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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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?le Lage der französischen Republik.

1870, als Frankreich in Gefahr war, eilten sie nach der Front, um für das
Land zu streiten und sich zu opfern. Waren die Engländer und Schotten von
der Art, so würde es in ihrem Parlamente uoch heute Jakobiten geben. 1870
behauptete man, die Imperialisten seien nur ein kleines Häuflein, das von
"Badingnet" erkauft sei und mit dessen Sturz zerstäuben werde. Aber so lange
dessen Sohn lebte, zählte man in der Wahlkammer achtzig Mitglieder der
Partei, und noch heute sitzen da zwischen vierzig und fünfzig Leute dieses
Bekenntnisses. Dieselbe zähe Anhänglichkeit an früher herrschende Grundsätze
und gefallene Verwirklichungen derselben spaltet die Mehrheit der Deputirten-
kammer in Republikaner von drei oder vier Schätzungen neben den Oppor¬
tunisten, in Radikale, Sozialisten, Kommunarden und Anarchisten. Kurz, in
der Politik sind die Franzosen so hartnäckig und unversöhnlich wie die eng¬
lischen Sekten in Sachen der Glaubenslehre und der kirchlichen Ordnung und
Zucht. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn es mit dem Wagen nicht
vorwärts will, die Pferde ziehen eben nicht in einer Richtung, und so erklärt
es sich, daß viele Franzosen am Parlamentarismus verzweifeln. Die Maschine
liefert nichts als unverständlichen Zank und durchschnittlich alle neun Monate
einen Ministerwechsel. So lange der Präsident Grevy noch Achtung genoß und
an der Spitze Frankreichs stand, fühlte sich das Land leidlich wohl und sicher,
obwohl die Portefeuilles aller Augenblicke in andre Hände übergingen. Aber
der Skandal mit Wilson ließ dieses Sicherheitsgefühl verschwinden, und der neue
Präsident Carnot ist außerhalb der Mauern von Paris kaum bekannt. Eben¬
falls charakteristisch für das französische Volk ist, daß in seinen Kreisen fast immer
Persönlicher Skandal eine Rolle beim Herannahen politischer Umwälzungen spielt.
Das Verbrechen des Herzogs von Prasum erschütterte den Thron Ludwig
Philipps, die Erschießung Viktor noirs durch den Prinzen Peter Napoleon
war der erste Schlag gegen die Macht und das Ansehen seines kaiserlichen
Vetters, der Ordensschacher des Schwiegersohnes Grcvys untergrub die "Re¬
publik der achtbaren Leute." Als man sand, daß das zweite Kaisertum dem
Leben und der Kraft Frankreichs durch Korruption schweren Schaden zugefügt
hatte, entstand eine starke Bewegung zu Gunsten einer unpersönlichen und
reinen Republik, in der nur das Verdienst befördert und geehrt sein und Spar¬
samkeit und Rechtlichkeit herrschen sollten. Davon hat sich nichts erfüllt. Die
finanzielle Lage des Landes ist infolge verschwenderischer Ausgaben für lokale
Arbeiten, mit denen man sich den Wählern angenehm zu machen versuchte,
höchst unbefriedigend. Der Feldzug nach Tunis erinnerte, für die Ansprüche
von Geldleuten unsaubern Charakters unternommen, an die Schwindeleien des
Bankhauses Jeckcr, die dem Kriege mit Mexiko vorausgingen. In Tonking
und Madagaskar wurden kleine Kriege übereilt vom Zaune gebrochen und
schwächlich geführt. Dann hieß es, das Kaiserreich habe mit allen Lastern und
Thorheiten eines Hofes Frivolität und Unsittlichkeit erzeugt und gefördert und


?le Lage der französischen Republik.

