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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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vorsichtige Schlüsse zu ziehen. Auf eine höhere Stufe erhob sodann Hegel die
geschichtliche Betrachtung, indem er das Prinzip der Entwicklung zum Kern
seines weltumspannenden Gedankensystems machte. So viel ungenießbare Scho¬
lastik der Darstellung der Hegelschen Gedanken beigemischt sein mag, el" ewiger
Besitz wird es bleiben für die Wissenschaft von den sittlichen Verhältnissen des
Menschen, das; bei ihm die Vernunft nicht starres Einerlei formaler Prinzipien
bleibt, sondern, dem Weltprozeß entsprechend, an welchem sie sich bethätigt,
lebendige Bewegung; daß sodann das Vernünftige nicht mehr allein sich her¬
leitet aus dem subjektiven Denken des Einzelnen, sondern ebenso sehr, ja wohl
in noch Höheren Grade, aus der Objektivirung des Geistes in den Lebensformen
der sittlichen Welt, in welchen und durch welche er sich entwickelt. Von diesen
Gedanken ist die ganze moderne Anschauung durchdrungen. Nicht um Spinn¬
gewebe der Spekulation handelt es sich hier, sondern auch in Kreisen, in welchen
der Gedanke der Zeit in dämmernde Ahnung zerfließen mag, liegt dem Urteil
über staatliches Handeln die Anschauung zu Grunde, daß, was gefordert wird,
ein richtiges Jneinanderbilden von Vernunft und Wirklichkeit sei. Einerseits
durch eindringendes Studium des Thatsächlichen das Gesetz seiner Entwicklung
zu erkennen, anderseits vom Ideal aus auf die Fortbildung des Wirklichen,
seinem innern Lebensgesetze gemäß, einzuwirken, dies sind die beiden Pole unsrer
geistigen Bethätigung, für welche die Zeit allenthalben gleichmäßige Berück¬
sichtigung verlangt. An solcher Betrachtungs- und Behandlungsweise der staat¬
lichen Dinge ist die Erkenntnis gereift, daß der Staat in seiner Vollendung
national sein müsse. Die Staats- und Rechtslehre nimmt zum Ausgangspunkte
den Staats- und Volksgeist in seiner geschichtlichen Offenbarung.

Deutschland ist vorangegangen in der Überwindung der einseitigen Ideen
des vorigen Jahrhunderts durch eine vertiefte Betrachtung der Welt und des
Geistes. Aber auch in Frankreich hat sich die gleichermaßen philosophische und
geschichtliche Anschauungsweise in jüngster Zeit Bahn gebrochen. Mit der
Klarheit und dem praktischen Geschick, wodurch die Franzosen sich auszeichnen,
haben sich mehrere ihrer neuern Schriftsteller daran gemacht, von diesem Stand¬
punkte aus zunächst ihre eigne Geschichte und das Wesen ihres Staates zu be¬
leuchten. Gerade bei ihnen erhellt mit besondrer Deutlichkeit, wie weit diese
Betrachtungsweise abliegt von den Ideen von 1789. So sagt H. Taine in der
Vorrede zu seinem bekannten Werkele" oriZinss als 1^ ^rg.no"z <zontslnxmÄin<z:
"Dreizehn mal im Laufe von achtzig Jahren haben wir unsre Staatsverfassung
zerstört, um sie neu zu begründen, aber mit allen unser" Ncubegründungen
sind wir noch nicht so glücklich gewesen, diejenige zu finden, die uns wirklich
angemessen ist. Wenn andre Völker mehr Erfolg gehabt haben, wenn es außer¬
halb Frankreichs mehrere politische Gebäude giebt, die seit alter Zeit auf festem
Grunde ruhen, so ist dies ihrer besondern Bauart zu danken, indem die ganze
Anlage von einem ursprünglichen massiven Kern ausging und sich auf diesen


Grenzbowi I. 1888. 80

vorsichtige Schlüsse zu ziehen. Auf eine höhere Stufe erhob sodann Hegel die
geschichtliche Betrachtung, indem er das Prinzip der Entwicklung zum Kern
seines weltumspannenden Gedankensystems machte. So viel ungenießbare Scho¬
lastik der Darstellung der Hegelschen Gedanken beigemischt sein mag, el» ewiger
Besitz wird es bleiben für die Wissenschaft von den sittlichen Verhältnissen des
Menschen, das; bei ihm die Vernunft nicht starres Einerlei formaler Prinzipien
bleibt, sondern, dem Weltprozeß entsprechend, an welchem sie sich bethätigt,
lebendige Bewegung; daß sodann das Vernünftige nicht mehr allein sich her¬
leitet aus dem subjektiven Denken des Einzelnen, sondern ebenso sehr, ja wohl
in noch Höheren Grade, aus der Objektivirung des Geistes in den Lebensformen
der sittlichen Welt, in welchen und durch welche er sich entwickelt. Von diesen
Gedanken ist die ganze moderne Anschauung durchdrungen. Nicht um Spinn¬
gewebe der Spekulation handelt es sich hier, sondern auch in Kreisen, in welchen
der Gedanke der Zeit in dämmernde Ahnung zerfließen mag, liegt dem Urteil
über staatliches Handeln die Anschauung zu Grunde, daß, was gefordert wird,
ein richtiges Jneinanderbilden von Vernunft und Wirklichkeit sei. Einerseits
durch eindringendes Studium des Thatsächlichen das Gesetz seiner Entwicklung
zu erkennen, anderseits vom Ideal aus auf die Fortbildung des Wirklichen,
seinem innern Lebensgesetze gemäß, einzuwirken, dies sind die beiden Pole unsrer
geistigen Bethätigung, für welche die Zeit allenthalben gleichmäßige Berück¬
sichtigung verlangt. An solcher Betrachtungs- und Behandlungsweise der staat¬
lichen Dinge ist die Erkenntnis gereift, daß der Staat in seiner Vollendung
national sein müsse. Die Staats- und Rechtslehre nimmt zum Ausgangspunkte
den Staats- und Volksgeist in seiner geschichtlichen Offenbarung.

