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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Anzengrnbers Dorfgeschichte!,.

Geschichte des andern Kirchenfeindes hören. Da verweist ihn der Alte an die
Quelle, er muß sie sich vom Holzknecht selbst erzählen lassen, dessen Verzweiflung
an Gottes Güte ganz andre Gründe hat. Der Kaplan geht denn auch zum
Dorfe hinaus, nach der entlegenen Hütte des armen Gvttverlorenen, und be¬
reitet sich auf eine glänzende theologische Disputation nach allen Regeln der
Kunst vor. Aber schon nach dem ersten Versuche mit dem in schlichtem Schmerze
aufschauenden Greis bleibt der junge Mann stecken. Dieser erzählt ihm kurz,
aber erschütternd seine Geschichte, die ihn zum Zweifel an Gott geführt hat.
Er hat einen Sohn gehabt, der Bube kletterte leidenschaftlich gern auf den
Bergen umher, so streng er auch gehalten wurde. Einmal rutschte er von einer
steilen Wand so unglücklich herab, daß er an einem Aste über einem Abgrunde
hängen blieb. Der Vater, der den lange ausbleibenden zu suchen ging, kam
gerade hinzu, wie der Knabe sich in dieser Lage befand. Aber o Jammer! er
hatte weder eine Stange noch einen Strick, sie dem in der Tiefe hängenden
Sohne zu reichen. In wahnsinniger Angst eilte er ins Dorf, um Rettungsmittel
zu holen, als er mit diesen zurückkam, war der schwache Ast, der deu Knaben
hielt, gebrochen und dieser selbst als Leiche in der Tiefe. Diese Geschichte
wird mit einer so hinreißenden Kraft und zugleich Schlichtheit erzählt, daß
wir gern daran glauben, daß der junge Kaplan ein für alle mal kurirt nach
Hause ging.

Diesen religiös-skeptischen Charakter trägt nur noch die vorletzte Geschichte
des Buches: "Ein Mann, den Gott liebt," eine satirische Skizze eines jener
Charaktere, die man schon aus andern Dichtungen Anzengrubers kennt: die
bäuerliche Frömmigkeit, welche die Erfolge ihrer eignen rücksichtslosen Selbst¬
sucht als offenbare Begünstigung von Gottes Gnade auffassen, wie z. B. aus
dem Meineidbauer.

Die andern Geschichten sind nicht satirisch tendenziös, sie wirken nur durch
die Macht der Darstellung, also rein künstlerisch. Die vier Geschichten: "Unter
schwerer Anklage," "Eine Geschichte von bösen Sprichwörtern," "Die Heimkehr"
und "Wissen macht -- Herzweh" können zu der Klasse der Kriminalnovellen ge¬
zählt werden. Wie aber hat sie Anzengruber geadelt, indem er uns seine von ur¬
sprünglicher Kraft strotzenden Menschen vorführte! In der ersten ist wieder vom
Lottcrieteufel die Rede. Dieser hat die Ehe der Kleinhänslerslente Peter und
Rosalia Kirninger zerstört: sie setzte in die Lotterie, was sie nur erübrigen
konnte, und er warf sich aufs Trinken; so löste Zwietracht die alte Liebe beim
Paare ab. Ein naher Anverwandter, ein "Strömer," hatte das Weib zum
Spiele verführt, dem er selbst opferte, und wurde deswegen von Peter gehaßt.
Da wird dieser Strömer einmal als Leiche im Walde gefunden, und der Ver¬
dacht, ihn ermordet zu haben, lenkt sich auf Peter. Nun lese man alle die
Szenen: der Verhaftung, des Verhörs durch den jungen, schneidigen Unter¬
suchungsrichter, der die erste Gelegenheit, sich durch eiuen bedeutenden Fall aus-


Anzengrnbers Dorfgeschichte!,.

Geschichte des andern Kirchenfeindes hören. Da verweist ihn der Alte an die
Quelle, er muß sie sich vom Holzknecht selbst erzählen lassen, dessen Verzweiflung
an Gottes Güte ganz andre Gründe hat. Der Kaplan geht denn auch zum
Dorfe hinaus, nach der entlegenen Hütte des armen Gvttverlorenen, und be¬
reitet sich auf eine glänzende theologische Disputation nach allen Regeln der
Kunst vor. Aber schon nach dem ersten Versuche mit dem in schlichtem Schmerze
aufschauenden Greis bleibt der junge Mann stecken. Dieser erzählt ihm kurz,
aber erschütternd seine Geschichte, die ihn zum Zweifel an Gott geführt hat.
Er hat einen Sohn gehabt, der Bube kletterte leidenschaftlich gern auf den
Bergen umher, so streng er auch gehalten wurde. Einmal rutschte er von einer
steilen Wand so unglücklich herab, daß er an einem Aste über einem Abgrunde
hängen blieb. Der Vater, der den lange ausbleibenden zu suchen ging, kam
gerade hinzu, wie der Knabe sich in dieser Lage befand. Aber o Jammer! er
hatte weder eine Stange noch einen Strick, sie dem in der Tiefe hängenden
Sohne zu reichen. In wahnsinniger Angst eilte er ins Dorf, um Rettungsmittel
zu holen, als er mit diesen zurückkam, war der schwache Ast, der deu Knaben
hielt, gebrochen und dieser selbst als Leiche in der Tiefe. Diese Geschichte
wird mit einer so hinreißenden Kraft und zugleich Schlichtheit erzählt, daß
wir gern daran glauben, daß der junge Kaplan ein für alle mal kurirt nach
Hause ging.

