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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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gegen die Vergangenheit, ihre Größen und Thaten, und die Folgen, welche sie
nach sich zieht, sind nicht nur falsche und ungerechte Beurteilung des Gewesenen,
sondern auch Unbilligkeit gegen das Seiende und kurzsichtige Voreingenommen¬
heit gegen das Werdende. Kurz, alle Vorteile, welche die Kenntnis der Ge¬
schichte für das Leben hat, schlagen beim Halbwisser in ihr Gegenteil um.

So wird es denn auch nicht überflüssig erscheinen, wenn hier, in einem
Blatte, das sich an die Gebildeten wendet, eine Reihe von Irrtümern aufgezeigt
wird, welche durch die Nachlässigkeit oder Unwissenheit mehrerer zum Teil
namhafter Schriftsteller verschuldet und verbreitet worden sind, denn das Be¬
ginnen wird durch die Bedeutung des Gegenstandes, dem jene seit Jahrzehnten
anhaften, gerechtfertigt und hoch über alle philologische Deutelei und Wort¬
klauberei emporgehoben.

Ohne Zweifel nimmt Gluck in der Musikgeschichte wie in der Kulturgeschichte
unter deu großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts eine der ersten Stellen
ein. Er hat durch sein Lebenswerk nicht nur die Oper umgestaltet, sondern
vor allein auch der Musik, indem er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern
vornehmlich zum Ausdruck des Innern schuf und sie so in unmittelbare Be¬
ziehung zum Gefühlsleben der Menschheit brachte, eine ganz neue Bahn eröffnet.
Er ist daher auch zeitig in den Bereich der Forschung gezogen worden, und
wenn auch die Bedeutung seiner Lebensthat für die Stellung und Wirksamkeit
der Musik im Geistesleben noch lange nicht verstanden und gewürdigt ist, so
sind doch das Wesen und die Folgen seiner Umgestaltung für die Kunstform
der Oper von mancher Seite erörtert und beleuchtet worden. So lieferte,
nachdem I. G. Siegmeier 1822 durch eine Übersetzung der im Jahre 1781
vom Abbe Leblond gesammelten Nsinoirss xour ssrvir s. I'nistoirs as 1s.
Jnvolution oxsrss ägns ig, Nusiaus xs,r N. 1s Onevslisr as Aluol: den
Deutschen die Hauptquelle über diesen wichtigen Gegenstand erschlossen hatte,
Anton Schmid im Jahre 1854 die erste, durch die Masse des darin mit¬
geteilten urkundlichen Materials grundlegende Biographie des großen Meisters.
Ihm folgte der Beethovenbiograph Adolf Bernhard Marx mit seiner in der
musikalischen Betrachtung tiefer gehenden, in der historischen Darstellung
weiter ausgreifenden, aber nicht überall zuverlässigen und den konstruktions¬
süchtigen Kunstphilosophen allzu oft verratenden Arbeit: "Gluck und die Oper"
(Berlin, 1863; 2 Bände). Auf diesen beiden Büchern und der 1872 erschienenen
hübschen Schrift: (ZInoK se ?iooinui des Voltaireforschers Desnoiresterres
beruht sowohl die wenig bedeutende Gluckbiographie August Neißmcmns (Berlin,
1882) als die ebenso verbissene wie einseitig beschränkte Tendenzschrift des Herrn
Bitter: "Die Reform der Oper durch Gluck und R. Wagners Kunstwerk der
Zukunft" (Braunschweig, 1884).

Welch eine Summe von Arbeit! Und doch, in keinem dieser Bücher --
es klingt unglaublich, aber es ist wahr -- ist der Wortlaut der wichtigsten


gegen die Vergangenheit, ihre Größen und Thaten, und die Folgen, welche sie
nach sich zieht, sind nicht nur falsche und ungerechte Beurteilung des Gewesenen,
sondern auch Unbilligkeit gegen das Seiende und kurzsichtige Voreingenommen¬
heit gegen das Werdende. Kurz, alle Vorteile, welche die Kenntnis der Ge¬
schichte für das Leben hat, schlagen beim Halbwisser in ihr Gegenteil um.

So wird es denn auch nicht überflüssig erscheinen, wenn hier, in einem
Blatte, das sich an die Gebildeten wendet, eine Reihe von Irrtümern aufgezeigt
wird, welche durch die Nachlässigkeit oder Unwissenheit mehrerer zum Teil
namhafter Schriftsteller verschuldet und verbreitet worden sind, denn das Be¬
ginnen wird durch die Bedeutung des Gegenstandes, dem jene seit Jahrzehnten
anhaften, gerechtfertigt und hoch über alle philologische Deutelei und Wort¬
klauberei emporgehoben.

