Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Stand der bulgarischen Frage.

Weilen und zwar gerade bei den wichtigsten Meinungsverschiedenheiten über
Abtretung von Gebieten an Rußland hatte unser Reichskanzler sehr erhebliche
Hindernisse zu beseitigen, und diese verschwanden dann nur vor der unum¬
wundenen Erklärung, daß Deutschland sich an den Arbeiten des Kongresses
nicht weiter beteiligen werde, falls man auf die betreffende Forderung nicht ein¬
gehe. Diese Parteinahme Deutschlands für berechtigte Ansprüche Rußlands
würde, wie später offiziös ausgesprochen wurde, noch weiter gegangen sein,
wenn die Vertreter des Zaren mehr verlangt hätten, und wenn dies nicht ge¬
schah, so unterblieb es nicht wegen Mangel an Bereitwilligkeit auf deutscher
Seite, sondern deshalb, weil Nußland, welches versäumt hatte, sich in den Besitz
der Meerengen bei Konstantinopel zu setzen, einen Seekrieg mit England zu
fürchten hatte. Den berechtigten Interessen Rußlands war also nach Kräften
zur Geltung verholfen, Fürst Bismarck hatte ihm jeden Dienst geleistet, der sich
mit der Sicherheit Österreich-Ungarns vertrug, er hatte dem durch den Kampf
mit den Türken stark erschöpften alten Verbündeten im Osten einen Weg aus
bedenklicher Lage, zwischen Demütigung und einem gefährlicheren Kampfe mit
Österreich-Ungarn und England, geöffnet. Daß er nicht alle Ansprüche der
russischen Politik vertreten und unterstützen konnte, weil er dadurch Deutschland
mit dem übrigen Europa verfeindet hätte, lag auf der Hand und konnte nur
von der blinden Begehrlichkeit der panslawistischen Moskowiter getadelt werden.
Wäre deren Gesinnung dann auch in Kreise gedrungen, die bessere Augen und
wegen höherer Stellung einen weitern Gesichtskreis haben mußten, so ist seitdem
nichts geschehen, was, genau betrachtet, sie Hütte bestärken können, und die letzte
Rede des Reichskanzlers war geeignet, jeden Zweifel über die Irrtümer in
Betreff der Stellung Deutschlands zu Rußland und sein jetziges Hauptanliegen
zu zerstreuen. Dies scheint denn auch geschehen zu sein, und wenn man in
Petersburg darnach gehandelt hat, so hat man nicht auf den Beweis zu warten
gehabt, daß Fürst Bismarck heute noch bereit ist, wie 1873 die russischen Inter¬
essen am Balkan, soweit es irgend angeht, zu fördern.

Rußland hatte ursprünglich die Absicht, von seiten sämtlicher Mächte, welche
auf dem Berliner Kongresse vertreten waren, an die Pforte das Verlangen
richten zu lassen, die Stellung des Prinzen Ferdinand von Koburg in Bul¬
garien als Usurpation zu erklären, da sie dem Berliner Friedensverträge zu¬
widerlaufe, entschloß sich jedoch, deutschem Ratschläge folgend, davon abzusehen
und den Antrag zunächst für sich allein zu stellen. Dies geschah, und der
Schritt fand sofort die Unterstützung Deutschlands sowie Frankreichs, während
Österreich-Ungarn, England und Italien sich ihm fern hielten. Die Mitwirkung
dieser drei Mächte war aber auch nicht erforderlich; denn unzweifelhaft war
Rußland befugt, den Antrag auf Wiederherstellung der Bestimmungen des Ber¬
liner Friedens allein zu stellen, und ebenso unzweifelhaft war die Pforte als
suzeräne Macht in Bulgarien die nächste Instanz, an die er zu richten war.


Der Stand der bulgarischen Frage.

