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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zinn Andenken Gustav Theodor Fechnors.

Ein Prinzip läßt sich am einfachsten an den einfachsten Beispielen erläutern,
und demgemäß führt Fechner das Prinzip der Assoziativ" mit Hilfe der ein¬
fachsten Beispiele ein und zeigt, wie "bei fast gleichem sinnlichen Eindrucke doch
ein ganz verschiedener Totaleindruck durch die Ausmalung mit verschiedener
geistiger Farbe entstehen kann, wobei ein kleiner sinnlicher Unterschied nur nötig
ist, die verschiedene Anknüpfung zu vermitteln. Eine orangegelbe Hvlzkngcl,
Messingkugel, Goldkugcl, der Mond, alles für den Sinn nur runde, gelbe, nicht
sehr verschieden aussehende Flecke, und doch wie verschieden der Eindruck, den
sie machen!" Die Orange ist uns ein Ding von reizendem Geruch, erquickendem
Geschmack, an einem schönen Baume, in einem schonen Lande, unter einem
warmen Himmel gewachsen? wir sehen sozusagen ganz Italien mit ihr, das
Land, wohin uns von jeher eine romantische Sehnsucht zog. Aus der Er¬
innerung an alles das setzt sich die geistige Farbe zusammen, womit die sinnliche
verschönernd lasirt ist; indes der, der eine gelbe Holzkugel sieht, eben bloß
trocknes Holz hinter dem runden gelben Flecke sieht, das in der Drechsler¬
werkstatt gedreht und vom Lackirer angestrichen ist. "Vor der Goldkugel stehe"
wir mit einer Art kalifornischer Hochachtung, ganze Paläste, Kutsch und Pferde,
Bediente in Livree, schöne Reisen scheinen sich daraus zu entwickeln; die Hvlz-
kugel scheint mir zum Kollern da, und welch hohe Idealität steckt in dem
Monde!" So ist jedes Ding, mit dem wir umgehen, "für uns geistig charal-
terisirt durch eine Resultante von Erinnerungen an alles, was wir je bezüglich
dieses Dinges und selbst verwandter Dinge äußerlich und innerlich erfahren, ge¬
hört, gelesen, gedacht, gelernt haben."

Diese Einführung des Assoziationsprinzips ist charakteristisch für den Gang
der Ästhetik "von unten," die sich immer zunächst an das Nächstliegende hält,
statt einen kühnen Gedankenflug zum Gipfelpunkte des ästhetischen Bedürfnisses
zu nehmen. Der Maßstab des für das Nächstliegende zugeschnittenen Prinzips muß
erst mit den Anforderungen widerstreitender Prinzipien verglichen werden; es ist
erst zu prüfen, ob man damit alle Höhen und Tiefen des ästhetische" Bewußtseins
ausmessen kann, und nach Maßgabe dieser Höhen und Tiefen erweitern sich erst
die Zolle des Maßes zu Fußen, die Fuße zu Meilen -- endlich wird auf dem
Wege von unten nach oben doch der Gipfelpunkt erreicht werden. Wie könnte
Fechner unten oder auf halber Höhe stehen bleiben! Ist sür ihn doch die
ästhetische Betrachtungsweise die Vermittlerin zwischen der Naturforschung und
der Religion, öffnet sie doch den Eingang von der Nachtansicht der Wissenschaft
in die Tagesansicht des Glaubens/") Lassen wir ihn selbst sprechen.

"Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosenthal auf einer Bank in der
Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch
ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen



5) Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig, 1879.
Zinn Andenken Gustav Theodor Fechnors.

Ein Prinzip läßt sich am einfachsten an den einfachsten Beispielen erläutern,
und demgemäß führt Fechner das Prinzip der Assoziativ» mit Hilfe der ein¬
fachsten Beispiele ein und zeigt, wie „bei fast gleichem sinnlichen Eindrucke doch
ein ganz verschiedener Totaleindruck durch die Ausmalung mit verschiedener
geistiger Farbe entstehen kann, wobei ein kleiner sinnlicher Unterschied nur nötig
ist, die verschiedene Anknüpfung zu vermitteln. Eine orangegelbe Hvlzkngcl,
Messingkugel, Goldkugcl, der Mond, alles für den Sinn nur runde, gelbe, nicht
sehr verschieden aussehende Flecke, und doch wie verschieden der Eindruck, den
sie machen!" Die Orange ist uns ein Ding von reizendem Geruch, erquickendem
Geschmack, an einem schönen Baume, in einem schonen Lande, unter einem
warmen Himmel gewachsen? wir sehen sozusagen ganz Italien mit ihr, das
Land, wohin uns von jeher eine romantische Sehnsucht zog. Aus der Er¬
innerung an alles das setzt sich die geistige Farbe zusammen, womit die sinnliche
verschönernd lasirt ist; indes der, der eine gelbe Holzkugel sieht, eben bloß
trocknes Holz hinter dem runden gelben Flecke sieht, das in der Drechsler¬
werkstatt gedreht und vom Lackirer angestrichen ist. „Vor der Goldkugel stehe»
wir mit einer Art kalifornischer Hochachtung, ganze Paläste, Kutsch und Pferde,
Bediente in Livree, schöne Reisen scheinen sich daraus zu entwickeln; die Hvlz-
kugel scheint mir zum Kollern da, und welch hohe Idealität steckt in dem
Monde!" So ist jedes Ding, mit dem wir umgehen, „für uns geistig charal-
terisirt durch eine Resultante von Erinnerungen an alles, was wir je bezüglich
dieses Dinges und selbst verwandter Dinge äußerlich und innerlich erfahren, ge¬
hört, gelesen, gedacht, gelernt haben."

