsidenten, auf dieses der radikale General Gruic mit
seinen Kollegen, und jetzt ist in den Personen des Premiers Christin und des
Ministers des Auswärtigen Mijatovic, sowie ihrer meisten Amtsgenossen wieder
einmal die konservative Partei am Nuder. Die Radikalen verfügen seit lange
schon im Lande über zahlreiche Anhänger, sodaß sie 1883 einen Aufstand
wagen zu können glaubten, der jedoch seine Zwecke nicht erreichte, sondern von
Christin mit größter Energie unterdrückt und dann an seinen Teilnehmern streng
geahndet wurde. Es floß damals ziemlich viel Blut, auch infolge standgericht¬
licher Urteile, man verhaftete oppositionelle Abgeordnete und sperrte sie in die
Belgrader Zitadelle, und die gemißbrauchte Preßfreiheit wurde ebenso wie das
Versammlungsrecht zeitweilig aufgehoben. Die Niederwerfung des Aufstandes
der Radikalen bedeutete zugleich einen Sieg der österreichisch gesinnten Serben;
denn Christin, der früher im österreichischen Heere gedient hatte, bewahrte dem
Nachbarreiche eine lebhafte Anhänglichkeit, die er niemals verleugnete. Als er
schließlich zurücktrat, erhielt er in Garaschanin einen im wesentlichen ähnlich
denkenden Nachfolger. Ristic bekam das Heft auf Grund eines Abkommens in
die Hand, das die Liberalen mit den Radikalen zu gemeinsamer Arbeit der-


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[0358] Die neueste Politik Rußlands am Balkan, daran festgehalten und darnach seine Politik bemessen hat, stützt sich auf die konservative Partei, zu der Staatsmänner wie Gamschanin und Christin gehören. Sie zählt im Lande nicht viel Anhänger, ersetzt aber das, was ihr an Zahl abgeht, einmal dadurch, daß sie sich auf die Führer der Armee und die große Mehrheit der niedern Offiziere verlassen kann, dann dadurch, daß sie mit aller Energie und ohne viel Rücksicht auf liberale Grundsätze die Wahlen so zu lenken gewohnt ist, daß sie in der Skupschtina die Mehrheit der Abgeordneten auf ihre Seite bekommt, was ihr durch den Umstand erleichtert wird, daß der König verfassungsmäßig zwei Drittel der Mandate für die Volksvertretung zu vergeben hat. Die liberale Partei ist richtiger als die russische zu bezeichnen, da sie erwiesenermaßen von Petersburg und Moskau Anregungen zu ihren Manövern und reichliche baare Unterstützungen bezieht. Die Radikalen ferner sind Demokraten, die an sich gegen jeden ausländischen Einfluß Front machen, aber, wo es zu wählen galt, aus allerlei Gründen, darunter auch dem, daß Sympathie für Nußland einträglicher ist als Hinneigung zu Österreich, in Be¬ ziehung auf das Ausland sich den Ansichten und Bestrebungen der Liberalen näherten. Endlich erfreut sich Serbien auch einer Fortschrittspartei, die indes nur den Namen mit der unsern gemein hat, zu der namentlich viele Beamte zählen, und die eine vermittelnde Stellung zwischen den wechselnden Regierungen und der jeweiligen Opposition einzunehmen pflegt. Der Streit, der ohne Unterlaß zwischen diesen Parteien tobt und bald die eine, bald die andere zu längerer oder kürzerer Herrschaft gelangen läßt, hat in den letzten zwölf Mo¬ naten nicht weniger als viermal den König genötigt, seine Minister zu wechseln. Auf das Kabinet, in welchem Garaschanin den Vorsitz führte, folgte ein Mini¬ sterium mit Ristic als Präsidenten, auf dieses der radikale General Gruic mit seinen Kollegen, und jetzt ist in den Personen des Premiers Christin und des Ministers des Auswärtigen Mijatovic, sowie ihrer meisten Amtsgenossen wieder einmal die konservative Partei am Nuder. Die Radikalen verfügen seit lange schon im Lande über zahlreiche Anhänger, sodaß sie 1883 einen Aufstand wagen zu können glaubten, der jedoch seine Zwecke nicht erreichte, sondern von Christin mit größter Energie unterdrückt und dann an seinen Teilnehmern streng geahndet wurde. Es floß damals ziemlich viel Blut, auch infolge standgericht¬ licher Urteile, man verhaftete oppositionelle Abgeordnete und sperrte sie in die Belgrader Zitadelle, und die gemißbrauchte Preßfreiheit wurde ebenso wie das Versammlungsrecht zeitweilig aufgehoben. Die Niederwerfung des Aufstandes der Radikalen bedeutete zugleich einen Sieg der österreichisch gesinnten Serben; denn Christin, der früher im österreichischen Heere gedient hatte, bewahrte dem Nachbarreiche eine lebhafte Anhänglichkeit, die er niemals verleugnete. Als er schließlich zurücktrat, erhielt er in Garaschanin einen im wesentlichen ähnlich denkenden Nachfolger. Ristic bekam das Heft auf Grund eines Abkommens in die Hand, das die Liberalen mit den Radikalen zu gemeinsamer Arbeit der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/358>, abgerufen am 01.09.2024.