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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorie!! und Theorie der Poesie.

Die streitbare Natur der Poetik ist uns wieder recht lebhaft vor Augen
getreten bei der Durchsicht ihres neuesten Erzeugnisses, des Handbuchs der
Poetik von Hermann Baumgart.*) Es ging uns mit dieser Seite des Buches
ähnlich wie Macaulay bei der Beurteilung einer historischen Spezialschrift, deren
Titel eine Art Vorrede, deren Vorwort ein kleines Buch und deren sechs mächtige
Bände eine stattliche Handbibliothek darstellten. Wir erwarteten beinahe von
einem "Handbuch der Poetik" eine Fortsetzung der langen Reihe alljährlich
pünktlich sich einstellender Poetiken für den allgemeinen deutschen Reimverein,
der von Riga bis Bozen die zartgestimmten Herzen deutscher Jünglinge und
Jungfrauen im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren umschlingt. Aber siehe da,
wir fanden einen "kritisch-historischen" Titel, ein Vorwort mit einem "metaphysisch¬
streitbaren" Dialog und einen Band Großoktav von rundum 800 Seiten, welche
dem gebildeten Publikum recht wohl eine ganze Bibliothek philologischer Kampf¬
litteratur ersetzen könnten. Was aber an dem Buche gegenwärtig am allerstreit-
barsten erscheint, das ist die Gesamtanschauung, die wissenschaftliche Persön¬
lichkeit des Verfassers. Es bildet wieder einmal einen lehrreichen Beleg für
den alten Satz, daß, wo irgend ein Extrem auftritt, das entgegengesetzte nicht
allzufern sein kann. Kaum sind wir bei der oben berührten "exakten" "national-
ökonomischen" Poetik angelangt, so reitet richtig vom Nordosten her, wohin es
das neunzehnte Jahrhundert zurückgedrängt hat, ein Verfechter des meist um¬
strittenen, deutungsreichsten, aber darum sicher auch einflußreichsten Kunstprin¬
zips auf den Plan, ein Ritter des Aristotelismus und dazu gleich ein wahrer
Bayard.

Hermann Baumgart hat sich in der klassischen Philologie als Aristoteliker
einen Namen gemacht, bei jenem allgemein wichtigen Problem, welches Aristoteles
mit seiner Theorie der tragischen Katharsis angeregt und welches seitdem nicht
mehr geruht hat, wo und wie auch immer kunstphilosvphische, insbesondere poe¬
tische, dramatische Fragen erörtert wurden. Für Baumgart scheint es eine Art
Lebensaufgabe geworden zu sein. Er ist darauf eingegangen in philologischen
Zeitschriften, Monographien, allgemeinen Büchern. Nun legt er uns eine ganze
Poetik auf den Tisch, dickleibig und alle Frage" behandelnd. Aber was ist der
Kern des Buches, die Frage, um die sich alles dreht und für die das ganze
Buch nur Schale zu sein scheint? Lsmxsr latein, die tragische Katharsis, und
zwar speziell Baumgarts tragische Katharsis.

Diese Beharrlichkeit fordert vor ihrer Anerkennung zunächst eine Erklärung.
Es ist uicht bloß die allgemeine Bedeutsamkeit des Katharsisproblems, die sie
bedingt. Sie ist herausgefordert durch eine Fassung desselben, welche, ein-



*) Handbuch der Pueril. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dicht¬
kunst von Dr. Hermann Baum gard, Professor an der Universität Königsberg i. Pr. Stutt¬
gart, Cotta, 1887.
Poetische Theorie!! und Theorie der Poesie.

Die streitbare Natur der Poetik ist uns wieder recht lebhaft vor Augen
getreten bei der Durchsicht ihres neuesten Erzeugnisses, des Handbuchs der
Poetik von Hermann Baumgart.*) Es ging uns mit dieser Seite des Buches
ähnlich wie Macaulay bei der Beurteilung einer historischen Spezialschrift, deren
Titel eine Art Vorrede, deren Vorwort ein kleines Buch und deren sechs mächtige
Bände eine stattliche Handbibliothek darstellten. Wir erwarteten beinahe von
einem „Handbuch der Poetik" eine Fortsetzung der langen Reihe alljährlich
pünktlich sich einstellender Poetiken für den allgemeinen deutschen Reimverein,
der von Riga bis Bozen die zartgestimmten Herzen deutscher Jünglinge und
Jungfrauen im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren umschlingt. Aber siehe da,
wir fanden einen „kritisch-historischen" Titel, ein Vorwort mit einem „metaphysisch¬
streitbaren" Dialog und einen Band Großoktav von rundum 800 Seiten, welche
dem gebildeten Publikum recht wohl eine ganze Bibliothek philologischer Kampf¬
litteratur ersetzen könnten. Was aber an dem Buche gegenwärtig am allerstreit-
barsten erscheint, das ist die Gesamtanschauung, die wissenschaftliche Persön¬
lichkeit des Verfassers. Es bildet wieder einmal einen lehrreichen Beleg für
den alten Satz, daß, wo irgend ein Extrem auftritt, das entgegengesetzte nicht
allzufern sein kann. Kaum sind wir bei der oben berührten „exakten" „national-
ökonomischen" Poetik angelangt, so reitet richtig vom Nordosten her, wohin es
das neunzehnte Jahrhundert zurückgedrängt hat, ein Verfechter des meist um¬
strittenen, deutungsreichsten, aber darum sicher auch einflußreichsten Kunstprin¬
zips auf den Plan, ein Ritter des Aristotelismus und dazu gleich ein wahrer
Bayard.

