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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

schneidend für seine Beurteilung und zugleich höchst bezeichnend für ihren allge¬
meinen Charakter, die dicht hinter uns liegende Periode der Kunstanschauung
mit ihm vorgenommen hatte.

Offenbar heraus aus dem realistischen Gegenschlag gegen den überspannten
Spiritualismus der Romantik und die Verschrobenheit der formalen Ästhetik,
welcher die Mitte unsers Jahrhunderts charakterisirt, hat Jakob Bernays das
Katharsisproblem in einer weit über die Fachkreise hinaus berühmt gewordenen
Abhandlung neu beleuchtet; und zwar mit dem ganzen grellen, rücksichtslosen
Lichte einer durch thörichtes Geschwätz und zunehmende Verdunklung heraus¬
geforderten klaren und nüchternen Forschung. Er wies an der Hand der ihn
auszeichnenden, bis in die verlorensten Winkel der alten Litteraturen reichenden
Kenntnis nach, daß das Aristotelische Problem durch eine befangene, falsche
Interpretation erst künstlich zu einem solchen aufgebauscht sei. Aristoteles habe
gar nicht gedacht an die teils überspannt ästhetischen, teils befangen moralische"
Folgerungen, die man aus den fragmentarischen Resten seiner Theorie gezogen.
Sie bedeute getreu den naturwissenschaftlichen, ärztlichen Grundneigungen dieses
Philosophen nichts als die trocken medizinische Erkenntnis von den Wirkungen
künstlerischer Erregungen auf den menschlichen Organismus. Katharsis (griech.
Reinigung) als künstlerisches Endziel besonders der Tragödie bedeute weder
pädagogische Mäßigung noch sittlich-ästhetische Läuterung, sondern im derb medi¬
zinischen Sinne -- "Entladung."

Es läßt sich denken, daß diese noch dazu durch eine blendende Art der Be¬
weisführung bestechende Erklärung nicht ohne die beabsichtigte Wirkung blieb.
Umsomehr, als der zugleich philosophisch durchgebildete und auch mit der neuern
litterarischen Entwicklung wie wenige vertraute Bonner Philologe keinen Anstand
nahm, sich ihr auch ästhetisch anzuschließen. Eben jene berüchtigte Katharsis¬
theorie war es gewesen, welche die Stütze leihen mußte für das gespreizte, exal-
tirte klassische Drama der Franzosen, von dem uns Lessing befreite. Sie saß
mit ihren nnkünstlerischen, äußerlich moralischen Tendenzen selbst diesem noch
so tief im Blute, daß dies Goethe zu einem grundsätzlichen Widerspruche ver-
aulaßte, der aber philologisch mit der Erklärung dem vielberufenen Ausspruch
des "tragischen Höllenrichters" nicht zurecht kam. Nun war diese unentbehr¬
liche philologische Grundlage gegeben, und selbst diejenigen Altertumskenner,
welche vor ihrer ästhetischen Verwendung zurückschreckten, mußten philologisch
ihre Berechtigung, ja ihre hohe Wahrscheinlichkeit anerkennen. Wenn irgendwo
jener oben erwähnte realistische Gegenschlag notwendig und heilsam war, so war
er dies auf jenem Gebiete, welches ihn am stärksten herausgefordert hatte.
Nachdem das klassische Altertum in der Periode des Zopfes in jener Weise
kanonisirt und regulirt worden war, von dem uns die langweiligen, dressirten
Bildwerke jener Zeit den deutlichsten Begriff geben, kam die Romantik mit ihrer
Nerhimmlnng der Antike und schob ihr all die Gedanken und Empfindungen,


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

schneidend für seine Beurteilung und zugleich höchst bezeichnend für ihren allge¬
meinen Charakter, die dicht hinter uns liegende Periode der Kunstanschauung
mit ihm vorgenommen hatte.

Offenbar heraus aus dem realistischen Gegenschlag gegen den überspannten
Spiritualismus der Romantik und die Verschrobenheit der formalen Ästhetik,
welcher die Mitte unsers Jahrhunderts charakterisirt, hat Jakob Bernays das
Katharsisproblem in einer weit über die Fachkreise hinaus berühmt gewordenen
Abhandlung neu beleuchtet; und zwar mit dem ganzen grellen, rücksichtslosen
Lichte einer durch thörichtes Geschwätz und zunehmende Verdunklung heraus¬
geforderten klaren und nüchternen Forschung. Er wies an der Hand der ihn
auszeichnenden, bis in die verlorensten Winkel der alten Litteraturen reichenden
Kenntnis nach, daß das Aristotelische Problem durch eine befangene, falsche
Interpretation erst künstlich zu einem solchen aufgebauscht sei. Aristoteles habe
gar nicht gedacht an die teils überspannt ästhetischen, teils befangen moralische»
Folgerungen, die man aus den fragmentarischen Resten seiner Theorie gezogen.
Sie bedeute getreu den naturwissenschaftlichen, ärztlichen Grundneigungen dieses
Philosophen nichts als die trocken medizinische Erkenntnis von den Wirkungen
künstlerischer Erregungen auf den menschlichen Organismus. Katharsis (griech.
Reinigung) als künstlerisches Endziel besonders der Tragödie bedeute weder
pädagogische Mäßigung noch sittlich-ästhetische Läuterung, sondern im derb medi¬
zinischen Sinne — „Entladung."

