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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

dem "ästhetischen Dienstbuch" Fechners verzeichnet, das 1839 mit einem unter
dem Pseudonym Mises herausgegebenen Schriftchen beginnt: "Über einige Bilder
der zweiten Leipziger Kunstausstellung," welches in die 1875 erschienene Samm¬
lung der "Kleinen Schriften" von Mises mit aufgenommen wurde.

Fechner besitzt die große Gabe echter Kunstkritik, das will sagen, er ist
ganz und gar Kritiker, und man findet keinen Beisatz von Enthusiasmus in
seinem Urteil. Ohne Frage war er des Enthusiasmus sähig, er, der sich selbst
einen Träumer und Phantasten nennt; aber wenn er ein Bild bespricht, ruft
er nicht bewundernd aus, daß es schön sei, sondern zeigt, was schön ist und
warum es schön ist. Seine Besprechung läßt uns die Bilder der Ausstellung
selbst sehen; er fuhrt unsre Augen von rechts nach links und von unten nach
oben über das Bild, läßt uns zum Vergleich ans ein andres Bild schauen, kurz,
er zaubert uns die Aufstellung vor ohne "nötigen Aufwand von Worten. Dann
erst kommt das Urteil, und dessen Richtigkeit leuchtet uns ein, weil wir eben
alles gesehen haben, was für die Beurteilung maßgebend ist. Und etwas andres
als das, was man im Kunstwerke selbst sehen kann, ist für die Beurteilung des¬
selben unmaßgeblich, wie z. B. die Berufung auf klassische Vorbilder. Der
Künstler durfte kein Vorbild nachahmen; die bewunderungswürdigen Werke der
großen Meister sollen nicht Vorbilder, sondern Beispiele sein, daraus zu lernen
ist, worauf es ankommt. Das klingt wie echter Naturalismus.

So naturalistisch aber Fechners Kritik immer zu Werke geht, so sicher
wandelt sie die Bahn, welche die idealen Forderungen der Kunst vorschreiben.
Die Forderung des Naturalismus wird nur vertreten gegenüber dem falschen
Idealismus. "Es wäre Thorheit, das nicht benutzen zu wollen, was uns in
den Idealgestalten der antiken, der christlichen Bilder Übermacht worden ist; es
hieße die Goldstücke wegwerfen, die wir geerbt haben, aus Eigensinn, das Gold
selbst mit eignen Händen graben zu wollen, wozu so viele Werkzeuge und
Menschen gehört haben. Aber damit, daß wir die Goldstücke anders legen
-- und was sind die meisten neuen christlichen Gemälde sonst als anders ge¬
legte Köpfe, Arme, Beine früherer Bilder --, richten wir noch nichts aus;
damit bleibt doch im Grunde alles beim alten; wir müssen sie brauchen, und
dieser Gebrauch besteht eben in ihrer Anwendung im Verkehr mit der wirklichen
Natur. In jedem alten Bilde, jeder Antike finden wir allerdings etwas andres;
aber nur das andre, nicht die Änderung lernen wir daraus. Wir mögen noch
so viel davon anschauen, diese Anschauungen bleiben doch immer rhapsodisch, ver¬
einzelt; alle Kontinuität der Übergänge fehlt. Im wahren Leben zerfällt jeder
Übergang einer Bewegung, einer Lage der Gliedmaßen in die andre in un¬
endlich viele Momente, und von diesen hat das Bild, nachdem wir etwa
studiren möchten, doch jedesmal bloß einen fixiren können. . . . Wie eine
Madonna aussieht, würde ich nimmermehr lernen, wenn ich auch die 47 000
Menschen in Leipzig und die 70 000 Menschen in Dresden alle darauf ansahe;


Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

dem „ästhetischen Dienstbuch" Fechners verzeichnet, das 1839 mit einem unter
dem Pseudonym Mises herausgegebenen Schriftchen beginnt: „Über einige Bilder
der zweiten Leipziger Kunstausstellung," welches in die 1875 erschienene Samm¬
lung der „Kleinen Schriften" von Mises mit aufgenommen wurde.

Fechner besitzt die große Gabe echter Kunstkritik, das will sagen, er ist
ganz und gar Kritiker, und man findet keinen Beisatz von Enthusiasmus in
seinem Urteil. Ohne Frage war er des Enthusiasmus sähig, er, der sich selbst
einen Träumer und Phantasten nennt; aber wenn er ein Bild bespricht, ruft
er nicht bewundernd aus, daß es schön sei, sondern zeigt, was schön ist und
warum es schön ist. Seine Besprechung läßt uns die Bilder der Ausstellung
selbst sehen; er fuhrt unsre Augen von rechts nach links und von unten nach
oben über das Bild, läßt uns zum Vergleich ans ein andres Bild schauen, kurz,
er zaubert uns die Aufstellung vor ohne »nötigen Aufwand von Worten. Dann
erst kommt das Urteil, und dessen Richtigkeit leuchtet uns ein, weil wir eben
alles gesehen haben, was für die Beurteilung maßgebend ist. Und etwas andres
als das, was man im Kunstwerke selbst sehen kann, ist für die Beurteilung des¬
selben unmaßgeblich, wie z. B. die Berufung auf klassische Vorbilder. Der
Künstler durfte kein Vorbild nachahmen; die bewunderungswürdigen Werke der
großen Meister sollen nicht Vorbilder, sondern Beispiele sein, daraus zu lernen
ist, worauf es ankommt. Das klingt wie echter Naturalismus.

So naturalistisch aber Fechners Kritik immer zu Werke geht, so sicher
wandelt sie die Bahn, welche die idealen Forderungen der Kunst vorschreiben.
Die Forderung des Naturalismus wird nur vertreten gegenüber dem falschen
Idealismus. „Es wäre Thorheit, das nicht benutzen zu wollen, was uns in
den Idealgestalten der antiken, der christlichen Bilder Übermacht worden ist; es
hieße die Goldstücke wegwerfen, die wir geerbt haben, aus Eigensinn, das Gold
selbst mit eignen Händen graben zu wollen, wozu so viele Werkzeuge und
Menschen gehört haben. Aber damit, daß wir die Goldstücke anders legen
— und was sind die meisten neuen christlichen Gemälde sonst als anders ge¬
legte Köpfe, Arme, Beine früherer Bilder —, richten wir noch nichts aus;
damit bleibt doch im Grunde alles beim alten; wir müssen sie brauchen, und
dieser Gebrauch besteht eben in ihrer Anwendung im Verkehr mit der wirklichen
Natur. In jedem alten Bilde, jeder Antike finden wir allerdings etwas andres;
aber nur das andre, nicht die Änderung lernen wir daraus. Wir mögen noch
so viel davon anschauen, diese Anschauungen bleiben doch immer rhapsodisch, ver¬
einzelt; alle Kontinuität der Übergänge fehlt. Im wahren Leben zerfällt jeder
Übergang einer Bewegung, einer Lage der Gliedmaßen in die andre in un¬
endlich viele Momente, und von diesen hat das Bild, nachdem wir etwa
studiren möchten, doch jedesmal bloß einen fixiren können. . . . Wie eine
Madonna aussieht, würde ich nimmermehr lernen, wenn ich auch die 47 000
Menschen in Leipzig und die 70 000 Menschen in Dresden alle darauf ansahe;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/124>, abgerufen am 28.07.2024.