Hermann Baumgart hat sich in der klassischen Philologie als Aristoteliker
einen Namen gemacht, bei jenem allgemein wichtigen Problem, welches Aristoteles
mit seiner Theorie der tragischen Katharsis angeregt und welches seitdem nicht
mehr geruht hat, wo und wie auch immer kunstphilosvphische, insbesondere poe¬
tische, dramatische Fragen erörtert wurden. Für Baumgart scheint es eine Art
Lebensaufgabe geworden zu sein. Er ist darauf eingegangen in philologischen
Zeitschriften, Monographien, allgemeinen Büchern. Nun legt er uns eine ganze
Poetik auf den Tisch, dickleibig und alle Frage» behandelnd. Aber was ist der
Kern des Buches, die Frage, um die sich alles dreht und für die das ganze
Buch nur Schale zu sein scheint? Lsmxsr latein, die tragische Katharsis, und
zwar speziell Baumgarts tragische Katharsis.

Diese Beharrlichkeit fordert vor ihrer Anerkennung zunächst eine Erklärung.
Es ist uicht bloß die allgemeine Bedeutsamkeit des Katharsisproblems, die sie
bedingt. Sie ist herausgefordert durch eine Fassung desselben, welche, ein-



*) Handbuch der Pueril. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dicht¬
kunst von Dr. Hermann Baum gard, Professor an der Universität Königsberg i. Pr. Stutt¬
gart, Cotta, 1887.
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[0646] Poetische Theorie!! und Theorie der Poesie. Die streitbare Natur der Poetik ist uns wieder recht lebhaft vor Augen getreten bei der Durchsicht ihres neuesten Erzeugnisses, des Handbuchs der Poetik von Hermann Baumgart.*) Es ging uns mit dieser Seite des Buches ähnlich wie Macaulay bei der Beurteilung einer historischen Spezialschrift, deren Titel eine Art Vorrede, deren Vorwort ein kleines Buch und deren sechs mächtige Bände eine stattliche Handbibliothek darstellten. Wir erwarteten beinahe von einem „Handbuch der Poetik" eine Fortsetzung der langen Reihe alljährlich pünktlich sich einstellender Poetiken für den allgemeinen deutschen Reimverein, der von Riga bis Bozen die zartgestimmten Herzen deutscher Jünglinge und Jungfrauen im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren umschlingt. Aber siehe da, wir fanden einen „kritisch-historischen" Titel, ein Vorwort mit einem „metaphysisch¬ streitbaren" Dialog und einen Band Großoktav von rundum 800 Seiten, welche dem gebildeten Publikum recht wohl eine ganze Bibliothek philologischer Kampf¬ litteratur ersetzen könnten. Was aber an dem Buche gegenwärtig am allerstreit- barsten erscheint, das ist die Gesamtanschauung, die wissenschaftliche Persön¬ lichkeit des Verfassers. Es bildet wieder einmal einen lehrreichen Beleg für den alten Satz, daß, wo irgend ein Extrem auftritt, das entgegengesetzte nicht allzufern sein kann. Kaum sind wir bei der oben berührten „exakten" „national- ökonomischen" Poetik angelangt, so reitet richtig vom Nordosten her, wohin es das neunzehnte Jahrhundert zurückgedrängt hat, ein Verfechter des meist um¬ strittenen, deutungsreichsten, aber darum sicher auch einflußreichsten Kunstprin¬ zips auf den Plan, ein Ritter des Aristotelismus und dazu gleich ein wahrer Bayard. Hermann Baumgart hat sich in der klassischen Philologie als Aristoteliker einen Namen gemacht, bei jenem allgemein wichtigen Problem, welches Aristoteles mit seiner Theorie der tragischen Katharsis angeregt und welches seitdem nicht mehr geruht hat, wo und wie auch immer kunstphilosvphische, insbesondere poe¬ tische, dramatische Fragen erörtert wurden. Für Baumgart scheint es eine Art Lebensaufgabe geworden zu sein. Er ist darauf eingegangen in philologischen Zeitschriften, Monographien, allgemeinen Büchern. Nun legt er uns eine ganze Poetik auf den Tisch, dickleibig und alle Frage» behandelnd. Aber was ist der Kern des Buches, die Frage, um die sich alles dreht und für die das ganze Buch nur Schale zu sein scheint? Lsmxsr latein, die tragische Katharsis, und zwar speziell Baumgarts tragische Katharsis. Diese Beharrlichkeit fordert vor ihrer Anerkennung zunächst eine Erklärung. Es ist uicht bloß die allgemeine Bedeutsamkeit des Katharsisproblems, die sie bedingt. Sie ist herausgefordert durch eine Fassung desselben, welche, ein- *) Handbuch der Pueril. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dicht¬ kunst von Dr. Hermann Baum gard, Professor an der Universität Königsberg i. Pr. Stutt¬ gart, Cotta, 1887.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/646>, abgerufen am 28.09.2024.