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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage der französischen Republik.

sie in andern Beziehungen konservativ waren, und Anhänglichkeit an die Union
Großbritanniens und Irlands bewegt gegenwärtig Lord Hartington und seine
Gefolgschaft, sich auf die Seite eines konservativen Ministeriums zu stellen, ob¬
gleich sie in allen andern Fragen des Tages Liberale sind. Die Franzosen
dagegen Pflegen sich zusammenzuthun, nicht weil sie sich zu ein und demselben
alles andre überragenden Prinzip bekennen, sondern weil sie ein und dieselbe
Person oder Einrichtung hassen. Es giebt bei ihnen nur Offensivbttndnissc.
Sie kommen überein, niederzureißen, was ihnen nicht mehr gefällt, ihnen im
Wege steht, ohne sich gegenseitig den Umstand zu verbergen, daß sie bei Beant¬
wortung der Frage, was an dessen Stelle zu setzen sei, Standpunkte einnehmen,
die so weit von einander entfernt sind wie der Südpol vom Nordpol; sie
befördern einen Umsturz und ein Wirrsal, indem jeder der Hoffnung lebt, bei
dem schließlichen Kampfe der stärkere zu sein und die Oberhand zu gewinnen.
Sie nehmen jeden beliebigen als Wegbauer, Minengräber oder Plänkler an,
der sich dazu eignen will, selbst einen Boulanger, weil sie glauben, daß sie ihn
fortschicken können, wenn der Mohr seine Schuldigkeit gethan hat, d. h. hier,
wenn er die Autorität umgeworfen hat und Frankreich sich nun in Verzweiflung
befindet. Das war der Grund und die Erklärung, als eines schönen Sonntags
in voriger Woche ein Konsortium von Klerikalen, Bonapartisten, Legitimisten,
mißvergnügten Republikanern, Sozialisten, Anarchisten und persönlichen An¬
hängern für den neuen Politiker stimmte, einfach weil er den größten Betrag
von Störung des bisherigen Zustandes und Wechsel zu liefern versprach.

Ein englisches Blatt fragt, warum die Nachbarn überm Kanal sich nicht
entschließen, das "vortreffliche" System einzuführen, nach dem es in England
nur zwei große Parteien giebt, die abwechselnd die Zügel des Staates über¬
nehmen und sich vereinigen, wenn bedeutungsvolle Fragen nationaler Politik
sich erheben. Das ist nicht richtig ausgedrückt, da die Vereinigung, wie unsre
obigen Beispiele zeigen, gewöhnlich nur einen Bruchteil der einen Partei (vor
dreißig Jahren die Anhänger Peels. gegenwärtig die Fraktion Hartingtons)
umfaßte, und da es jetzt in England vier Parteien, außer der konservativen
und der liberalen auch noch eine radikale und eine irische giebt. Aber nehmen
wir den frühern Zustand an, wo es wirklich nur zwei gab und wo der Parla¬
mentarismus allein unschädlich sein konnte, so ist die Antwort leicht. Das alt¬
englische Parteishstem gründete sich auf Unterordnung unter überlieferte Grund¬
sätze in Hauptsachen und Verständigung in weniger wichtiger Dingen, und das
widerspricht dem Geiste der Franzosen. Persönliche Vorzüge derselben ver¬
wandeln sich in politische Mängel und Gebrechen. Nehmen wir z. B. die
Legitimisten. Beseelt von treuer Anhänglichkeit an ein Prinzip und einen
Prinzen, wanderten sie vierzig Jahre in der Wüste der Opposition und ver¬
zichteten auf die Fleischtöpfe der Versorgung mit Ämtern, die ihnen von
Ludwig Philipp, dann von Napoleon dem Dritten dargeboten wurden. Erst


Die Lage der französischen Republik.

sie in andern Beziehungen konservativ waren, und Anhänglichkeit an die Union
Großbritanniens und Irlands bewegt gegenwärtig Lord Hartington und seine
Gefolgschaft, sich auf die Seite eines konservativen Ministeriums zu stellen, ob¬
gleich sie in allen andern Fragen des Tages Liberale sind. Die Franzosen
dagegen Pflegen sich zusammenzuthun, nicht weil sie sich zu ein und demselben
alles andre überragenden Prinzip bekennen, sondern weil sie ein und dieselbe
Person oder Einrichtung hassen. Es giebt bei ihnen nur Offensivbttndnissc.
Sie kommen überein, niederzureißen, was ihnen nicht mehr gefällt, ihnen im
Wege steht, ohne sich gegenseitig den Umstand zu verbergen, daß sie bei Beant¬
wortung der Frage, was an dessen Stelle zu setzen sei, Standpunkte einnehmen,
die so weit von einander entfernt sind wie der Südpol vom Nordpol; sie
befördern einen Umsturz und ein Wirrsal, indem jeder der Hoffnung lebt, bei
dem schließlichen Kampfe der stärkere zu sein und die Oberhand zu gewinnen.
Sie nehmen jeden beliebigen als Wegbauer, Minengräber oder Plänkler an,
der sich dazu eignen will, selbst einen Boulanger, weil sie glauben, daß sie ihn
fortschicken können, wenn der Mohr seine Schuldigkeit gethan hat, d. h. hier,
wenn er die Autorität umgeworfen hat und Frankreich sich nun in Verzweiflung
befindet. Das war der Grund und die Erklärung, als eines schönen Sonntags
in voriger Woche ein Konsortium von Klerikalen, Bonapartisten, Legitimisten,
mißvergnügten Republikanern, Sozialisten, Anarchisten und persönlichen An¬
hängern für den neuen Politiker stimmte, einfach weil er den größten Betrag
von Störung des bisherigen Zustandes und Wechsel zu liefern versprach.

Ein englisches Blatt fragt, warum die Nachbarn überm Kanal sich nicht
entschließen, das „vortreffliche" System einzuführen, nach dem es in England
nur zwei große Parteien giebt, die abwechselnd die Zügel des Staates über¬
nehmen und sich vereinigen, wenn bedeutungsvolle Fragen nationaler Politik
sich erheben. Das ist nicht richtig ausgedrückt, da die Vereinigung, wie unsre
obigen Beispiele zeigen, gewöhnlich nur einen Bruchteil der einen Partei (vor
dreißig Jahren die Anhänger Peels. gegenwärtig die Fraktion Hartingtons)
umfaßte, und da es jetzt in England vier Parteien, außer der konservativen
und der liberalen auch noch eine radikale und eine irische giebt. Aber nehmen
wir den frühern Zustand an, wo es wirklich nur zwei gab und wo der Parla¬
mentarismus allein unschädlich sein konnte, so ist die Antwort leicht. Das alt¬
englische Parteishstem gründete sich auf Unterordnung unter überlieferte Grund¬
sätze in Hauptsachen und Verständigung in weniger wichtiger Dingen, und das
widerspricht dem Geiste der Franzosen. Persönliche Vorzüge derselben ver¬
wandeln sich in politische Mängel und Gebrechen. Nehmen wir z. B. die
Legitimisten. Beseelt von treuer Anhänglichkeit an ein Prinzip und einen
Prinzen, wanderten sie vierzig Jahre in der Wüste der Opposition und ver¬
zichteten auf die Fleischtöpfe der Versorgung mit Ämtern, die ihnen von
Ludwig Philipp, dann von Napoleon dem Dritten dargeboten wurden. Erst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/212>, abgerufen am 01.09.2024.