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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von

Staates drückt sich im ersten Satze aus. Es läßt sich schwerlich leugnen, daß
diese irrtümliche Auffassung wesentlich mitgewirkt hat zu jener von konservativer
Seite so bitter verspotteten Vorliebe für Kodifikation der Staatsgrnndgesetze,
für jene treugläubige Meinung, daß so und so viel sauber zusammengestellte
Paragraphen eine "Verfassung" ausmachten, während Preußen unter Friedrich
dem Großen ein verfassungsloser Staat gewesen sei. Man meinte, die beste
Staatsverfassung müsse sich machen lassen, wenn man nur vor die richtige
Schmiede käme. Der zweite Grundsatz, von welchem die revolutionäre Lehre
ausging, läßt sich in die Worte fassen: Der Staat kennt nur Bürger, welche
vor dem Rechte gleich sind. Jedes Recht eines Bürgers vor dem andern oder
über den andern, sofern es nicht auf staatlich übertragener Pflichtleistung beruht,
ist verwerflich. Aus diesem Grundsatz floß die Zerstörung der aus der ältern
Zeit überkommenen gesellschaftlichen Gliederung, die Feindschaft gegen bevor¬
rechtete Körperschaften und Stände. Das französische Beispiel mag in Deutsch¬
land dazu beigetragen haben, daß diese Gegnerschaft oft über das Ziel hinaus¬
schoß, im großen und ganzen beruhte auch sie nicht auf Doktrin, sondern auf
wirtschaftlichen Interessen. Überdies hatte die einheimische Entwicklung auch
unter der Herrschaft des fürstlichen Absolutismus bedeutende Schritte gethan
zur Annäherung an die staatsbürgerliche Gleichheit. Was nun die letzte Schlu߬
folgerung der revolutionären Anschauung betrifft, welche in dem Satze gipfelt:
Jede Obrigkeit ist vom Volke abgeordnet, so hat diese auch bei denjenigen
Liberalen Deutschlands, welche den wechselnden Parlamentsmehrheiten die Ent¬
scheidung im Staate zuerkennen wollten und in der parlamentarischen Negierung
ihr Ideal erblickten, niemals dauernd Anklang gefunden. Solche Lehren waren
fiir die große Mehrheit des deutschen Bürgerstandes nur Blasen, welche irgend
eine lebhaftere Beunruhigung der öffentlichen Zustände an die Oberfläche treiben
mochte. Das selbständige Recht der Obrigkeit als einer gottgewollten, in der
sittlichen Weltordnung begründeten Einrichtung ist von der Denkweise des deutschen
Bürgertums stets anerkannt worden. Ja man kann sagen, da in diesem Bürger¬
tum der Glaube an eine sittliche Weltordnung stets lebendig geblieben ist, so
ist von seiner Seite, wenigstens unbewußt, immer gegen die naturrechtliche Lehre
von der souveränen Willkür des Menschen Verwahrung eingelegt worden.

Von dem wissenschaftlichen Rückschläge, der schon zu Anfang des neun¬
zehnten Jahrhunderts gegen die vernunftrechtlichen Lehren des vorangegangenen
erfolgte, ist bisher noch nicht die Rede gewesen. Im schroffsten Gegensatze zu
dem Selbstvertrauen der Aufklärungszeit, welches stets bereit war, die vor¬
trefflichsten Staatsverfassungen auf Bestellung zu liefern, kam eine Schule auf,
welche den Beruf der Zeit zu bewußter und umfassender Rechtsbildung geradezu
leugnete. Lange Zeit hatte man das Heil nur von der freien That des Meuschen
erwartet, jetzt verlangte man vor allem die Selbstbescheidung, den still-rätsel¬
vollen Werdegang der Geschichte zu verfolgen, um aus geduldigster Beobachtung


Die Ideen von

Staates drückt sich im ersten Satze aus. Es läßt sich schwerlich leugnen, daß
diese irrtümliche Auffassung wesentlich mitgewirkt hat zu jener von konservativer
Seite so bitter verspotteten Vorliebe für Kodifikation der Staatsgrnndgesetze,
für jene treugläubige Meinung, daß so und so viel sauber zusammengestellte
Paragraphen eine „Verfassung" ausmachten, während Preußen unter Friedrich
dem Großen ein verfassungsloser Staat gewesen sei. Man meinte, die beste
Staatsverfassung müsse sich machen lassen, wenn man nur vor die richtige
Schmiede käme. Der zweite Grundsatz, von welchem die revolutionäre Lehre
ausging, läßt sich in die Worte fassen: Der Staat kennt nur Bürger, welche
vor dem Rechte gleich sind. Jedes Recht eines Bürgers vor dem andern oder
über den andern, sofern es nicht auf staatlich übertragener Pflichtleistung beruht,
ist verwerflich. Aus diesem Grundsatz floß die Zerstörung der aus der ältern
Zeit überkommenen gesellschaftlichen Gliederung, die Feindschaft gegen bevor¬
rechtete Körperschaften und Stände. Das französische Beispiel mag in Deutsch¬
land dazu beigetragen haben, daß diese Gegnerschaft oft über das Ziel hinaus¬
schoß, im großen und ganzen beruhte auch sie nicht auf Doktrin, sondern auf
wirtschaftlichen Interessen. Überdies hatte die einheimische Entwicklung auch
unter der Herrschaft des fürstlichen Absolutismus bedeutende Schritte gethan
zur Annäherung an die staatsbürgerliche Gleichheit. Was nun die letzte Schlu߬
folgerung der revolutionären Anschauung betrifft, welche in dem Satze gipfelt:
Jede Obrigkeit ist vom Volke abgeordnet, so hat diese auch bei denjenigen
Liberalen Deutschlands, welche den wechselnden Parlamentsmehrheiten die Ent¬
scheidung im Staate zuerkennen wollten und in der parlamentarischen Negierung
ihr Ideal erblickten, niemals dauernd Anklang gefunden. Solche Lehren waren
fiir die große Mehrheit des deutschen Bürgerstandes nur Blasen, welche irgend
eine lebhaftere Beunruhigung der öffentlichen Zustände an die Oberfläche treiben
mochte. Das selbständige Recht der Obrigkeit als einer gottgewollten, in der
sittlichen Weltordnung begründeten Einrichtung ist von der Denkweise des deutschen
Bürgertums stets anerkannt worden. Ja man kann sagen, da in diesem Bürger¬
tum der Glaube an eine sittliche Weltordnung stets lebendig geblieben ist, so
ist von seiner Seite, wenigstens unbewußt, immer gegen die naturrechtliche Lehre
von der souveränen Willkür des Menschen Verwahrung eingelegt worden.

