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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung,

in Welchen es sich um die äußere Sicherheit des Reiches handelt. Um die
Propaganda der That zu fördern, giebt der Anarchismus förmliche Hand- und
Lehrbücher zur Begehung von Attentaten heraus, und diese Bücher knüpfen
stets an Gerichtsverhandlungen an und suchen aus ihnen Lehren für die Zukunft
zu schöpfen. An den Prozeß wider Reinsdorf und Genossen wegen des ver¬
suchten Attentats bei der Enthüllung des Denkmals am Niederwald lehnte der
berüchtigte Anarchist Most verschiedne Bücher und Artikel an. Die pflicht¬
treuen Beamten und Zeugen werden in den anarchistischen Blättern der Rache
preisgegeben, und es entsteht die Gefahr, daß der Staat um seine besten
Vcrteidigungs- und Wehrheitsmittel gegen derartige Verbrecher gebracht wird.

Das Spezialitätentum in der Berichterstattung über gerichtliche Verhand¬
lungen hat es auch dahin gebracht, daß der Ton der Berichte nichts mehr mit
der Würde der Justiz zu thun hat. Soweit er sich ans den unfreiwilligen
Humor erstreckt, der auch in den Gerichtssälen zu Tage tritt, wird man an
einem witzig gefärbten Bericht Duldung üben müssen. Anders ist es, wenn es
sich um Sittlichkeitsvcrbrechcn handelt und die Zeitungen in ihren Berichten
Dinge vorbringen, welche das Schamgefühl tief verletzen und bei ihrer Ver¬
breitung die guten Sitten schwer gefährden. Gerade in den kleinern Blättern
tritt die Richtung zu Tage, solche Gerichtsverhandlungen lüstern auszumalen
und die Sinnlichkeit der Leser zu reizen. Das ungeheuerlichste Beispiel in
dieser Beziehung gab die auch in diesen Blättern schwer getadelte Verhandlung
in dem Prozeß Grus, wo eine Woche lang von Berlin aus die gemeinsten
und niederträchtigsten Schamlosigkeiten durch die Presse über Deutschland
verbreitet wurden. Es herrschte damals ein förmlicher Notstand, da es
nicht immer zu erreichen war, daß man die Zeitungen vor der Frau und den
Kindern des Hauses verbergen konnte. Nun ist es zwar richtig, aber für
unsre Gesetzgebung doch immer bezeichnend, daß die Leitung in jenem Prozesse
die Ungeschicklichkeit beging, die Öffentlichkeit auszuschließen, aber die Presse zu¬
zulassen. Das war freilich eine Ironie auf die gesetzliche Vorschrift. Aber
wäre dies auch nicht der Fall gewesen, so würde trotzdem genug Ärgernis
gehender Stoff in die Zeitungen gedrungen sein, nur mit dem Unterschiede, daß er
ihnen teurer zu stehen gekommen wäre. Denn statt ihren eignen Gerichts¬
rcporter in die Verhandlungen zu schicken, hätten sie den Bericht von dem be¬
stimmten Spezialisten beziehen müssen, der die Einzelheiten ebenso geliefert
haben würde. Nicht aus Anlaß eines einzelnen Falles soll man ein Gesetz
ändern, wohl aber, wenn dieser einzelne Fall ein besonders deutliches Anzeichen
für ein allgemeines Übel ist. Und das trifft bei dem Prozeß Graf zu. Auch
den Engländern sind in neuester Zeit aus Anlaß zweier Skandalprozesse die
Augen aufgegangen; nach den schimpflichen Ehescheidungsverhandlnngen in
Sachen Crawford-Dilke und Colin-Cumble, die in ihrem Inhalte den Gräfschen
Prozeß sogar noch übertreffen, ist im Parlament ein Entwurf eingebracht


Grenzbote" II. 1888. 22
Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung,

in Welchen es sich um die äußere Sicherheit des Reiches handelt. Um die
Propaganda der That zu fördern, giebt der Anarchismus förmliche Hand- und
Lehrbücher zur Begehung von Attentaten heraus, und diese Bücher knüpfen
stets an Gerichtsverhandlungen an und suchen aus ihnen Lehren für die Zukunft
zu schöpfen. An den Prozeß wider Reinsdorf und Genossen wegen des ver¬
suchten Attentats bei der Enthüllung des Denkmals am Niederwald lehnte der
berüchtigte Anarchist Most verschiedne Bücher und Artikel an. Die pflicht¬
treuen Beamten und Zeugen werden in den anarchistischen Blättern der Rache
preisgegeben, und es entsteht die Gefahr, daß der Staat um seine besten
Vcrteidigungs- und Wehrheitsmittel gegen derartige Verbrecher gebracht wird.