Deutschland ist vorangegangen in der Überwindung der einseitigen Ideen
des vorigen Jahrhunderts durch eine vertiefte Betrachtung der Welt und des
Geistes. Aber auch in Frankreich hat sich die gleichermaßen philosophische und
geschichtliche Anschauungsweise in jüngster Zeit Bahn gebrochen. Mit der
Klarheit und dem praktischen Geschick, wodurch die Franzosen sich auszeichnen,
haben sich mehrere ihrer neuern Schriftsteller daran gemacht, von diesem Stand¬
punkte aus zunächst ihre eigne Geschichte und das Wesen ihres Staates zu be¬
leuchten. Gerade bei ihnen erhellt mit besondrer Deutlichkeit, wie weit diese
Betrachtungsweise abliegt von den Ideen von 1789. So sagt H. Taine in der
Vorrede zu seinem bekannten Werkele« oriZinss als 1^ ^rg.no«z <zontslnxmÄin<z:
„Dreizehn mal im Laufe von achtzig Jahren haben wir unsre Staatsverfassung
zerstört, um sie neu zu begründen, aber mit allen unser» Ncubegründungen
sind wir noch nicht so glücklich gewesen, diejenige zu finden, die uns wirklich
angemessen ist. Wenn andre Völker mehr Erfolg gehabt haben, wenn es außer¬
halb Frankreichs mehrere politische Gebäude giebt, die seit alter Zeit auf festem
Grunde ruhen, so ist dies ihrer besondern Bauart zu danken, indem die ganze
Anlage von einem ursprünglichen massiven Kern ausging und sich auf diesen


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[0641] vorsichtige Schlüsse zu ziehen. Auf eine höhere Stufe erhob sodann Hegel die geschichtliche Betrachtung, indem er das Prinzip der Entwicklung zum Kern seines weltumspannenden Gedankensystems machte. So viel ungenießbare Scho¬ lastik der Darstellung der Hegelschen Gedanken beigemischt sein mag, el» ewiger Besitz wird es bleiben für die Wissenschaft von den sittlichen Verhältnissen des Menschen, das; bei ihm die Vernunft nicht starres Einerlei formaler Prinzipien bleibt, sondern, dem Weltprozeß entsprechend, an welchem sie sich bethätigt, lebendige Bewegung; daß sodann das Vernünftige nicht mehr allein sich her¬ leitet aus dem subjektiven Denken des Einzelnen, sondern ebenso sehr, ja wohl in noch Höheren Grade, aus der Objektivirung des Geistes in den Lebensformen der sittlichen Welt, in welchen und durch welche er sich entwickelt. Von diesen Gedanken ist die ganze moderne Anschauung durchdrungen. Nicht um Spinn¬ gewebe der Spekulation handelt es sich hier, sondern auch in Kreisen, in welchen der Gedanke der Zeit in dämmernde Ahnung zerfließen mag, liegt dem Urteil über staatliches Handeln die Anschauung zu Grunde, daß, was gefordert wird, ein richtiges Jneinanderbilden von Vernunft und Wirklichkeit sei. Einerseits durch eindringendes Studium des Thatsächlichen das Gesetz seiner Entwicklung zu erkennen, anderseits vom Ideal aus auf die Fortbildung des Wirklichen, seinem innern Lebensgesetze gemäß, einzuwirken, dies sind die beiden Pole unsrer geistigen Bethätigung, für welche die Zeit allenthalben gleichmäßige Berück¬ sichtigung verlangt. An solcher Betrachtungs- und Behandlungsweise der staat¬ lichen Dinge ist die Erkenntnis gereift, daß der Staat in seiner Vollendung national sein müsse. Die Staats- und Rechtslehre nimmt zum Ausgangspunkte den Staats- und Volksgeist in seiner geschichtlichen Offenbarung. Deutschland ist vorangegangen in der Überwindung der einseitigen Ideen des vorigen Jahrhunderts durch eine vertiefte Betrachtung der Welt und des Geistes. Aber auch in Frankreich hat sich die gleichermaßen philosophische und geschichtliche Anschauungsweise in jüngster Zeit Bahn gebrochen. Mit der Klarheit und dem praktischen Geschick, wodurch die Franzosen sich auszeichnen, haben sich mehrere ihrer neuern Schriftsteller daran gemacht, von diesem Stand¬ punkte aus zunächst ihre eigne Geschichte und das Wesen ihres Staates zu be¬ leuchten. Gerade bei ihnen erhellt mit besondrer Deutlichkeit, wie weit diese Betrachtungsweise abliegt von den Ideen von 1789. So sagt H. Taine in der Vorrede zu seinem bekannten Werkele« oriZinss als 1^ ^rg.no«z <zontslnxmÄin<z: „Dreizehn mal im Laufe von achtzig Jahren haben wir unsre Staatsverfassung zerstört, um sie neu zu begründen, aber mit allen unser» Ncubegründungen sind wir noch nicht so glücklich gewesen, diejenige zu finden, die uns wirklich angemessen ist. Wenn andre Völker mehr Erfolg gehabt haben, wenn es außer¬ halb Frankreichs mehrere politische Gebäude giebt, die seit alter Zeit auf festem Grunde ruhen, so ist dies ihrer besondern Bauart zu danken, indem die ganze Anlage von einem ursprünglichen massiven Kern ausging und sich auf diesen Grenzbowi I. 1888. 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/641>, abgerufen am 28.09.2024.