Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Stand der bulgarischen Frage.

Die Verpflichtung des Sultans, demselben stattzugeben, wurde durch Anschluß
andrer Vcrtrcigsmächte kaum verstärkt, und wenn Deutschland rückhaltlos bereit
war, Rußland bei seinem Vorgehen an die Seite zu treten, so geschah es ein¬
fach aus dem Grunde, weil es ohne Beachtung der Verletzungen, welche das
1878 geschaffene Recht im letzten Jahrzehnt in Bulgarien erlitten hat, an
diesem Rechte festhält. In Wien, Rom und London dagegen war man nicht
geneigt, dem russischen Vorgehen bedingungslos zu folgen, weil man zwar die
gegenwärtige politische Gestalt Bulgariens gleichfalls als nicht im Einklange
mit dem 1873 festgestellten Rechte betrachtet, aber erst eine Erklärung zu er¬
halten wünscht, wie Nußland über die Zwangsvollstreckung gegen den Koburger
und seine Partei denkt, und wie es über den erledigten Thron in Sofia ver¬
fügt wissen will. Auch die jetzt in Bulgarien herrschende Partei und deren
Freunde geben zu, daß die Stellung des Koburgers dem Rechte nicht entspricht,
welches bestimmt, daß der Fürst Bulgariens vom Volke gewählt und seine
Wahl einstimmig von den Vertragsmächten bestätigt werden soll. Das letztere
ist nicht erfolgt; nicht eine einzige von den Mächten hat den Koburger aner¬
kannt, und wenn ihm auch nur Nußland seine Anerkennung versagt hätte, so
würde seine Wahl durch die Sobranje auch dann uugiltig sein, wenn diese
Versammlung völlig frei gewählt und nicht, wie bekannt, unter Beeinflussung
durch die Gewaltherrschaft Stambuloffs und seiner Genossen zusammenge¬
kommen wäre.

Diese Partei und ihre Verteidiger in der ausländischen Presse aber sagen:
Zugegeben, daß unser Fürst seinen Thron mit Nichtbeachtung des Rechtes be¬
stiegen hat und behauptet, sollen die Bulgaren ohne Oberhaupt und ausübende
Gewalt verbleiben, weil die Aufgabe Europas, sich über die Sache zu verstän¬
digen, aussichtslos ist? Sollen sie der Gefahr anarchischer Zustände ausge¬
setzt sein, weil die Meinungen der Großmächte auseinandergehen? Die Bulgaren
haben notgedrungen das Problem durch einen revolutionären Schritt gelöst,
und es ist nicht ohne Vorgang, daß ein Volk seine Angelegenheiten selbst in
die Hand nimmt, und daß es dabei, nachdem die Mächte dagegen Protest ein¬
gelegt haben, schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche gelangt. Die jetzige Re¬
gierung Italiens z. B. beruht auf einer Reihe revolutionärer Handlungen. Als
Viktor Emanuel nach und nach Parma, Modena und Toskana besetzte, brach
er in so augenscheinlicher Weise herzogliche Rechte, daß Nußland und Preußen ihre
Gesandten von seinem Hofe abberiefen, und kein Jurist wird in Abrede stellen,
daß die spätere italienische Politik gegen die Abmachungen von Villafranca
verstieß. Auf diese Volksbewegungen, denen sich ein König anschloß, und auf die
spätern ebenso widerrechtlichen Einverleibungen des Kirchenstaates und Neapels
beruht die neue Großmacht Italien. Auch an die Verteilung Polens unter
drei Nachbarmächte und an die Eroberung Hannovers, Hessens und Nassaus
darf erinnert werden. Es fördert also die Frage nicht, wenn man sich auf


Der Stand der bulgarischen Frage.

Die Verpflichtung des Sultans, demselben stattzugeben, wurde durch Anschluß
andrer Vcrtrcigsmächte kaum verstärkt, und wenn Deutschland rückhaltlos bereit
war, Rußland bei seinem Vorgehen an die Seite zu treten, so geschah es ein¬
fach aus dem Grunde, weil es ohne Beachtung der Verletzungen, welche das
1878 geschaffene Recht im letzten Jahrzehnt in Bulgarien erlitten hat, an
diesem Rechte festhält. In Wien, Rom und London dagegen war man nicht
geneigt, dem russischen Vorgehen bedingungslos zu folgen, weil man zwar die
gegenwärtige politische Gestalt Bulgariens gleichfalls als nicht im Einklange
mit dem 1873 festgestellten Rechte betrachtet, aber erst eine Erklärung zu er¬
halten wünscht, wie Nußland über die Zwangsvollstreckung gegen den Koburger
und seine Partei denkt, und wie es über den erledigten Thron in Sofia ver¬
fügt wissen will. Auch die jetzt in Bulgarien herrschende Partei und deren
Freunde geben zu, daß die Stellung des Koburgers dem Rechte nicht entspricht,
welches bestimmt, daß der Fürst Bulgariens vom Volke gewählt und seine
Wahl einstimmig von den Vertragsmächten bestätigt werden soll. Das letztere
ist nicht erfolgt; nicht eine einzige von den Mächten hat den Koburger aner¬
kannt, und wenn ihm auch nur Nußland seine Anerkennung versagt hätte, so
würde seine Wahl durch die Sobranje auch dann uugiltig sein, wenn diese
Versammlung völlig frei gewählt und nicht, wie bekannt, unter Beeinflussung
durch die Gewaltherrschaft Stambuloffs und seiner Genossen zusammenge¬
kommen wäre.

