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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

all den Geist und Übergeist unter, von dem sie selbst beseelt war. Die Ver¬
einigung dieser Anschauungsformen war es, welche die realistische Opposition,
und zwar bezeichnenderweise zuerst gerade in der klassischen Philologie selbst,
herausforderte. Es that wieder einmal Not, die Alten zu sehen, wie sie waren.
Und die Alten sind einfach wie die Natur, sodaß von ihnen wie von ihr jenes
Wort Goethes gilt: Es ärgert die Leute, daß sie so einfach sind. Wie sie in
ihrer Kunst bereits den ganzen Anschauungskreis des Menschlichen umspannt,
aber doch bei weitem nicht erschöpft hatten, so waren sie in ihrer Philosophie
so ziemlich allen Problemen auf die Spur gekommen, ohne sie jedoch damit zu
erledigen. Und namentlich des Aristoteles großer Vorzug ist es ja, überall
rein auf das Phänomen hinzudeuten, ohne etwas zu seiner richtigen Auffassung
(und damit auch zu seiner Verwirrung) zu thun. Zuversichtlich ist dies also
auch mit dem allen fühlenden Menschen so wohl bekannten Katharsisphänomen
der Fall, und es war ein großes Verdienst von Bernays, die Aristotelische An¬
schauung desselben in ihrer Reinheit hingestellt zu haben. Diese stellte sich dem
(durch seine Folgen gekennzeichneten) Mißbrauch des Problems scharf entgegen,
hindert aber keineswegs seine tiefere Erfassung. Eine solche nun hat Bernays
allerdings nicht gegeben, ja man kann sogar sagen, daß er sie geflissentlich ablehnt,
sodaß nnn die Gefahr eines gegenteiligen Mißbrauchs vorliegt, die noch viel
schlimmer ist als die beseitigte. Es liegt nur an der bekannten theoretischen
"UnVerdorbenheit" unsers modernen Naturalismus, daß er sich dies noch nicht
mehr zu nütze gemacht hat, obwohl Ansätze dazu heutzutage in jeder beliebigen
kritischen Äußerung gefunden werden können. Diese Quelle erneuten Irrtums
zu verstopfen, war also ein löbliches Beginnen, nur Hütte es anders angefaßt
werden indessen, als von der philologischen Seite.

Hier aber versuchte es Baumgart, und daher hat sein hartnäckiger Kampf
bei aller Sympathie, die er einflößt, etwas peinliches. Baumgart ist gezwungen,
aus die Lessingsche moralische Erklärung zurückzugreifen und mit ihr die Goethische
entgegengesetzte Auffassung zu verquicken, also jenes synkretistische Verfahren ein¬
zuschlagen, welches in theoretischen Dingen alles und alle gegen sich hat. Daß
Aristoteles von all diesen Subtilitäten noch gänzlich frei ist, vermag er nicht
einzusehen, da Aristoteles für ihn alles Denkbare in sich begreift; und daß die
tiefste Fassung der Katharsis gerade bei Kant und Schiller bereit liegt für jeden,
der hingreifen will, das will er nicht zugeben, weil er Spiritualist nach seiner
ganzen Geistesanlage ist und in Goethe sich seinen besondern Heiligen hierfür
zurechtgemacht hat. In seiner Katharsis verteidigt Hermann Baumgart also
zugleich seinen Aristoteles und seinen Goethe, und man darf vermuten, daß diese
sich im Kopfe eines Spiritualisten anders als sonst in Menschenköpfen heutzu¬
tage spiegeln. Und da Aristoteles und Goethe der Menschheit nachgerade zu
Vertretern der dichterischen Theorie und Praxis an sich geworden sind, so ver¬
teidigt er damit auch seine ganze "Theorie der Dichtung." Einen "Spiritua-


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

all den Geist und Übergeist unter, von dem sie selbst beseelt war. Die Ver¬
einigung dieser Anschauungsformen war es, welche die realistische Opposition,
und zwar bezeichnenderweise zuerst gerade in der klassischen Philologie selbst,
herausforderte. Es that wieder einmal Not, die Alten zu sehen, wie sie waren.
Und die Alten sind einfach wie die Natur, sodaß von ihnen wie von ihr jenes
Wort Goethes gilt: Es ärgert die Leute, daß sie so einfach sind. Wie sie in
ihrer Kunst bereits den ganzen Anschauungskreis des Menschlichen umspannt,
aber doch bei weitem nicht erschöpft hatten, so waren sie in ihrer Philosophie
so ziemlich allen Problemen auf die Spur gekommen, ohne sie jedoch damit zu
erledigen. Und namentlich des Aristoteles großer Vorzug ist es ja, überall
rein auf das Phänomen hinzudeuten, ohne etwas zu seiner richtigen Auffassung
(und damit auch zu seiner Verwirrung) zu thun. Zuversichtlich ist dies also
auch mit dem allen fühlenden Menschen so wohl bekannten Katharsisphänomen
der Fall, und es war ein großes Verdienst von Bernays, die Aristotelische An¬
schauung desselben in ihrer Reinheit hingestellt zu haben. Diese stellte sich dem
(durch seine Folgen gekennzeichneten) Mißbrauch des Problems scharf entgegen,
hindert aber keineswegs seine tiefere Erfassung. Eine solche nun hat Bernays
allerdings nicht gegeben, ja man kann sogar sagen, daß er sie geflissentlich ablehnt,
sodaß nnn die Gefahr eines gegenteiligen Mißbrauchs vorliegt, die noch viel
schlimmer ist als die beseitigte. Es liegt nur an der bekannten theoretischen
„UnVerdorbenheit" unsers modernen Naturalismus, daß er sich dies noch nicht
mehr zu nütze gemacht hat, obwohl Ansätze dazu heutzutage in jeder beliebigen
kritischen Äußerung gefunden werden können. Diese Quelle erneuten Irrtums
zu verstopfen, war also ein löbliches Beginnen, nur Hütte es anders angefaßt
werden indessen, als von der philologischen Seite.