Es läßt sich denken, daß diese noch dazu durch eine blendende Art der Be¬
weisführung bestechende Erklärung nicht ohne die beabsichtigte Wirkung blieb.
Umsomehr, als der zugleich philosophisch durchgebildete und auch mit der neuern
litterarischen Entwicklung wie wenige vertraute Bonner Philologe keinen Anstand
nahm, sich ihr auch ästhetisch anzuschließen. Eben jene berüchtigte Katharsis¬
theorie war es gewesen, welche die Stütze leihen mußte für das gespreizte, exal-
tirte klassische Drama der Franzosen, von dem uns Lessing befreite. Sie saß
mit ihren nnkünstlerischen, äußerlich moralischen Tendenzen selbst diesem noch
so tief im Blute, daß dies Goethe zu einem grundsätzlichen Widerspruche ver-
aulaßte, der aber philologisch mit der Erklärung dem vielberufenen Ausspruch
des „tragischen Höllenrichters" nicht zurecht kam. Nun war diese unentbehr¬
liche philologische Grundlage gegeben, und selbst diejenigen Altertumskenner,
welche vor ihrer ästhetischen Verwendung zurückschreckten, mußten philologisch
ihre Berechtigung, ja ihre hohe Wahrscheinlichkeit anerkennen. Wenn irgendwo
jener oben erwähnte realistische Gegenschlag notwendig und heilsam war, so war
er dies auf jenem Gebiete, welches ihn am stärksten herausgefordert hatte.
Nachdem das klassische Altertum in der Periode des Zopfes in jener Weise
kanonisirt und regulirt worden war, von dem uns die langweiligen, dressirten
Bildwerke jener Zeit den deutlichsten Begriff geben, kam die Romantik mit ihrer
Nerhimmlnng der Antike und schob ihr all die Gedanken und Empfindungen,


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[0647] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. schneidend für seine Beurteilung und zugleich höchst bezeichnend für ihren allge¬ meinen Charakter, die dicht hinter uns liegende Periode der Kunstanschauung mit ihm vorgenommen hatte. Offenbar heraus aus dem realistischen Gegenschlag gegen den überspannten Spiritualismus der Romantik und die Verschrobenheit der formalen Ästhetik, welcher die Mitte unsers Jahrhunderts charakterisirt, hat Jakob Bernays das Katharsisproblem in einer weit über die Fachkreise hinaus berühmt gewordenen Abhandlung neu beleuchtet; und zwar mit dem ganzen grellen, rücksichtslosen Lichte einer durch thörichtes Geschwätz und zunehmende Verdunklung heraus¬ geforderten klaren und nüchternen Forschung. Er wies an der Hand der ihn auszeichnenden, bis in die verlorensten Winkel der alten Litteraturen reichenden Kenntnis nach, daß das Aristotelische Problem durch eine befangene, falsche Interpretation erst künstlich zu einem solchen aufgebauscht sei. Aristoteles habe gar nicht gedacht an die teils überspannt ästhetischen, teils befangen moralische» Folgerungen, die man aus den fragmentarischen Resten seiner Theorie gezogen. Sie bedeute getreu den naturwissenschaftlichen, ärztlichen Grundneigungen dieses Philosophen nichts als die trocken medizinische Erkenntnis von den Wirkungen künstlerischer Erregungen auf den menschlichen Organismus. Katharsis (griech. Reinigung) als künstlerisches Endziel besonders der Tragödie bedeute weder pädagogische Mäßigung noch sittlich-ästhetische Läuterung, sondern im derb medi¬ zinischen Sinne — „Entladung." Es läßt sich denken, daß diese noch dazu durch eine blendende Art der Be¬ weisführung bestechende Erklärung nicht ohne die beabsichtigte Wirkung blieb. Umsomehr, als der zugleich philosophisch durchgebildete und auch mit der neuern litterarischen Entwicklung wie wenige vertraute Bonner Philologe keinen Anstand nahm, sich ihr auch ästhetisch anzuschließen. Eben jene berüchtigte Katharsis¬ theorie war es gewesen, welche die Stütze leihen mußte für das gespreizte, exal- tirte klassische Drama der Franzosen, von dem uns Lessing befreite. Sie saß mit ihren nnkünstlerischen, äußerlich moralischen Tendenzen selbst diesem noch so tief im Blute, daß dies Goethe zu einem grundsätzlichen Widerspruche ver- aulaßte, der aber philologisch mit der Erklärung dem vielberufenen Ausspruch des „tragischen Höllenrichters" nicht zurecht kam. Nun war diese unentbehr¬ liche philologische Grundlage gegeben, und selbst diejenigen Altertumskenner, welche vor ihrer ästhetischen Verwendung zurückschreckten, mußten philologisch ihre Berechtigung, ja ihre hohe Wahrscheinlichkeit anerkennen. Wenn irgendwo jener oben erwähnte realistische Gegenschlag notwendig und heilsam war, so war er dies auf jenem Gebiete, welches ihn am stärksten herausgefordert hatte. Nachdem das klassische Altertum in der Periode des Zopfes in jener Weise kanonisirt und regulirt worden war, von dem uns die langweiligen, dressirten Bildwerke jener Zeit den deutlichsten Begriff geben, kam die Romantik mit ihrer Nerhimmlnng der Antike und schob ihr all die Gedanken und Empfindungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/647>, abgerufen am 28.09.2024.