Weilen und zwar gerade bei den wichtigsten Meinungsverschiedenheiten über
Abtretung von Gebieten an Rußland hatte unser Reichskanzler sehr erhebliche
Hindernisse zu beseitigen, und diese verschwanden dann nur vor der unum¬
wundenen Erklärung, daß Deutschland sich an den Arbeiten des Kongresses
nicht weiter beteiligen werde, falls man auf die betreffende Forderung nicht ein¬
gehe. Diese Parteinahme Deutschlands für berechtigte Ansprüche Rußlands
würde, wie später offiziös ausgesprochen wurde, noch weiter gegangen sein,
wenn die Vertreter des Zaren mehr verlangt hätten, und wenn dies nicht ge¬
schah, so unterblieb es nicht wegen Mangel an Bereitwilligkeit auf deutscher
Seite, sondern deshalb, weil Nußland, welches versäumt hatte, sich in den Besitz
der Meerengen bei Konstantinopel zu setzen, einen Seekrieg mit England zu
fürchten hatte. Den berechtigten Interessen Rußlands war also nach Kräften
zur Geltung verholfen, Fürst Bismarck hatte ihm jeden Dienst geleistet, der sich
mit der Sicherheit Österreich-Ungarns vertrug, er hatte dem durch den Kampf
mit den Türken stark erschöpften alten Verbündeten im Osten einen Weg aus
bedenklicher Lage, zwischen Demütigung und einem gefährlicheren Kampfe mit
Österreich-Ungarn und England, geöffnet. Daß er nicht alle Ansprüche der
russischen Politik vertreten und unterstützen konnte, weil er dadurch Deutschland
mit dem übrigen Europa verfeindet hätte, lag auf der Hand und konnte nur
von der blinden Begehrlichkeit der panslawistischen Moskowiter getadelt werden.
Wäre deren Gesinnung dann auch in Kreise gedrungen, die bessere Augen und
wegen höherer Stellung einen weitern Gesichtskreis haben mußten, so ist seitdem
nichts geschehen, was, genau betrachtet, sie Hütte bestärken können, und die letzte
Rede des Reichskanzlers war geeignet, jeden Zweifel über die Irrtümer in
Betreff der Stellung Deutschlands zu Rußland und sein jetziges Hauptanliegen
zu zerstreuen. Dies scheint denn auch geschehen zu sein, und wenn man in
Petersburg darnach gehandelt hat, so hat man nicht auf den Beweis zu warten
gehabt, daß Fürst Bismarck heute noch bereit ist, wie 1873 die russischen Inter¬
essen am Balkan, soweit es irgend angeht, zu fördern.

Rußland hatte ursprünglich die Absicht, von seiten sämtlicher Mächte, welche
auf dem Berliner Kongresse vertreten waren, an die Pforte das Verlangen
richten zu lassen, die Stellung des Prinzen Ferdinand von Koburg in Bul¬
garien als Usurpation zu erklären, da sie dem Berliner Friedensverträge zu¬
widerlaufe, entschloß sich jedoch, deutschem Ratschläge folgend, davon abzusehen
und den Antrag zunächst für sich allein zu stellen. Dies geschah, und der
Schritt fand sofort die Unterstützung Deutschlands sowie Frankreichs, während
Österreich-Ungarn, England und Italien sich ihm fern hielten. Die Mitwirkung
dieser drei Mächte war aber auch nicht erforderlich; denn unzweifelhaft war
Rußland befugt, den Antrag auf Wiederherstellung der Bestimmungen des Ber¬
liner Friedens allein zu stellen, und ebenso unzweifelhaft war die Pforte als
suzeräne Macht in Bulgarien die nächste Instanz, an die er zu richten war.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0565" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202664"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Stand der bulgarischen Frage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2087" prev="#ID_2086"> Weilen und zwar gerade bei den wichtigsten Meinungsverschiedenheiten über<lb/>