Hier aber versuchte es Baumgart, und daher hat sein hartnäckiger Kampf
bei aller Sympathie, die er einflößt, etwas peinliches. Baumgart ist gezwungen,
aus die Lessingsche moralische Erklärung zurückzugreifen und mit ihr die Goethische
entgegengesetzte Auffassung zu verquicken, also jenes synkretistische Verfahren ein¬
zuschlagen, welches in theoretischen Dingen alles und alle gegen sich hat. Daß
Aristoteles von all diesen Subtilitäten noch gänzlich frei ist, vermag er nicht
einzusehen, da Aristoteles für ihn alles Denkbare in sich begreift; und daß die
tiefste Fassung der Katharsis gerade bei Kant und Schiller bereit liegt für jeden,
der hingreifen will, das will er nicht zugeben, weil er Spiritualist nach seiner
ganzen Geistesanlage ist und in Goethe sich seinen besondern Heiligen hierfür
zurechtgemacht hat. In seiner Katharsis verteidigt Hermann Baumgart also
zugleich seinen Aristoteles und seinen Goethe, und man darf vermuten, daß diese
sich im Kopfe eines Spiritualisten anders als sonst in Menschenköpfen heutzu¬
tage spiegeln. Und da Aristoteles und Goethe der Menschheit nachgerade zu
Vertretern der dichterischen Theorie und Praxis an sich geworden sind, so ver¬
teidigt er damit auch seine ganze „Theorie der Dichtung." Einen „Spiritua-


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[0648] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. all den Geist und Übergeist unter, von dem sie selbst beseelt war. Die Ver¬ einigung dieser Anschauungsformen war es, welche die realistische Opposition, und zwar bezeichnenderweise zuerst gerade in der klassischen Philologie selbst, herausforderte. Es that wieder einmal Not, die Alten zu sehen, wie sie waren. Und die Alten sind einfach wie die Natur, sodaß von ihnen wie von ihr jenes Wort Goethes gilt: Es ärgert die Leute, daß sie so einfach sind. Wie sie in ihrer Kunst bereits den ganzen Anschauungskreis des Menschlichen umspannt, aber doch bei weitem nicht erschöpft hatten, so waren sie in ihrer Philosophie so ziemlich allen Problemen auf die Spur gekommen, ohne sie jedoch damit zu erledigen. Und namentlich des Aristoteles großer Vorzug ist es ja, überall rein auf das Phänomen hinzudeuten, ohne etwas zu seiner richtigen Auffassung (und damit auch zu seiner Verwirrung) zu thun. Zuversichtlich ist dies also auch mit dem allen fühlenden Menschen so wohl bekannten Katharsisphänomen der Fall, und es war ein großes Verdienst von Bernays, die Aristotelische An¬ schauung desselben in ihrer Reinheit hingestellt zu haben. Diese stellte sich dem (durch seine Folgen gekennzeichneten) Mißbrauch des Problems scharf entgegen, hindert aber keineswegs seine tiefere Erfassung. Eine solche nun hat Bernays allerdings nicht gegeben, ja man kann sogar sagen, daß er sie geflissentlich ablehnt, sodaß nnn die Gefahr eines gegenteiligen Mißbrauchs vorliegt, die noch viel schlimmer ist als die beseitigte. Es liegt nur an der bekannten theoretischen „UnVerdorbenheit" unsers modernen Naturalismus, daß er sich dies noch nicht mehr zu nütze gemacht hat, obwohl Ansätze dazu heutzutage in jeder beliebigen kritischen Äußerung gefunden werden können. Diese Quelle erneuten Irrtums zu verstopfen, war also ein löbliches Beginnen, nur Hütte es anders angefaßt werden indessen, als von der philologischen Seite. Hier aber versuchte es Baumgart, und daher hat sein hartnäckiger Kampf bei aller Sympathie, die er einflößt, etwas peinliches. Baumgart ist gezwungen, aus die Lessingsche moralische Erklärung zurückzugreifen und mit ihr die Goethische entgegengesetzte Auffassung zu verquicken, also jenes synkretistische Verfahren ein¬ zuschlagen, welches in theoretischen Dingen alles und alle gegen sich hat. Daß Aristoteles von all diesen Subtilitäten noch gänzlich frei ist, vermag er nicht einzusehen, da Aristoteles für ihn alles Denkbare in sich begreift; und daß die tiefste Fassung der Katharsis gerade bei Kant und Schiller bereit liegt für jeden, der hingreifen will, das will er nicht zugeben, weil er Spiritualist nach seiner ganzen Geistesanlage ist und in Goethe sich seinen besondern Heiligen hierfür zurechtgemacht hat. In seiner Katharsis verteidigt Hermann Baumgart also zugleich seinen Aristoteles und seinen Goethe, und man darf vermuten, daß diese sich im Kopfe eines Spiritualisten anders als sonst in Menschenköpfen heutzu¬ tage spiegeln. Und da Aristoteles und Goethe der Menschheit nachgerade zu Vertretern der dichterischen Theorie und Praxis an sich geworden sind, so ver¬ teidigt er damit auch seine ganze „Theorie der Dichtung." Einen „Spiritua-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/648>, abgerufen am 28.09.2024.