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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

dazu gehören die alten Bilder; wie aber die Madonna dieser Bilder sich zu be¬
nehmen hat, wenn sie das Christkind vom Schoß ins Gras legt oder von
einem Arm auf den andern nimmt, wie sich hierbei nicht bloß die Lage der
Arme, sondern alles andre, sei es auch nur leise, mit ändert, das kann ich an
einer stillender Bauernfrau besser lernen als an allen alten Bildern; und woher
lernten diese selbst es zuerst?"

Ein solcher Naturalismus tritt nicht in Gegensatz zu der berechtigten
idealistischen Forderung, das wahre Schöne in dem zu sehen, was durch seine
Beziehung zum Guten wert ist, Gefallen zu wecken, es zu den wertvollsten,
höchsten Ideen in Beziehung zu setzen, es als Ausdruck derselben im Irdischen,
Sinnlichen zu erklären. Nur findet Fechner es nicht richtig, daß die Ästhetik
mit solchen Erklärungen anfangen will; ebensowenig giebt er zu, daß sie durch
Deduktion aus allgemeinen und höchsten Gesichtspunkten ihre Aufgabe erschöpfen
könne. Die Ästhetik "von oben" gehört zur klaren Orientirung im Erkenntnis-
gebiete, die Untersuchung, nach welchem Grundsatze das ästhetische Bewußtsein
seinen Inhalt gewinnt, soll nicht ausgeschlossen werden, "aber die am meisten
intcressirende und wichtigste Frage wird doch immer die bleiben: Warum gefällt
oder mißfällt es, und wiefern hat es Recht zu gefallen und zu mißfallen?
Und hierauf läßt sich nur mit Gesetzen des Gefallens und Mißfallens unter
Zuziehung der Gesetze des Sollens antworten, wie sich ans die Frage: Warum
bewegt sich ein Körper so und so, und wozu haben wir ihn zu bewegen? nicht
mit dem Begriff und einer Einteilung der verschiedenen Bewegungsweisen,
sondern nur mit Gesetzen der Bewegung und Betrachtung der Zwecke, worauf
sie zu richten, antworten läßt."

Dem entsprechend sucht Fechner in der Ästhetik "von unten" eine feste
Grundlage von Gesetzen aufzubauen, welche das Gefallen und Mißfallen in
aufzeigbarer Abhängigkeit von dem sinnlichen Anreize der Kunstwerke darstellen.
Man mag über die Fruchtbarkeit seiner Methode für die Ästhetik "von oben"
denken, wie man will: das Licht, das von unten auf die Kunst geworfen wird,
macht uns vielleicht nur die untern Teile des Baues sichtbar, aber gerade diese
Teile hätten wir im Licht von oben kaum in ihrer Grundbedeutung erkennen
können. Und überdies streben doch die Säulen, welche in den Grund ein¬
gemauert werden, die Grundsätze der Betrachtung, nach oben und weisen auf
den Gipfelpunkt hin, zu dem sich am Ende alles zusammenzuschließen hat.

Unter diesen Grundsätzen Fechners nimmt das "Prinzip der Assoziativ""
eine in eigentümlicher Weise hervorragende Stelle ein, indem es eine Ver¬
mittelung anbahnt zwischen den Eindrücken, die das Kunstwerk durch sinnliche
Einwirkung in uns hervorbringt, und dem über alle Sinnlichkeit weit hinaus¬
greifenden Inhalt, welchen das Werk dnrch den Künstler erhalten und dem
Beschauer mitteilen muß, wenn anders die Kunst Kunst sein und als Kunst
wirken soll.


Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

dazu gehören die alten Bilder; wie aber die Madonna dieser Bilder sich zu be¬
nehmen hat, wenn sie das Christkind vom Schoß ins Gras legt oder von
einem Arm auf den andern nimmt, wie sich hierbei nicht bloß die Lage der
Arme, sondern alles andre, sei es auch nur leise, mit ändert, das kann ich an
einer stillender Bauernfrau besser lernen als an allen alten Bildern; und woher
lernten diese selbst es zuerst?"

Ein solcher Naturalismus tritt nicht in Gegensatz zu der berechtigten
idealistischen Forderung, das wahre Schöne in dem zu sehen, was durch seine
Beziehung zum Guten wert ist, Gefallen zu wecken, es zu den wertvollsten,
höchsten Ideen in Beziehung zu setzen, es als Ausdruck derselben im Irdischen,
Sinnlichen zu erklären. Nur findet Fechner es nicht richtig, daß die Ästhetik
mit solchen Erklärungen anfangen will; ebensowenig giebt er zu, daß sie durch
Deduktion aus allgemeinen und höchsten Gesichtspunkten ihre Aufgabe erschöpfen
könne. Die Ästhetik „von oben" gehört zur klaren Orientirung im Erkenntnis-
gebiete, die Untersuchung, nach welchem Grundsatze das ästhetische Bewußtsein
seinen Inhalt gewinnt, soll nicht ausgeschlossen werden, „aber die am meisten
intcressirende und wichtigste Frage wird doch immer die bleiben: Warum gefällt
oder mißfällt es, und wiefern hat es Recht zu gefallen und zu mißfallen?
Und hierauf läßt sich nur mit Gesetzen des Gefallens und Mißfallens unter
Zuziehung der Gesetze des Sollens antworten, wie sich ans die Frage: Warum
bewegt sich ein Körper so und so, und wozu haben wir ihn zu bewegen? nicht
mit dem Begriff und einer Einteilung der verschiedenen Bewegungsweisen,
sondern nur mit Gesetzen der Bewegung und Betrachtung der Zwecke, worauf
sie zu richten, antworten läßt."