Das Spezialitätentum in der Berichterstattung über gerichtliche Verhand¬
lungen hat es auch dahin gebracht, daß der Ton der Berichte nichts mehr mit
der Würde der Justiz zu thun hat. Soweit er sich ans den unfreiwilligen
Humor erstreckt, der auch in den Gerichtssälen zu Tage tritt, wird man an
einem witzig gefärbten Bericht Duldung üben müssen. Anders ist es, wenn es
sich um Sittlichkeitsvcrbrechcn handelt und die Zeitungen in ihren Berichten
Dinge vorbringen, welche das Schamgefühl tief verletzen und bei ihrer Ver¬
breitung die guten Sitten schwer gefährden. Gerade in den kleinern Blättern
tritt die Richtung zu Tage, solche Gerichtsverhandlungen lüstern auszumalen
und die Sinnlichkeit der Leser zu reizen. Das ungeheuerlichste Beispiel in
dieser Beziehung gab die auch in diesen Blättern schwer getadelte Verhandlung
in dem Prozeß Grus, wo eine Woche lang von Berlin aus die gemeinsten
und niederträchtigsten Schamlosigkeiten durch die Presse über Deutschland
verbreitet wurden. Es herrschte damals ein förmlicher Notstand, da es
nicht immer zu erreichen war, daß man die Zeitungen vor der Frau und den
Kindern des Hauses verbergen konnte. Nun ist es zwar richtig, aber für
unsre Gesetzgebung doch immer bezeichnend, daß die Leitung in jenem Prozesse
die Ungeschicklichkeit beging, die Öffentlichkeit auszuschließen, aber die Presse zu¬
zulassen. Das war freilich eine Ironie auf die gesetzliche Vorschrift. Aber
wäre dies auch nicht der Fall gewesen, so würde trotzdem genug Ärgernis
gehender Stoff in die Zeitungen gedrungen sein, nur mit dem Unterschiede, daß er
ihnen teurer zu stehen gekommen wäre. Denn statt ihren eignen Gerichts¬
rcporter in die Verhandlungen zu schicken, hätten sie den Bericht von dem be¬
stimmten Spezialisten beziehen müssen, der die Einzelheiten ebenso geliefert
haben würde. Nicht aus Anlaß eines einzelnen Falles soll man ein Gesetz
ändern, wohl aber, wenn dieser einzelne Fall ein besonders deutliches Anzeichen
für ein allgemeines Übel ist. Und das trifft bei dem Prozeß Graf zu. Auch
den Engländern sind in neuester Zeit aus Anlaß zweier Skandalprozesse die
Augen aufgegangen; nach den schimpflichen Ehescheidungsverhandlnngen in
Sachen Crawford-Dilke und Colin-Cumble, die in ihrem Inhalte den Gräfschen
Prozeß sogar noch übertreffen, ist im Parlament ein Entwurf eingebracht


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[0177] Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung, in Welchen es sich um die äußere Sicherheit des Reiches handelt. Um die Propaganda der That zu fördern, giebt der Anarchismus förmliche Hand- und Lehrbücher zur Begehung von Attentaten heraus, und diese Bücher knüpfen stets an Gerichtsverhandlungen an und suchen aus ihnen Lehren für die Zukunft zu schöpfen. An den Prozeß wider Reinsdorf und Genossen wegen des ver¬ suchten Attentats bei der Enthüllung des Denkmals am Niederwald lehnte der berüchtigte Anarchist Most verschiedne Bücher und Artikel an. Die pflicht¬ treuen Beamten und Zeugen werden in den anarchistischen Blättern der Rache preisgegeben, und es entsteht die Gefahr, daß der Staat um seine besten Vcrteidigungs- und Wehrheitsmittel gegen derartige Verbrecher gebracht wird. Das Spezialitätentum in der Berichterstattung über gerichtliche Verhand¬ lungen hat es auch dahin gebracht, daß der Ton der Berichte nichts mehr mit der Würde der Justiz zu thun hat. Soweit er sich ans den unfreiwilligen Humor erstreckt, der auch in den Gerichtssälen zu Tage tritt, wird man an einem witzig gefärbten Bericht Duldung üben müssen. Anders ist es, wenn es sich um Sittlichkeitsvcrbrechcn handelt und die Zeitungen in ihren Berichten Dinge vorbringen, welche das Schamgefühl tief verletzen und bei ihrer Ver¬ breitung die guten Sitten schwer gefährden. Gerade in den kleinern Blättern tritt die Richtung zu Tage, solche Gerichtsverhandlungen lüstern auszumalen und die Sinnlichkeit der Leser zu reizen. Das ungeheuerlichste Beispiel in dieser Beziehung gab die auch in diesen Blättern schwer getadelte Verhandlung in dem Prozeß Grus, wo eine Woche lang von Berlin aus die gemeinsten und niederträchtigsten Schamlosigkeiten durch die Presse über Deutschland verbreitet wurden. Es herrschte damals ein förmlicher Notstand, da es nicht immer zu erreichen war, daß man die Zeitungen vor der Frau und den Kindern des Hauses verbergen konnte. Nun ist es zwar richtig, aber für unsre Gesetzgebung doch immer bezeichnend, daß die Leitung in jenem Prozesse die Ungeschicklichkeit beging, die Öffentlichkeit auszuschließen, aber die Presse zu¬ zulassen. Das war freilich eine Ironie auf die gesetzliche Vorschrift. Aber wäre dies auch nicht der Fall gewesen, so würde trotzdem genug Ärgernis gehender Stoff in die Zeitungen gedrungen sein, nur mit dem Unterschiede, daß er ihnen teurer zu stehen gekommen wäre. Denn statt ihren eignen Gerichts¬ rcporter in die Verhandlungen zu schicken, hätten sie den Bericht von dem be¬ stimmten Spezialisten beziehen müssen, der die Einzelheiten ebenso geliefert haben würde. Nicht aus Anlaß eines einzelnen Falles soll man ein Gesetz ändern, wohl aber, wenn dieser einzelne Fall ein besonders deutliches Anzeichen für ein allgemeines Übel ist. Und das trifft bei dem Prozeß Graf zu. Auch den Engländern sind in neuester Zeit aus Anlaß zweier Skandalprozesse die Augen aufgegangen; nach den schimpflichen Ehescheidungsverhandlnngen in Sachen Crawford-Dilke und Colin-Cumble, die in ihrem Inhalte den Gräfschen Prozeß sogar noch übertreffen, ist im Parlament ein Entwurf eingebracht Grenzbote» II. 1888. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/177>, abgerufen am 28.07.2024.