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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Vorreden.

Urkunden, die wir über die Reformation der Oper besitzen, vollständig und
richtig überliefert; die beiden berühmten Vorreden zu ^1ve8es (1769) und
zu ?ariäö ca Ltsng, (1770), in denen Gluck seine Grundsätze und Ziele selbst
klar darlegt und die somit für das Verständnis seines Lebenswerkes von der
allerhöchsten Wichtigkeit sind, wurden sogar durch die Gluckbiographen (in
diesem Falle doch wohl diejenigen, von denen man die größte Zuverlässigkeit
zu erwarten berechtigt ist) nur entstellt und unvollständig zur Kenntnis gebracht.

Es bedarf wohl keiner weitern Worte, um diese Thatsache als argen
Mißstand zu bezeichnen, wohl aber sollen einige Beispiele unsre Behauptung
erhärten und die Übeln Folgen jener Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit andeuten.

Das neueste Werk, das Glucks Vorreden einem weitern Leserkreise zum
Zwecke geschichtlicher Belehrung mitteilt, ist die "Dramaturgie der Oper" von
Heinrich Bulthaupt. Ein geistvoller, kenntnisreicher Schriftsteller, ein verdienst¬
liches Unternehmen, gewiß, aber man sehe, wie dem armen Gluck da mit¬
gespielt wird. Auf Seite 33 f. findet man die Vorrede Glücks zu "Alceste."
Sie ist ein "Meisterwerk," hat kurz zuvor Herr Bulthaupt mit Recht gesagt,
aber wer sie in seiner Fassung liest, möchte doch, wenn er scharf denkt, daran
Zu zweifeln beginnen, daß niemals ein Musiker über seine Kunst "lichtvoller"
geurteilt habe als Gluck. Uns wenigstens sind folgende Sätze recht unklar und
widerspruchsvoll erschienen: "Ich habe mich daher wohl in Acht genommen,
einen Sänger in einer lebhaften Stelle des Dialogs zu unterbrechen, um ihn
ein langweiliges Ritornell absingen zu lassen oder ihn in der Mitte seiner
Erzählung bei einem günstigen Vokal aufzuhalten, sei es, um ihm entweder
Gelegenheit zu geben, seine schöne Stimme in einer langen, künstlichen Passage
^ zeigen, oder Zeit zum Odemschöpfen zu lassen, einen Orgelpunkt anbringen
zu können. Ferner hob ich mir nicht erlaubt, zu schnell auf den zweiten Teil
einer Arie überzugehen, wenn er auch noch so ausdrucksvoll und erheblich war,
oder, wie es in der Regel geschieht, die Wörter vier- bis fünfmal zu wieder¬
holen, sie eher zu endigen, als der Sinn es erforderte, und es dem Sänger
^icht zu machen, nach seinem Geschmack Variationen und manierirte Passagen
anbringen zu können."

Steckt in dem ersten Satz nicht ein Widerspruch, ganz abgesehen davon,
daß die Übertragung von Ausdrücken der Instrumentalmusik auf das Gebiet
des Gesanges verwirrend wirkt? Und nun gar der zweite Satz! Wer vermag
den logischen Gedankengang aus diesem Labyrinth von Worten herauszufinden?
Gluck hat aber auch gar nicht so geschrieben. Die betreffende Stelle lautet im
Original, nach dem Abdruck in der ersten Ausgabe der Alceste-Partitur (In
Vieung,, nötig, LtAmxöriü g-uliva all Oiovanni I'omAso as ^rattnorn 1769):
^on tlo voluto äunHue- v6 arrestÄik rin attoro uft insSAior oslcko ack äigloKO
?W asxsttare um nojoso ritoinötlt), lo terraarlc. a, inW2g. xarola, soxig. raa
on>og,1 tavorövolo, o g, tM xomxÄ in un tunZo xa"8AM0 äoll' aZilitil al sua


Zwei Vorreden.

Urkunden, die wir über die Reformation der Oper besitzen, vollständig und
richtig überliefert; die beiden berühmten Vorreden zu ^1ve8es (1769) und
zu ?ariäö ca Ltsng, (1770), in denen Gluck seine Grundsätze und Ziele selbst
klar darlegt und die somit für das Verständnis seines Lebenswerkes von der
allerhöchsten Wichtigkeit sind, wurden sogar durch die Gluckbiographen (in
diesem Falle doch wohl diejenigen, von denen man die größte Zuverlässigkeit
zu erwarten berechtigt ist) nur entstellt und unvollständig zur Kenntnis gebracht.

Es bedarf wohl keiner weitern Worte, um diese Thatsache als argen
Mißstand zu bezeichnen, wohl aber sollen einige Beispiele unsre Behauptung
erhärten und die Übeln Folgen jener Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit andeuten.

Das neueste Werk, das Glucks Vorreden einem weitern Leserkreise zum
Zwecke geschichtlicher Belehrung mitteilt, ist die „Dramaturgie der Oper" von
Heinrich Bulthaupt. Ein geistvoller, kenntnisreicher Schriftsteller, ein verdienst¬
liches Unternehmen, gewiß, aber man sehe, wie dem armen Gluck da mit¬
gespielt wird. Auf Seite 33 f. findet man die Vorrede Glücks zu „Alceste."
Sie ist ein „Meisterwerk," hat kurz zuvor Herr Bulthaupt mit Recht gesagt,
aber wer sie in seiner Fassung liest, möchte doch, wenn er scharf denkt, daran
Zu zweifeln beginnen, daß niemals ein Musiker über seine Kunst „lichtvoller"
geurteilt habe als Gluck. Uns wenigstens sind folgende Sätze recht unklar und
widerspruchsvoll erschienen: „Ich habe mich daher wohl in Acht genommen,
einen Sänger in einer lebhaften Stelle des Dialogs zu unterbrechen, um ihn
ein langweiliges Ritornell absingen zu lassen oder ihn in der Mitte seiner
Erzählung bei einem günstigen Vokal aufzuhalten, sei es, um ihm entweder
Gelegenheit zu geben, seine schöne Stimme in einer langen, künstlichen Passage
^ zeigen, oder Zeit zum Odemschöpfen zu lassen, einen Orgelpunkt anbringen
zu können. Ferner hob ich mir nicht erlaubt, zu schnell auf den zweiten Teil
einer Arie überzugehen, wenn er auch noch so ausdrucksvoll und erheblich war,
oder, wie es in der Regel geschieht, die Wörter vier- bis fünfmal zu wieder¬
holen, sie eher zu endigen, als der Sinn es erforderte, und es dem Sänger
^icht zu machen, nach seinem Geschmack Variationen und manierirte Passagen
anbringen zu können."

