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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

selbe" verhandelt, sich ganz in die Sache und die sachlichen Ansprüche vertiefend
und nur selten verratend, daß die eigne Überzeugung ihm lieb geworden ist.
Wenn diese schließlich die Ansicht des Geguers besiegt hat, leitet der Sieger
nicht etwa eine stürmische Verfolgung ein, um den Geschlagenen zu vernichten,
sondern die Streitkräfte werden in aller Nuhe wieder gesammelt, ihr Zustand
wird gemustert und alles für eine neue Abwehr vorbereitet. Es ist wunderbar,
wie Fechner in jeder neuen Streit- und Verteidigungsschrift die Hilfstruppen
seines Systems neu zu verteilen versteht. Der Gegner hatte die schwächste
Stelle angegriffen und glaubte, des Sieges gewiß zu sein, aber ehe er sichs
versieht, ist diese Stelle am besten verwahrt.

Wenige Monate vor seinem Tode sattelte der kampfgewvhnte Greis noch
einmal sein Streitroß, wie er selbst in dein scherzhaften Vorworte sagt mit dem
Hinzufügen: "bei meinen sechsundachtzig Jahren dürfte es das letztemal sein,"
und die Frucht dieser letzten Streitschrift*) nannte Wunde an Fechners Grabe
mit Recht "die klarste und vollendetste Darstellung des Problems, die er über¬
haupt in den beinahe vierzig Jahren gegeben hat, während deren er sich mit
demselben beschäftigte."

Die Psychvphysik Fechners weist die Psychologie auf ein Ziel, welches sie
zunächst und zuerst zu erreichen streben soll, nämlich die erschöpfende Unter¬
suchung der Veziehnngeu, welche zwischen dem Größennrteil der Empfindung
und deu aufzeigbaren Größenverhältnissen der äußern Erregnngsvorgänge be¬
stehen. Seine ästhetischen Schriften wollen in entsprechender Weise der Ästhetik
eine neue Richtung geben mit dem nächsten Ziele, die Abhängigkeit des ästhe¬
tischen Werturteils vou den Einwirkungen des sinnfälligen, welches der Beur¬
teilung unterliegt, festzustellen.

Somit ist Fechners Psychvphysik keine Psychologie und Fcchuers Ästhetik --
leine Ästhetik. Das wollen wir von vornherein den Gegnern Fechners, wozu
wohl alle Ästhetiker gehören, die Philosophen sind, zugestehen, um uns, vor
ihrem Widerspruche sicher, zu erfreuen an dem, was sie für weite Kreise der
Kunstübenden und Kuustliebendcn thatsächlich ist: eine Vorschule für jeden, der
sich über die materialen Grundlagen des ästhetischen Geschmacks unterrichten will
unter der Leitung eines durch physikalische und psychophysischc Arbeit, um sorg¬
fältige Beobachtung gewöhnten Mannes.

Die zweibändige "Vorschule der Ästhetik" erschien 1876, als Fechners erste
Schriften schon fünfzigjährige Jnbiläen hinter sich hatten. Indessen "ist es
vielmehr das Ende als der Anfang einer Beschäftigung mit ästhetischen Dingen,
"voraus diese Schrift erwachsen ist, eine Beschäftigung, die uicht immer bloß
Nebenbeschäftigung war." Eine große Anzahl einzelner Abhandlungen ist in



Über die psychischen Mnßprinzipicn und de>S Webcrsche Gesch. Philosophische Stu¬
dien IV, S. 161 bis 230. 18L7.
Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

selbe» verhandelt, sich ganz in die Sache und die sachlichen Ansprüche vertiefend
und nur selten verratend, daß die eigne Überzeugung ihm lieb geworden ist.
Wenn diese schließlich die Ansicht des Geguers besiegt hat, leitet der Sieger
nicht etwa eine stürmische Verfolgung ein, um den Geschlagenen zu vernichten,
sondern die Streitkräfte werden in aller Nuhe wieder gesammelt, ihr Zustand
wird gemustert und alles für eine neue Abwehr vorbereitet. Es ist wunderbar,
wie Fechner in jeder neuen Streit- und Verteidigungsschrift die Hilfstruppen
seines Systems neu zu verteilen versteht. Der Gegner hatte die schwächste
Stelle angegriffen und glaubte, des Sieges gewiß zu sein, aber ehe er sichs
versieht, ist diese Stelle am besten verwahrt.

Wenige Monate vor seinem Tode sattelte der kampfgewvhnte Greis noch
einmal sein Streitroß, wie er selbst in dein scherzhaften Vorworte sagt mit dem
Hinzufügen: „bei meinen sechsundachtzig Jahren dürfte es das letztemal sein,"
und die Frucht dieser letzten Streitschrift*) nannte Wunde an Fechners Grabe
mit Recht „die klarste und vollendetste Darstellung des Problems, die er über¬
haupt in den beinahe vierzig Jahren gegeben hat, während deren er sich mit
demselben beschäftigte."

Die Psychvphysik Fechners weist die Psychologie auf ein Ziel, welches sie
zunächst und zuerst zu erreichen streben soll, nämlich die erschöpfende Unter¬
suchung der Veziehnngeu, welche zwischen dem Größennrteil der Empfindung
und deu aufzeigbaren Größenverhältnissen der äußern Erregnngsvorgänge be¬
stehen. Seine ästhetischen Schriften wollen in entsprechender Weise der Ästhetik
eine neue Richtung geben mit dem nächsten Ziele, die Abhängigkeit des ästhe¬
tischen Werturteils vou den Einwirkungen des sinnfälligen, welches der Beur¬
teilung unterliegt, festzustellen.

Somit ist Fechners Psychvphysik keine Psychologie und Fcchuers Ästhetik —
leine Ästhetik. Das wollen wir von vornherein den Gegnern Fechners, wozu
wohl alle Ästhetiker gehören, die Philosophen sind, zugestehen, um uns, vor
ihrem Widerspruche sicher, zu erfreuen an dem, was sie für weite Kreise der
Kunstübenden und Kuustliebendcn thatsächlich ist: eine Vorschule für jeden, der
sich über die materialen Grundlagen des ästhetischen Geschmacks unterrichten will
unter der Leitung eines durch physikalische und psychophysischc Arbeit, um sorg¬
fältige Beobachtung gewöhnten Mannes.

Die zweibändige „Vorschule der Ästhetik" erschien 1876, als Fechners erste
Schriften schon fünfzigjährige Jnbiläen hinter sich hatten. Indessen „ist es
vielmehr das Ende als der Anfang einer Beschäftigung mit ästhetischen Dingen,
»voraus diese Schrift erwachsen ist, eine Beschäftigung, die uicht immer bloß
Nebenbeschäftigung war." Eine große Anzahl einzelner Abhandlungen ist in



Über die psychischen Mnßprinzipicn und de>S Webcrsche Gesch. Philosophische Stu¬
dien IV, S. 161 bis 230. 18L7.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/123>, abgerufen am 28.07.2024.