1870, als Frankreich in Gefahr war, eilten sie nach der Front, um für das
Land zu streiten und sich zu opfern. Waren die Engländer und Schotten von
der Art, so würde es in ihrem Parlamente uoch heute Jakobiten geben. 1870
behauptete man, die Imperialisten seien nur ein kleines Häuflein, das von
„Badingnet" erkauft sei und mit dessen Sturz zerstäuben werde. Aber so lange
dessen Sohn lebte, zählte man in der Wahlkammer achtzig Mitglieder der
Partei, und noch heute sitzen da zwischen vierzig und fünfzig Leute dieses
Bekenntnisses. Dieselbe zähe Anhänglichkeit an früher herrschende Grundsätze
und gefallene Verwirklichungen derselben spaltet die Mehrheit der Deputirten-
kammer in Republikaner von drei oder vier Schätzungen neben den Oppor¬
tunisten, in Radikale, Sozialisten, Kommunarden und Anarchisten. Kurz, in
der Politik sind die Franzosen so hartnäckig und unversöhnlich wie die eng¬
lischen Sekten in Sachen der Glaubenslehre und der kirchlichen Ordnung und
Zucht. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn es mit dem Wagen nicht
vorwärts will, die Pferde ziehen eben nicht in einer Richtung, und so erklärt
es sich, daß viele Franzosen am Parlamentarismus verzweifeln. Die Maschine
liefert nichts als unverständlichen Zank und durchschnittlich alle neun Monate
einen Ministerwechsel. So lange der Präsident Grevy noch Achtung genoß und
an der Spitze Frankreichs stand, fühlte sich das Land leidlich wohl und sicher,
obwohl die Portefeuilles aller Augenblicke in andre Hände übergingen. Aber
der Skandal mit Wilson ließ dieses Sicherheitsgefühl verschwinden, und der neue
Präsident Carnot ist außerhalb der Mauern von Paris kaum bekannt. Eben¬
falls charakteristisch für das französische Volk ist, daß in seinen Kreisen fast immer
Persönlicher Skandal eine Rolle beim Herannahen politischer Umwälzungen spielt.
Das Verbrechen des Herzogs von Prasum erschütterte den Thron Ludwig
Philipps, die Erschießung Viktor noirs durch den Prinzen Peter Napoleon
war der erste Schlag gegen die Macht und das Ansehen seines kaiserlichen
Vetters, der Ordensschacher des Schwiegersohnes Grcvys untergrub die „Re¬
publik der achtbaren Leute." Als man sand, daß das zweite Kaisertum dem
Leben und der Kraft Frankreichs durch Korruption schweren Schaden zugefügt
hatte, entstand eine starke Bewegung zu Gunsten einer unpersönlichen und
reinen Republik, in der nur das Verdienst befördert und geehrt sein und Spar¬
samkeit und Rechtlichkeit herrschen sollten. Davon hat sich nichts erfüllt. Die
finanzielle Lage des Landes ist infolge verschwenderischer Ausgaben für lokale
Arbeiten, mit denen man sich den Wählern angenehm zu machen versuchte,
höchst unbefriedigend. Der Feldzug nach Tunis erinnerte, für die Ansprüche
von Geldleuten unsaubern Charakters unternommen, an die Schwindeleien des
Bankhauses Jeckcr, die dem Kriege mit Mexiko vorausgingen. In Tonking
und Madagaskar wurden kleine Kriege übereilt vom Zaune gebrochen und
schwächlich geführt. Dann hieß es, das Kaiserreich habe mit allen Lastern und
Thorheiten eines Hofes Frivolität und Unsittlichkeit erzeugt und gefördert und


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[0213] ?le Lage der französischen Republik. 1870, als Frankreich in Gefahr war, eilten sie nach der Front, um für das Land zu streiten und sich zu opfern. Waren die Engländer und Schotten von der Art, so würde es in ihrem Parlamente uoch heute Jakobiten geben. 1870 behauptete man, die Imperialisten seien nur ein kleines Häuflein, das von „Badingnet" erkauft sei und mit dessen Sturz zerstäuben werde. Aber so lange dessen Sohn lebte, zählte man in der Wahlkammer achtzig Mitglieder der Partei, und noch heute sitzen da zwischen vierzig und fünfzig Leute dieses Bekenntnisses. Dieselbe zähe Anhänglichkeit an früher herrschende Grundsätze und gefallene Verwirklichungen derselben spaltet die Mehrheit der Deputirten- kammer in Republikaner von drei oder vier Schätzungen neben den Oppor¬ tunisten, in Radikale, Sozialisten, Kommunarden und Anarchisten. Kurz, in der Politik sind die Franzosen so hartnäckig und unversöhnlich wie die eng¬ lischen Sekten in Sachen der Glaubenslehre und der kirchlichen Ordnung und Zucht. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn es mit dem Wagen nicht vorwärts will, die Pferde ziehen eben nicht in einer Richtung, und so erklärt es sich, daß viele Franzosen am Parlamentarismus verzweifeln. Die Maschine liefert nichts als unverständlichen Zank und durchschnittlich alle neun Monate einen Ministerwechsel. So lange der Präsident Grevy noch Achtung genoß und an der Spitze Frankreichs stand, fühlte sich das Land leidlich wohl und sicher, obwohl die Portefeuilles aller Augenblicke in andre Hände übergingen. Aber der Skandal mit Wilson ließ dieses Sicherheitsgefühl verschwinden, und der neue Präsident Carnot ist außerhalb der Mauern von Paris kaum bekannt. Eben¬ falls charakteristisch für das französische Volk ist, daß in seinen Kreisen fast immer Persönlicher Skandal eine Rolle beim Herannahen politischer Umwälzungen spielt. Das Verbrechen des Herzogs von Prasum erschütterte den Thron Ludwig Philipps, die Erschießung Viktor noirs durch den Prinzen Peter Napoleon war der erste Schlag gegen die Macht und das Ansehen seines kaiserlichen Vetters, der Ordensschacher des Schwiegersohnes Grcvys untergrub die „Re¬ publik der achtbaren Leute." Als man sand, daß das zweite Kaisertum dem Leben und der Kraft Frankreichs durch Korruption schweren Schaden zugefügt hatte, entstand eine starke Bewegung zu Gunsten einer unpersönlichen und reinen Republik, in der nur das Verdienst befördert und geehrt sein und Spar¬ samkeit und Rechtlichkeit herrschen sollten. Davon hat sich nichts erfüllt. Die finanzielle Lage des Landes ist infolge verschwenderischer Ausgaben für lokale Arbeiten, mit denen man sich den Wählern angenehm zu machen versuchte, höchst unbefriedigend. Der Feldzug nach Tunis erinnerte, für die Ansprüche von Geldleuten unsaubern Charakters unternommen, an die Schwindeleien des Bankhauses Jeckcr, die dem Kriege mit Mexiko vorausgingen. In Tonking und Madagaskar wurden kleine Kriege übereilt vom Zaune gebrochen und schwächlich geführt. Dann hieß es, das Kaiserreich habe mit allen Lastern und Thorheiten eines Hofes Frivolität und Unsittlichkeit erzeugt und gefördert und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/213>, abgerufen am 01.09.2024.