Diese Einführung des Assoziationsprinzips ist charakteristisch für den Gang
der Ästhetik „von unten," die sich immer zunächst an das Nächstliegende hält,
statt einen kühnen Gedankenflug zum Gipfelpunkte des ästhetischen Bedürfnisses
zu nehmen. Der Maßstab des für das Nächstliegende zugeschnittenen Prinzips muß
erst mit den Anforderungen widerstreitender Prinzipien verglichen werden; es ist
erst zu prüfen, ob man damit alle Höhen und Tiefen des ästhetische» Bewußtseins
ausmessen kann, und nach Maßgabe dieser Höhen und Tiefen erweitern sich erst
die Zolle des Maßes zu Fußen, die Fuße zu Meilen — endlich wird auf dem
Wege von unten nach oben doch der Gipfelpunkt erreicht werden. Wie könnte
Fechner unten oder auf halber Höhe stehen bleiben! Ist sür ihn doch die
ästhetische Betrachtungsweise die Vermittlerin zwischen der Naturforschung und
der Religion, öffnet sie doch den Eingang von der Nachtansicht der Wissenschaft
in die Tagesansicht des Glaubens/") Lassen wir ihn selbst sprechen.

„Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosenthal auf einer Bank in der
Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch
ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen



5) Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig, 1879.
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[0126] Zinn Andenken Gustav Theodor Fechnors. Ein Prinzip läßt sich am einfachsten an den einfachsten Beispielen erläutern, und demgemäß führt Fechner das Prinzip der Assoziativ» mit Hilfe der ein¬ fachsten Beispiele ein und zeigt, wie „bei fast gleichem sinnlichen Eindrucke doch ein ganz verschiedener Totaleindruck durch die Ausmalung mit verschiedener geistiger Farbe entstehen kann, wobei ein kleiner sinnlicher Unterschied nur nötig ist, die verschiedene Anknüpfung zu vermitteln. Eine orangegelbe Hvlzkngcl, Messingkugel, Goldkugcl, der Mond, alles für den Sinn nur runde, gelbe, nicht sehr verschieden aussehende Flecke, und doch wie verschieden der Eindruck, den sie machen!" Die Orange ist uns ein Ding von reizendem Geruch, erquickendem Geschmack, an einem schönen Baume, in einem schonen Lande, unter einem warmen Himmel gewachsen? wir sehen sozusagen ganz Italien mit ihr, das Land, wohin uns von jeher eine romantische Sehnsucht zog. Aus der Er¬ innerung an alles das setzt sich die geistige Farbe zusammen, womit die sinnliche verschönernd lasirt ist; indes der, der eine gelbe Holzkugel sieht, eben bloß trocknes Holz hinter dem runden gelben Flecke sieht, das in der Drechsler¬ werkstatt gedreht und vom Lackirer angestrichen ist. „Vor der Goldkugel stehe» wir mit einer Art kalifornischer Hochachtung, ganze Paläste, Kutsch und Pferde, Bediente in Livree, schöne Reisen scheinen sich daraus zu entwickeln; die Hvlz- kugel scheint mir zum Kollern da, und welch hohe Idealität steckt in dem Monde!" So ist jedes Ding, mit dem wir umgehen, „für uns geistig charal- terisirt durch eine Resultante von Erinnerungen an alles, was wir je bezüglich dieses Dinges und selbst verwandter Dinge äußerlich und innerlich erfahren, ge¬ hört, gelesen, gedacht, gelernt haben." Diese Einführung des Assoziationsprinzips ist charakteristisch für den Gang der Ästhetik „von unten," die sich immer zunächst an das Nächstliegende hält, statt einen kühnen Gedankenflug zum Gipfelpunkte des ästhetischen Bedürfnisses zu nehmen. Der Maßstab des für das Nächstliegende zugeschnittenen Prinzips muß erst mit den Anforderungen widerstreitender Prinzipien verglichen werden; es ist erst zu prüfen, ob man damit alle Höhen und Tiefen des ästhetische» Bewußtseins ausmessen kann, und nach Maßgabe dieser Höhen und Tiefen erweitern sich erst die Zolle des Maßes zu Fußen, die Fuße zu Meilen — endlich wird auf dem Wege von unten nach oben doch der Gipfelpunkt erreicht werden. Wie könnte Fechner unten oder auf halber Höhe stehen bleiben! Ist sür ihn doch die ästhetische Betrachtungsweise die Vermittlerin zwischen der Naturforschung und der Religion, öffnet sie doch den Eingang von der Nachtansicht der Wissenschaft in die Tagesansicht des Glaubens/") Lassen wir ihn selbst sprechen. „Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosenthal auf einer Bank in der Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen 5) Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig, 1879.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/126>, abgerufen am 28.07.2024.