Diese Partei und ihre Verteidiger in der ausländischen Presse aber sagen:
Zugegeben, daß unser Fürst seinen Thron mit Nichtbeachtung des Rechtes be¬
stiegen hat und behauptet, sollen die Bulgaren ohne Oberhaupt und ausübende
Gewalt verbleiben, weil die Aufgabe Europas, sich über die Sache zu verstän¬
digen, aussichtslos ist? Sollen sie der Gefahr anarchischer Zustände ausge¬
setzt sein, weil die Meinungen der Großmächte auseinandergehen? Die Bulgaren
haben notgedrungen das Problem durch einen revolutionären Schritt gelöst,
und es ist nicht ohne Vorgang, daß ein Volk seine Angelegenheiten selbst in
die Hand nimmt, und daß es dabei, nachdem die Mächte dagegen Protest ein¬
gelegt haben, schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche gelangt. Die jetzige Re¬
gierung Italiens z. B. beruht auf einer Reihe revolutionärer Handlungen. Als
Viktor Emanuel nach und nach Parma, Modena und Toskana besetzte, brach
er in so augenscheinlicher Weise herzogliche Rechte, daß Nußland und Preußen ihre
Gesandten von seinem Hofe abberiefen, und kein Jurist wird in Abrede stellen,
daß die spätere italienische Politik gegen die Abmachungen von Villafranca
verstieß. Auf diese Volksbewegungen, denen sich ein König anschloß, und auf die
spätern ebenso widerrechtlichen Einverleibungen des Kirchenstaates und Neapels
beruht die neue Großmacht Italien. Auch an die Verteilung Polens unter
drei Nachbarmächte und an die Eroberung Hannovers, Hessens und Nassaus
darf erinnert werden. Es fördert also die Frage nicht, wenn man sich auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0566" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202665"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Stand der bulgarischen Frage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2089" prev="#ID_2088"> Die Verpflichtung des Sultans, demselben stattzugeben, wurde durch Anschluß<lb/>
andrer Vcrtrcigsmächte kaum verstärkt, und wenn Deutschland rückhaltlos bereit<lb/>
war, Rußland bei seinem Vorgehen an die Seite zu treten, so geschah es ein¬<lb/>
fach aus dem Grunde, weil es ohne Beachtung der Verletzungen, welche das<lb/>
1878 geschaffene Recht im letzten Jahrzehnt in Bulgarien erlitten hat, an<lb/>
diesem Rechte festhält. In Wien, Rom und London dagegen war man nicht<lb/>
geneigt, dem russischen Vorgehen bedingungslos zu folgen, weil man zwar die<lb/>
gegenwärtige politische Gestalt Bulgariens gleichfalls als nicht im Einklange<lb/>
mit dem 1873 festgestellten Rechte betrachtet, aber erst eine Erklärung zu er¬<lb/>
halten wünscht, wie Nußland über die Zwangsvollstreckung gegen den Koburger<lb/>
und seine Partei denkt, und wie es über den erledigten Thron in Sofia ver¬<lb/>
fügt wissen will. Auch die jetzt in Bulgarien herrschende Partei und deren<lb/>
Freunde geben zu, daß die Stellung des Koburgers dem Rechte nicht entspricht,<lb/>
welches bestimmt, daß der Fürst Bulgariens vom Volke gewählt und seine<lb/>
Wahl einstimmig von den Vertragsmächten bestätigt werden soll. Das letztere<lb/>
ist nicht erfolgt; nicht eine einzige von den Mächten hat den Koburger aner¬<lb/>
kannt, und wenn ihm auch nur Nußland seine Anerkennung versagt hätte, so<lb/>
würde seine Wahl durch die Sobranje auch dann uugiltig sein, wenn diese<lb/>
Versammlung völlig frei gewählt und nicht, wie bekannt, unter Beeinflussung<lb/>
durch die Gewaltherrschaft Stambuloffs und seiner Genossen zusammenge¬<lb/>
kommen wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2090" next="#ID_2091"> Diese Partei und ihre Verteidiger in der ausländischen Presse aber sagen:<lb/>
Zugegeben, daß unser Fürst seinen Thron mit Nichtbeachtung des Rechtes be¬<lb/>
stiegen hat und behauptet, sollen die Bulgaren ohne Oberhaupt und ausübende<lb/>
Gewalt verbleiben, weil die Aufgabe Europas, sich über die Sache zu verstän¬<lb/>
digen, aussichtslos ist? Sollen sie der Gefahr anarchischer Zustände ausge¬<lb/>
setzt sein, weil die Meinungen der Großmächte auseinandergehen? Die Bulgaren<lb/>
haben notgedrungen das Problem durch einen revolutionären Schritt gelöst,<lb/>
und es ist nicht ohne Vorgang, daß ein Volk seine Angelegenheiten selbst in<lb/>
die Hand nimmt, und daß es dabei, nachdem die Mächte dagegen Protest ein¬<lb/>