Ohne Zweifel nimmt Gluck in der Musikgeschichte wie in der Kulturgeschichte
unter deu großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts eine der ersten Stellen
ein. Er hat durch sein Lebenswerk nicht nur die Oper umgestaltet, sondern
vor allein auch der Musik, indem er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern
vornehmlich zum Ausdruck des Innern schuf und sie so in unmittelbare Be¬
ziehung zum Gefühlsleben der Menschheit brachte, eine ganz neue Bahn eröffnet.
Er ist daher auch zeitig in den Bereich der Forschung gezogen worden, und
wenn auch die Bedeutung seiner Lebensthat für die Stellung und Wirksamkeit
der Musik im Geistesleben noch lange nicht verstanden und gewürdigt ist, so
sind doch das Wesen und die Folgen seiner Umgestaltung für die Kunstform
der Oper von mancher Seite erörtert und beleuchtet worden. So lieferte,
nachdem I. G. Siegmeier 1822 durch eine Übersetzung der im Jahre 1781
vom Abbe Leblond gesammelten Nsinoirss xour ssrvir s. I'nistoirs as 1s.
Jnvolution oxsrss ägns ig, Nusiaus xs,r N. 1s Onevslisr as Aluol: den
Deutschen die Hauptquelle über diesen wichtigen Gegenstand erschlossen hatte,
Anton Schmid im Jahre 1854 die erste, durch die Masse des darin mit¬
geteilten urkundlichen Materials grundlegende Biographie des großen Meisters.
Ihm folgte der Beethovenbiograph Adolf Bernhard Marx mit seiner in der
musikalischen Betrachtung tiefer gehenden, in der historischen Darstellung
weiter ausgreifenden, aber nicht überall zuverlässigen und den konstruktions¬
süchtigen Kunstphilosophen allzu oft verratenden Arbeit: „Gluck und die Oper"
(Berlin, 1863; 2 Bände). Auf diesen beiden Büchern und der 1872 erschienenen
hübschen Schrift: (ZInoK se ?iooinui des Voltaireforschers Desnoiresterres
beruht sowohl die wenig bedeutende Gluckbiographie August Neißmcmns (Berlin,
1882) als die ebenso verbissene wie einseitig beschränkte Tendenzschrift des Herrn
Bitter: „Die Reform der Oper durch Gluck und R. Wagners Kunstwerk der
Zukunft" (Braunschweig, 1884).

Welch eine Summe von Arbeit! Und doch, in keinem dieser Bücher —
es klingt unglaublich, aber es ist wahr — ist der Wortlaut der wichtigsten


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[0278] gegen die Vergangenheit, ihre Größen und Thaten, und die Folgen, welche sie nach sich zieht, sind nicht nur falsche und ungerechte Beurteilung des Gewesenen, sondern auch Unbilligkeit gegen das Seiende und kurzsichtige Voreingenommen¬ heit gegen das Werdende. Kurz, alle Vorteile, welche die Kenntnis der Ge¬ schichte für das Leben hat, schlagen beim Halbwisser in ihr Gegenteil um. So wird es denn auch nicht überflüssig erscheinen, wenn hier, in einem Blatte, das sich an die Gebildeten wendet, eine Reihe von Irrtümern aufgezeigt wird, welche durch die Nachlässigkeit oder Unwissenheit mehrerer zum Teil namhafter Schriftsteller verschuldet und verbreitet worden sind, denn das Be¬ ginnen wird durch die Bedeutung des Gegenstandes, dem jene seit Jahrzehnten anhaften, gerechtfertigt und hoch über alle philologische Deutelei und Wort¬ klauberei emporgehoben. Ohne Zweifel nimmt Gluck in der Musikgeschichte wie in der Kulturgeschichte unter deu großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts eine der ersten Stellen ein. Er hat durch sein Lebenswerk nicht nur die Oper umgestaltet, sondern vor allein auch der Musik, indem er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern vornehmlich zum Ausdruck des Innern schuf und sie so in unmittelbare Be¬ ziehung zum Gefühlsleben der Menschheit brachte, eine ganz neue Bahn eröffnet. Er ist daher auch zeitig in den Bereich der Forschung gezogen worden, und wenn auch die Bedeutung seiner Lebensthat für die Stellung und Wirksamkeit der Musik im Geistesleben noch lange nicht verstanden und gewürdigt ist, so sind doch das Wesen und die Folgen seiner Umgestaltung für die Kunstform der Oper von mancher Seite erörtert und beleuchtet worden. So lieferte, nachdem I. G. Siegmeier 1822 durch eine Übersetzung der im Jahre 1781 vom Abbe Leblond gesammelten Nsinoirss xour ssrvir s. I'nistoirs as 1s. Jnvolution oxsrss ägns ig, Nusiaus xs,r N. 1s Onevslisr as Aluol: den Deutschen die Hauptquelle über diesen wichtigen Gegenstand erschlossen hatte, Anton Schmid im Jahre 1854 die erste, durch die Masse des darin mit¬ geteilten urkundlichen Materials grundlegende Biographie des großen Meisters. Ihm folgte der Beethovenbiograph Adolf Bernhard Marx mit seiner in der musikalischen Betrachtung tiefer gehenden, in der historischen Darstellung weiter ausgreifenden, aber nicht überall zuverlässigen und den konstruktions¬ süchtigen Kunstphilosophen allzu oft verratenden Arbeit: „Gluck und die Oper" (Berlin, 1863; 2 Bände). Auf diesen beiden Büchern und der 1872 erschienenen hübschen Schrift: (ZInoK se ?iooinui des Voltaireforschers Desnoiresterres beruht sowohl die wenig bedeutende Gluckbiographie August Neißmcmns (Berlin, 1882) als die ebenso verbissene wie einseitig beschränkte Tendenzschrift des Herrn Bitter: „Die Reform der Oper durch Gluck und R. Wagners Kunstwerk der Zukunft" (Braunschweig, 1884). Welch eine Summe von Arbeit! Und doch, in keinem dieser Bücher — es klingt unglaublich, aber es ist wahr — ist der Wortlaut der wichtigsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/278>, abgerufen am 28.07.2024.