Abtretung von Gebieten an Rußland hatte unser Reichskanzler sehr erhebliche<lb/>
Hindernisse zu beseitigen, und diese verschwanden dann nur vor der unum¬<lb/>
wundenen Erklärung, daß Deutschland sich an den Arbeiten des Kongresses<lb/>
nicht weiter beteiligen werde, falls man auf die betreffende Forderung nicht ein¬<lb/>
gehe. Diese Parteinahme Deutschlands für berechtigte Ansprüche Rußlands<lb/>
würde, wie später offiziös ausgesprochen wurde, noch weiter gegangen sein,<lb/>
wenn die Vertreter des Zaren mehr verlangt hätten, und wenn dies nicht ge¬<lb/>
schah, so unterblieb es nicht wegen Mangel an Bereitwilligkeit auf deutscher<lb/>
Seite, sondern deshalb, weil Nußland, welches versäumt hatte, sich in den Besitz<lb/>
der Meerengen bei Konstantinopel zu setzen, einen Seekrieg mit England zu<lb/>
fürchten hatte. Den berechtigten Interessen Rußlands war also nach Kräften<lb/>
zur Geltung verholfen, Fürst Bismarck hatte ihm jeden Dienst geleistet, der sich<lb/>
mit der Sicherheit Österreich-Ungarns vertrug, er hatte dem durch den Kampf<lb/>
mit den Türken stark erschöpften alten Verbündeten im Osten einen Weg aus<lb/>
bedenklicher Lage, zwischen Demütigung und einem gefährlicheren Kampfe mit<lb/>
Österreich-Ungarn und England, geöffnet. Daß er nicht alle Ansprüche der<lb/>
russischen Politik vertreten und unterstützen konnte, weil er dadurch Deutschland<lb/>
mit dem übrigen Europa verfeindet hätte, lag auf der Hand und konnte nur<lb/>
von der blinden Begehrlichkeit der panslawistischen Moskowiter getadelt werden.<lb/>
Wäre deren Gesinnung dann auch in Kreise gedrungen, die bessere Augen und<lb/>
wegen höherer Stellung einen weitern Gesichtskreis haben mußten, so ist seitdem<lb/>
nichts geschehen, was, genau betrachtet, sie Hütte bestärken können, und die letzte<lb/>
Rede des Reichskanzlers war geeignet, jeden Zweifel über die Irrtümer in<lb/>
Betreff der Stellung Deutschlands zu Rußland und sein jetziges Hauptanliegen<lb/>
zu zerstreuen. Dies scheint denn auch geschehen zu sein, und wenn man in<lb/>
Petersburg darnach gehandelt hat, so hat man nicht auf den Beweis zu warten<lb/>
gehabt, daß Fürst Bismarck heute noch bereit ist, wie 1873 die russischen Inter¬<lb/>
essen am Balkan, soweit es irgend angeht, zu fördern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2088" next="#ID_2089"> Rußland hatte ursprünglich die Absicht, von seiten sämtlicher Mächte, welche<lb/>
auf dem Berliner Kongresse vertreten waren, an die Pforte das Verlangen<lb/>
richten zu lassen, die Stellung des Prinzen Ferdinand von Koburg in Bul¬<lb/>
garien als Usurpation zu erklären, da sie dem Berliner Friedensverträge zu¬<lb/>
widerlaufe, entschloß sich jedoch, deutschem Ratschläge folgend, davon abzusehen<lb/>
und den Antrag zunächst für sich allein zu stellen. Dies geschah, und der<lb/>
Schritt fand sofort die Unterstützung Deutschlands sowie Frankreichs, während<lb/>
Österreich-Ungarn, England und Italien sich ihm fern hielten. Die Mitwirkung<lb/>
dieser drei Mächte war aber auch nicht erforderlich; denn unzweifelhaft war<lb/>
Rußland befugt, den Antrag auf Wiederherstellung der Bestimmungen des Ber¬<lb/>
liner Friedens allein zu stellen, und ebenso unzweifelhaft war die Pforte als<lb/>