Steckt in dem ersten Satz nicht ein Widerspruch, ganz abgesehen davon,
daß die Übertragung von Ausdrücken der Instrumentalmusik auf das Gebiet
des Gesanges verwirrend wirkt? Und nun gar der zweite Satz! Wer vermag
den logischen Gedankengang aus diesem Labyrinth von Worten herauszufinden?
Gluck hat aber auch gar nicht so geschrieben. Die betreffende Stelle lautet im
Original, nach dem Abdruck in der ersten Ausgabe der Alceste-Partitur (In
Vieung,, nötig, LtAmxöriü g-uliva all Oiovanni I'omAso as ^rattnorn 1769):
^on tlo voluto äunHue- v6 arrestÄik rin attoro uft insSAior oslcko ack äigloKO
?W asxsttare um nojoso ritoinötlt), lo terraarlc. a, inW2g. xarola, soxig. raa
on>og,1 tavorövolo, o g, tM xomxÄ in un tunZo xa«8AM0 äoll' aZilitil al sua


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[0279] Zwei Vorreden. Urkunden, die wir über die Reformation der Oper besitzen, vollständig und richtig überliefert; die beiden berühmten Vorreden zu ^1ve8es (1769) und zu ?ariäö ca Ltsng, (1770), in denen Gluck seine Grundsätze und Ziele selbst klar darlegt und die somit für das Verständnis seines Lebenswerkes von der allerhöchsten Wichtigkeit sind, wurden sogar durch die Gluckbiographen (in diesem Falle doch wohl diejenigen, von denen man die größte Zuverlässigkeit zu erwarten berechtigt ist) nur entstellt und unvollständig zur Kenntnis gebracht. Es bedarf wohl keiner weitern Worte, um diese Thatsache als argen Mißstand zu bezeichnen, wohl aber sollen einige Beispiele unsre Behauptung erhärten und die Übeln Folgen jener Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit andeuten. Das neueste Werk, das Glucks Vorreden einem weitern Leserkreise zum Zwecke geschichtlicher Belehrung mitteilt, ist die „Dramaturgie der Oper" von Heinrich Bulthaupt. Ein geistvoller, kenntnisreicher Schriftsteller, ein verdienst¬ liches Unternehmen, gewiß, aber man sehe, wie dem armen Gluck da mit¬ gespielt wird. Auf Seite 33 f. findet man die Vorrede Glücks zu „Alceste." Sie ist ein „Meisterwerk," hat kurz zuvor Herr Bulthaupt mit Recht gesagt, aber wer sie in seiner Fassung liest, möchte doch, wenn er scharf denkt, daran Zu zweifeln beginnen, daß niemals ein Musiker über seine Kunst „lichtvoller" geurteilt habe als Gluck. Uns wenigstens sind folgende Sätze recht unklar und widerspruchsvoll erschienen: „Ich habe mich daher wohl in Acht genommen, einen Sänger in einer lebhaften Stelle des Dialogs zu unterbrechen, um ihn ein langweiliges Ritornell absingen zu lassen oder ihn in der Mitte seiner Erzählung bei einem günstigen Vokal aufzuhalten, sei es, um ihm entweder Gelegenheit zu geben, seine schöne Stimme in einer langen, künstlichen Passage ^ zeigen, oder Zeit zum Odemschöpfen zu lassen, einen Orgelpunkt anbringen zu können. Ferner hob ich mir nicht erlaubt, zu schnell auf den zweiten Teil einer Arie überzugehen, wenn er auch noch so ausdrucksvoll und erheblich war, oder, wie es in der Regel geschieht, die Wörter vier- bis fünfmal zu wieder¬ holen, sie eher zu endigen, als der Sinn es erforderte, und es dem Sänger ^icht zu machen, nach seinem Geschmack Variationen und manierirte Passagen anbringen zu können." Steckt in dem ersten Satz nicht ein Widerspruch, ganz abgesehen davon, daß die Übertragung von Ausdrücken der Instrumentalmusik auf das Gebiet des Gesanges verwirrend wirkt? Und nun gar der zweite Satz! Wer vermag den logischen Gedankengang aus diesem Labyrinth von Worten herauszufinden? Gluck hat aber auch gar nicht so geschrieben. Die betreffende Stelle lautet im Original, nach dem Abdruck in der ersten Ausgabe der Alceste-Partitur (In Vieung,, nötig, LtAmxöriü g-uliva all Oiovanni I'omAso as ^rattnorn 1769): ^on tlo voluto äunHue- v6 arrestÄik rin attoro uft insSAior oslcko ack äigloKO ?W asxsttare um nojoso ritoinötlt), lo terraarlc. a, inW2g. xarola, soxig. raa on>og,1 tavorövolo, o g, tM xomxÄ in un tunZo xa«8AM0 äoll' aZilitil al sua

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/279>, abgerufen am 29.07.2024.