Von dem wissenschaftlichen Rückschläge, der schon zu Anfang des neun¬
zehnten Jahrhunderts gegen die vernunftrechtlichen Lehren des vorangegangenen
erfolgte, ist bisher noch nicht die Rede gewesen. Im schroffsten Gegensatze zu
dem Selbstvertrauen der Aufklärungszeit, welches stets bereit war, die vor¬
trefflichsten Staatsverfassungen auf Bestellung zu liefern, kam eine Schule auf,
welche den Beruf der Zeit zu bewußter und umfassender Rechtsbildung geradezu
leugnete. Lange Zeit hatte man das Heil nur von der freien That des Meuschen
erwartet, jetzt verlangte man vor allem die Selbstbescheidung, den still-rätsel¬
vollen Werdegang der Geschichte zu verfolgen, um aus geduldigster Beobachtung


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[0640] Die Ideen von Staates drückt sich im ersten Satze aus. Es läßt sich schwerlich leugnen, daß diese irrtümliche Auffassung wesentlich mitgewirkt hat zu jener von konservativer Seite so bitter verspotteten Vorliebe für Kodifikation der Staatsgrnndgesetze, für jene treugläubige Meinung, daß so und so viel sauber zusammengestellte Paragraphen eine „Verfassung" ausmachten, während Preußen unter Friedrich dem Großen ein verfassungsloser Staat gewesen sei. Man meinte, die beste Staatsverfassung müsse sich machen lassen, wenn man nur vor die richtige Schmiede käme. Der zweite Grundsatz, von welchem die revolutionäre Lehre ausging, läßt sich in die Worte fassen: Der Staat kennt nur Bürger, welche vor dem Rechte gleich sind. Jedes Recht eines Bürgers vor dem andern oder über den andern, sofern es nicht auf staatlich übertragener Pflichtleistung beruht, ist verwerflich. Aus diesem Grundsatz floß die Zerstörung der aus der ältern Zeit überkommenen gesellschaftlichen Gliederung, die Feindschaft gegen bevor¬ rechtete Körperschaften und Stände. Das französische Beispiel mag in Deutsch¬ land dazu beigetragen haben, daß diese Gegnerschaft oft über das Ziel hinaus¬ schoß, im großen und ganzen beruhte auch sie nicht auf Doktrin, sondern auf wirtschaftlichen Interessen. Überdies hatte die einheimische Entwicklung auch unter der Herrschaft des fürstlichen Absolutismus bedeutende Schritte gethan zur Annäherung an die staatsbürgerliche Gleichheit. Was nun die letzte Schlu߬ folgerung der revolutionären Anschauung betrifft, welche in dem Satze gipfelt: Jede Obrigkeit ist vom Volke abgeordnet, so hat diese auch bei denjenigen Liberalen Deutschlands, welche den wechselnden Parlamentsmehrheiten die Ent¬ scheidung im Staate zuerkennen wollten und in der parlamentarischen Negierung ihr Ideal erblickten, niemals dauernd Anklang gefunden. Solche Lehren waren fiir die große Mehrheit des deutschen Bürgerstandes nur Blasen, welche irgend eine lebhaftere Beunruhigung der öffentlichen Zustände an die Oberfläche treiben mochte. Das selbständige Recht der Obrigkeit als einer gottgewollten, in der sittlichen Weltordnung begründeten Einrichtung ist von der Denkweise des deutschen Bürgertums stets anerkannt worden. Ja man kann sagen, da in diesem Bürger¬ tum der Glaube an eine sittliche Weltordnung stets lebendig geblieben ist, so ist von seiner Seite, wenigstens unbewußt, immer gegen die naturrechtliche Lehre von der souveränen Willkür des Menschen Verwahrung eingelegt worden. Von dem wissenschaftlichen Rückschläge, der schon zu Anfang des neun¬ zehnten Jahrhunderts gegen die vernunftrechtlichen Lehren des vorangegangenen erfolgte, ist bisher noch nicht die Rede gewesen. Im schroffsten Gegensatze zu dem Selbstvertrauen der Aufklärungszeit, welches stets bereit war, die vor¬ trefflichsten Staatsverfassungen auf Bestellung zu liefern, kam eine Schule auf, welche den Beruf der Zeit zu bewußter und umfassender Rechtsbildung geradezu leugnete. Lange Zeit hatte man das Heil nur von der freien That des Meuschen erwartet, jetzt verlangte man vor allem die Selbstbescheidung, den still-rätsel¬ vollen Werdegang der Geschichte zu verfolgen, um aus geduldigster Beobachtung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/640>, abgerufen am 28.09.2024.