Dem entsprechend sucht Fechner in der Ästhetik „von unten" eine feste
Grundlage von Gesetzen aufzubauen, welche das Gefallen und Mißfallen in
aufzeigbarer Abhängigkeit von dem sinnlichen Anreize der Kunstwerke darstellen.
Man mag über die Fruchtbarkeit seiner Methode für die Ästhetik „von oben"
denken, wie man will: das Licht, das von unten auf die Kunst geworfen wird,
macht uns vielleicht nur die untern Teile des Baues sichtbar, aber gerade diese
Teile hätten wir im Licht von oben kaum in ihrer Grundbedeutung erkennen
können. Und überdies streben doch die Säulen, welche in den Grund ein¬
gemauert werden, die Grundsätze der Betrachtung, nach oben und weisen auf
den Gipfelpunkt hin, zu dem sich am Ende alles zusammenzuschließen hat.

Unter diesen Grundsätzen Fechners nimmt das „Prinzip der Assoziativ»"
eine in eigentümlicher Weise hervorragende Stelle ein, indem es eine Ver¬
mittelung anbahnt zwischen den Eindrücken, die das Kunstwerk durch sinnliche
Einwirkung in uns hervorbringt, und dem über alle Sinnlichkeit weit hinaus¬
greifenden Inhalt, welchen das Werk dnrch den Künstler erhalten und dem
Beschauer mitteilen muß, wenn anders die Kunst Kunst sein und als Kunst
wirken soll.


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[0125] Zum Andenken Gustav Theodor Fechners. dazu gehören die alten Bilder; wie aber die Madonna dieser Bilder sich zu be¬ nehmen hat, wenn sie das Christkind vom Schoß ins Gras legt oder von einem Arm auf den andern nimmt, wie sich hierbei nicht bloß die Lage der Arme, sondern alles andre, sei es auch nur leise, mit ändert, das kann ich an einer stillender Bauernfrau besser lernen als an allen alten Bildern; und woher lernten diese selbst es zuerst?" Ein solcher Naturalismus tritt nicht in Gegensatz zu der berechtigten idealistischen Forderung, das wahre Schöne in dem zu sehen, was durch seine Beziehung zum Guten wert ist, Gefallen zu wecken, es zu den wertvollsten, höchsten Ideen in Beziehung zu setzen, es als Ausdruck derselben im Irdischen, Sinnlichen zu erklären. Nur findet Fechner es nicht richtig, daß die Ästhetik mit solchen Erklärungen anfangen will; ebensowenig giebt er zu, daß sie durch Deduktion aus allgemeinen und höchsten Gesichtspunkten ihre Aufgabe erschöpfen könne. Die Ästhetik „von oben" gehört zur klaren Orientirung im Erkenntnis- gebiete, die Untersuchung, nach welchem Grundsatze das ästhetische Bewußtsein seinen Inhalt gewinnt, soll nicht ausgeschlossen werden, „aber die am meisten intcressirende und wichtigste Frage wird doch immer die bleiben: Warum gefällt oder mißfällt es, und wiefern hat es Recht zu gefallen und zu mißfallen? Und hierauf läßt sich nur mit Gesetzen des Gefallens und Mißfallens unter Zuziehung der Gesetze des Sollens antworten, wie sich ans die Frage: Warum bewegt sich ein Körper so und so, und wozu haben wir ihn zu bewegen? nicht mit dem Begriff und einer Einteilung der verschiedenen Bewegungsweisen, sondern nur mit Gesetzen der Bewegung und Betrachtung der Zwecke, worauf sie zu richten, antworten läßt." Dem entsprechend sucht Fechner in der Ästhetik „von unten" eine feste Grundlage von Gesetzen aufzubauen, welche das Gefallen und Mißfallen in aufzeigbarer Abhängigkeit von dem sinnlichen Anreize der Kunstwerke darstellen. Man mag über die Fruchtbarkeit seiner Methode für die Ästhetik „von oben" denken, wie man will: das Licht, das von unten auf die Kunst geworfen wird, macht uns vielleicht nur die untern Teile des Baues sichtbar, aber gerade diese Teile hätten wir im Licht von oben kaum in ihrer Grundbedeutung erkennen können. Und überdies streben doch die Säulen, welche in den Grund ein¬ gemauert werden, die Grundsätze der Betrachtung, nach oben und weisen auf den Gipfelpunkt hin, zu dem sich am Ende alles zusammenzuschließen hat. Unter diesen Grundsätzen Fechners nimmt das „Prinzip der Assoziativ»" eine in eigentümlicher Weise hervorragende Stelle ein, indem es eine Ver¬ mittelung anbahnt zwischen den Eindrücken, die das Kunstwerk durch sinnliche Einwirkung in uns hervorbringt, und dem über alle Sinnlichkeit weit hinaus¬ greifenden Inhalt, welchen das Werk dnrch den Künstler erhalten und dem Beschauer mitteilen muß, wenn anders die Kunst Kunst sein und als Kunst wirken soll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/125>, abgerufen am 28.07.2024.