Diesen religiös-skeptischen Charakter trägt nur noch die vorletzte Geschichte
des Buches: „Ein Mann, den Gott liebt," eine satirische Skizze eines jener
Charaktere, die man schon aus andern Dichtungen Anzengrubers kennt: die
bäuerliche Frömmigkeit, welche die Erfolge ihrer eignen rücksichtslosen Selbst¬
sucht als offenbare Begünstigung von Gottes Gnade auffassen, wie z. B. aus
dem Meineidbauer.

Die andern Geschichten sind nicht satirisch tendenziös, sie wirken nur durch
die Macht der Darstellung, also rein künstlerisch. Die vier Geschichten: „Unter
schwerer Anklage," „Eine Geschichte von bösen Sprichwörtern," „Die Heimkehr"
und „Wissen macht — Herzweh" können zu der Klasse der Kriminalnovellen ge¬
zählt werden. Wie aber hat sie Anzengruber geadelt, indem er uns seine von ur¬
sprünglicher Kraft strotzenden Menschen vorführte! In der ersten ist wieder vom
Lottcrieteufel die Rede. Dieser hat die Ehe der Kleinhänslerslente Peter und
Rosalia Kirninger zerstört: sie setzte in die Lotterie, was sie nur erübrigen
konnte, und er warf sich aufs Trinken; so löste Zwietracht die alte Liebe beim
Paare ab. Ein naher Anverwandter, ein „Strömer," hatte das Weib zum
Spiele verführt, dem er selbst opferte, und wurde deswegen von Peter gehaßt.
Da wird dieser Strömer einmal als Leiche im Walde gefunden, und der Ver¬
dacht, ihn ermordet zu haben, lenkt sich auf Peter. Nun lese man alle die
Szenen: der Verhaftung, des Verhörs durch den jungen, schneidigen Unter¬
suchungsrichter, der die erste Gelegenheit, sich durch eiuen bedeutenden Fall aus-


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[0332] Anzengrnbers Dorfgeschichte!,. Geschichte des andern Kirchenfeindes hören. Da verweist ihn der Alte an die Quelle, er muß sie sich vom Holzknecht selbst erzählen lassen, dessen Verzweiflung an Gottes Güte ganz andre Gründe hat. Der Kaplan geht denn auch zum Dorfe hinaus, nach der entlegenen Hütte des armen Gvttverlorenen, und be¬ reitet sich auf eine glänzende theologische Disputation nach allen Regeln der Kunst vor. Aber schon nach dem ersten Versuche mit dem in schlichtem Schmerze aufschauenden Greis bleibt der junge Mann stecken. Dieser erzählt ihm kurz, aber erschütternd seine Geschichte, die ihn zum Zweifel an Gott geführt hat. Er hat einen Sohn gehabt, der Bube kletterte leidenschaftlich gern auf den Bergen umher, so streng er auch gehalten wurde. Einmal rutschte er von einer steilen Wand so unglücklich herab, daß er an einem Aste über einem Abgrunde hängen blieb. Der Vater, der den lange ausbleibenden zu suchen ging, kam gerade hinzu, wie der Knabe sich in dieser Lage befand. Aber o Jammer! er hatte weder eine Stange noch einen Strick, sie dem in der Tiefe hängenden Sohne zu reichen. In wahnsinniger Angst eilte er ins Dorf, um Rettungsmittel zu holen, als er mit diesen zurückkam, war der schwache Ast, der deu Knaben hielt, gebrochen und dieser selbst als Leiche in der Tiefe. Diese Geschichte wird mit einer so hinreißenden Kraft und zugleich Schlichtheit erzählt, daß wir gern daran glauben, daß der junge Kaplan ein für alle mal kurirt nach Hause ging. Diesen religiös-skeptischen Charakter trägt nur noch die vorletzte Geschichte des Buches: „Ein Mann, den Gott liebt," eine satirische Skizze eines jener Charaktere, die man schon aus andern Dichtungen Anzengrubers kennt: die bäuerliche Frömmigkeit, welche die Erfolge ihrer eignen rücksichtslosen Selbst¬ sucht als offenbare Begünstigung von Gottes Gnade auffassen, wie z. B. aus dem Meineidbauer. Die andern Geschichten sind nicht satirisch tendenziös, sie wirken nur durch die Macht der Darstellung, also rein künstlerisch. Die vier Geschichten: „Unter schwerer Anklage," „Eine Geschichte von bösen Sprichwörtern," „Die Heimkehr" und „Wissen macht — Herzweh" können zu der Klasse der Kriminalnovellen ge¬ zählt werden. Wie aber hat sie Anzengruber geadelt, indem er uns seine von ur¬ sprünglicher Kraft strotzenden Menschen vorführte! In der ersten ist wieder vom Lottcrieteufel die Rede. Dieser hat die Ehe der Kleinhänslerslente Peter und Rosalia Kirninger zerstört: sie setzte in die Lotterie, was sie nur erübrigen konnte, und er warf sich aufs Trinken; so löste Zwietracht die alte Liebe beim Paare ab. Ein naher Anverwandter, ein „Strömer," hatte das Weib zum Spiele verführt, dem er selbst opferte, und wurde deswegen von Peter gehaßt. Da wird dieser Strömer einmal als Leiche im Walde gefunden, und der Ver¬ dacht, ihn ermordet zu haben, lenkt sich auf Peter. Nun lese man alle die Szenen: der Verhaftung, des Verhörs durch den jungen, schneidigen Unter¬ suchungsrichter, der die erste Gelegenheit, sich durch eiuen bedeutenden Fall aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/332>, abgerufen am 01.09.2024.