gelegt haben, schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche gelangt. Die jetzige Re¬<lb/>
gierung Italiens z. B. beruht auf einer Reihe revolutionärer Handlungen. Als<lb/>
Viktor Emanuel nach und nach Parma, Modena und Toskana besetzte, brach<lb/>
er in so augenscheinlicher Weise herzogliche Rechte, daß Nußland und Preußen ihre<lb/>
Gesandten von seinem Hofe abberiefen, und kein Jurist wird in Abrede stellen,<lb/>
daß die spätere italienische Politik gegen die Abmachungen von Villafranca<lb/>
verstieß. Auf diese Volksbewegungen, denen sich ein König anschloß, und auf die<lb/>
spätern ebenso widerrechtlichen Einverleibungen des Kirchenstaates und Neapels<lb/>
beruht die neue Großmacht Italien. Auch an die Verteilung Polens unter<lb/>
drei Nachbarmächte und an die Eroberung Hannovers, Hessens und Nassaus<lb/>
darf erinnert werden.  Es fördert also die Frage nicht, wenn man sich auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0566] Der Stand der bulgarischen Frage. Die Verpflichtung des Sultans, demselben stattzugeben, wurde durch Anschluß andrer Vcrtrcigsmächte kaum verstärkt, und wenn Deutschland rückhaltlos bereit war, Rußland bei seinem Vorgehen an die Seite zu treten, so geschah es ein¬ fach aus dem Grunde, weil es ohne Beachtung der Verletzungen, welche das 1878 geschaffene Recht im letzten Jahrzehnt in Bulgarien erlitten hat, an diesem Rechte festhält. In Wien, Rom und London dagegen war man nicht geneigt, dem russischen Vorgehen bedingungslos zu folgen, weil man zwar die gegenwärtige politische Gestalt Bulgariens gleichfalls als nicht im Einklange mit dem 1873 festgestellten Rechte betrachtet, aber erst eine Erklärung zu er¬ halten wünscht, wie Nußland über die Zwangsvollstreckung gegen den Koburger und seine Partei denkt, und wie es über den erledigten Thron in Sofia ver¬ fügt wissen will. Auch die jetzt in Bulgarien herrschende Partei und deren Freunde geben zu, daß die Stellung des Koburgers dem Rechte nicht entspricht, welches bestimmt, daß der Fürst Bulgariens vom Volke gewählt und seine Wahl einstimmig von den Vertragsmächten bestätigt werden soll. Das letztere ist nicht erfolgt; nicht eine einzige von den Mächten hat den Koburger aner¬ kannt, und wenn ihm auch nur Nußland seine Anerkennung versagt hätte, so würde seine Wahl durch die Sobranje auch dann uugiltig sein, wenn diese Versammlung völlig frei gewählt und nicht, wie bekannt, unter Beeinflussung durch die Gewaltherrschaft Stambuloffs und seiner Genossen zusammenge¬ kommen wäre. Diese Partei und ihre Verteidiger in der ausländischen Presse aber sagen: Zugegeben, daß unser Fürst seinen Thron mit Nichtbeachtung des Rechtes be¬ stiegen hat und behauptet, sollen die Bulgaren ohne Oberhaupt und ausübende Gewalt verbleiben, weil die Aufgabe Europas, sich über die Sache zu verstän¬ digen, aussichtslos ist? Sollen sie der Gefahr anarchischer Zustände ausge¬ setzt sein, weil die Meinungen der Großmächte auseinandergehen? Die Bulgaren haben notgedrungen das Problem durch einen revolutionären Schritt gelöst, und es ist nicht ohne Vorgang, daß ein Volk seine Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt, und daß es dabei, nachdem die Mächte dagegen Protest ein¬ gelegt haben, schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche gelangt. Die jetzige Re¬ gierung Italiens z. B. beruht auf einer Reihe revolutionärer Handlungen. Als Viktor Emanuel nach und nach Parma, Modena und Toskana besetzte, brach er in so augenscheinlicher Weise herzogliche Rechte, daß Nußland und Preußen ihre Gesandten von seinem Hofe abberiefen, und kein Jurist wird in Abrede stellen, daß die spätere italienische Politik gegen die Abmachungen von Villafranca verstieß. Auf diese Volksbewegungen, denen sich ein König anschloß, und auf die spätern ebenso widerrechtlichen Einverleibungen des Kirchenstaates und Neapels beruht die neue Großmacht Italien. Auch an die Verteilung Polens unter drei Nachbarmächte und an die Eroberung Hannovers, Hessens und Nassaus darf erinnert werden. Es fördert also die Frage nicht, wenn man sich auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/566
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/566>, abgerufen am 27.06.2024.