suzeräne Macht in Bulgarien die nächste Instanz, an die er zu richten war.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0565] Der Stand der bulgarischen Frage. Weilen und zwar gerade bei den wichtigsten Meinungsverschiedenheiten über Abtretung von Gebieten an Rußland hatte unser Reichskanzler sehr erhebliche Hindernisse zu beseitigen, und diese verschwanden dann nur vor der unum¬ wundenen Erklärung, daß Deutschland sich an den Arbeiten des Kongresses nicht weiter beteiligen werde, falls man auf die betreffende Forderung nicht ein¬ gehe. Diese Parteinahme Deutschlands für berechtigte Ansprüche Rußlands würde, wie später offiziös ausgesprochen wurde, noch weiter gegangen sein, wenn die Vertreter des Zaren mehr verlangt hätten, und wenn dies nicht ge¬ schah, so unterblieb es nicht wegen Mangel an Bereitwilligkeit auf deutscher Seite, sondern deshalb, weil Nußland, welches versäumt hatte, sich in den Besitz der Meerengen bei Konstantinopel zu setzen, einen Seekrieg mit England zu fürchten hatte. Den berechtigten Interessen Rußlands war also nach Kräften zur Geltung verholfen, Fürst Bismarck hatte ihm jeden Dienst geleistet, der sich mit der Sicherheit Österreich-Ungarns vertrug, er hatte dem durch den Kampf mit den Türken stark erschöpften alten Verbündeten im Osten einen Weg aus bedenklicher Lage, zwischen Demütigung und einem gefährlicheren Kampfe mit Österreich-Ungarn und England, geöffnet. Daß er nicht alle Ansprüche der russischen Politik vertreten und unterstützen konnte, weil er dadurch Deutschland mit dem übrigen Europa verfeindet hätte, lag auf der Hand und konnte nur von der blinden Begehrlichkeit der panslawistischen Moskowiter getadelt werden. Wäre deren Gesinnung dann auch in Kreise gedrungen, die bessere Augen und wegen höherer Stellung einen weitern Gesichtskreis haben mußten, so ist seitdem nichts geschehen, was, genau betrachtet, sie Hütte bestärken können, und die letzte Rede des Reichskanzlers war geeignet, jeden Zweifel über die Irrtümer in Betreff der Stellung Deutschlands zu Rußland und sein jetziges Hauptanliegen zu zerstreuen. Dies scheint denn auch geschehen zu sein, und wenn man in Petersburg darnach gehandelt hat, so hat man nicht auf den Beweis zu warten gehabt, daß Fürst Bismarck heute noch bereit ist, wie 1873 die russischen Inter¬ essen am Balkan, soweit es irgend angeht, zu fördern. Rußland hatte ursprünglich die Absicht, von seiten sämtlicher Mächte, welche auf dem Berliner Kongresse vertreten waren, an die Pforte das Verlangen richten zu lassen, die Stellung des Prinzen Ferdinand von Koburg in Bul¬ garien als Usurpation zu erklären, da sie dem Berliner Friedensverträge zu¬ widerlaufe, entschloß sich jedoch, deutschem Ratschläge folgend, davon abzusehen und den Antrag zunächst für sich allein zu stellen. Dies geschah, und der Schritt fand sofort die Unterstützung Deutschlands sowie Frankreichs, während Österreich-Ungarn, England und Italien sich ihm fern hielten. Die Mitwirkung dieser drei Mächte war aber auch nicht erforderlich; denn unzweifelhaft war Rußland befugt, den Antrag auf Wiederherstellung der Bestimmungen des Ber¬ liner Friedens allein zu stellen, und ebenso unzweifelhaft war die Pforte als suzeräne Macht in Bulgarien die nächste Instanz, an die er zu richten war.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/565
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/565>, abgerufen am 28.09.2024.