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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Stand der bulgarischen Frage.

n seiner jüngsten großen Rede erklärte der Reichskanzler es für
eine Schmach, wenn eine so wenig bedeutende Angelegenheit, wie
die bulgarische, Veranlassung zu einem Kriege zwischen den Gro߬
staaten Europas werden sollte, und Lord Salisbury äußerte
kürzlich im Oberhause, daß er diese Erklärung bereitwillig unter¬
schreibe. Gleichwohl steht diese Frage seit länger als Jahresfrist wie ein krieg-
drvhender Koniet am südöstlichen Horizont des politischen Himmels, und noch
sieht das Publikum, noch sieht vielleicht auch keiner von unsern Staatsmännern
einen sichern Weg zu ihrer Lösung. Indes ist in der letzten Zeit wenigstens
von feiten Rußlands das grollende Schweigen gebrochen worden, in das die
dortige Diplomatie sich seit Monaten hinsichtlich der Sache hüllte, und der
Versuch, zu einem Einvernehmen der Mächte über sie zu gelangen, ist nunmehr
angeregt und trotz vieler Schwierigkeiten nicht ohne Aussicht, bei billigen und
gemäßigten Ansprüchen auf Seiten der zunächst beteiligten Parteien zu einem
mindestens bis auf weiteres befriedigenden Ergebnisse zu führen. Die Schwierig¬
keiten liegen nicht in Bulgarien, sondern hinter ihm, in dem Zielpunkte Ru߬
lands, zu dem der Weg über Bulgarien geht. Die Hoffnung, die neu erwacht
ist, hat ihren Grund darin, daß in Petersburg wieder Glauben und Vertrauen
auf den guten Willen der deutschen Politik eingekehrt zu sein scheint, ein Ver¬
trauen, welches so berechtigt ist, daß es nie eine Störung hätte erleiden
sollen. Ein unbefangener Rückblick auf den Berliner Kongreß hätte genügt,
um dieses Vertrauen, als es wankte, wiederherzustellen. Allerdings hatte Ru߬
land dort wesentliche Stücke von dem Ergebnis seines schwer erkämpften und
teuer bezahlten Sieges aufgeben müssen, aber es behielt davon immer noch
genug, um mit dem Ausgange des Streites zufrieden und dem deutschen Ver¬
mittler desselben dankbar sein zu können. Nußland hatte den Kongreß erstrebt
und mit Hilfe des Fürsten Bismarck herbeigeführt. Niemals während der Ver¬
handlungen widersetzte er sich den russischen Anträgen, vielmehr fanden sie bei
ihm ohne Ausnahme jede irgendwie mögliche Unterstützung, und in den meisten
Fragen, wo Zwiespalt hinsichtlich der Wünsche seiner russischen Freunde ein¬
trat, gelang es dem deutschen Einflüsse, ihnen Erfüllung zu verschaffen. Bis-




Der Stand der bulgarischen Frage.

n seiner jüngsten großen Rede erklärte der Reichskanzler es für
eine Schmach, wenn eine so wenig bedeutende Angelegenheit, wie
die bulgarische, Veranlassung zu einem Kriege zwischen den Gro߬
staaten Europas werden sollte, und Lord Salisbury äußerte
kürzlich im Oberhause, daß er diese Erklärung bereitwillig unter¬
schreibe. Gleichwohl steht diese Frage seit länger als Jahresfrist wie ein krieg-
drvhender Koniet am südöstlichen Horizont des politischen Himmels, und noch
sieht das Publikum, noch sieht vielleicht auch keiner von unsern Staatsmännern
einen sichern Weg zu ihrer Lösung. Indes ist in der letzten Zeit wenigstens
von feiten Rußlands das grollende Schweigen gebrochen worden, in das die
dortige Diplomatie sich seit Monaten hinsichtlich der Sache hüllte, und der
Versuch, zu einem Einvernehmen der Mächte über sie zu gelangen, ist nunmehr
angeregt und trotz vieler Schwierigkeiten nicht ohne Aussicht, bei billigen und
gemäßigten Ansprüchen auf Seiten der zunächst beteiligten Parteien zu einem
mindestens bis auf weiteres befriedigenden Ergebnisse zu führen. Die Schwierig¬
keiten liegen nicht in Bulgarien, sondern hinter ihm, in dem Zielpunkte Ru߬
lands, zu dem der Weg über Bulgarien geht. Die Hoffnung, die neu erwacht
ist, hat ihren Grund darin, daß in Petersburg wieder Glauben und Vertrauen
auf den guten Willen der deutschen Politik eingekehrt zu sein scheint, ein Ver¬
trauen, welches so berechtigt ist, daß es nie eine Störung hätte erleiden
sollen. Ein unbefangener Rückblick auf den Berliner Kongreß hätte genügt,
um dieses Vertrauen, als es wankte, wiederherzustellen. Allerdings hatte Ru߬
land dort wesentliche Stücke von dem Ergebnis seines schwer erkämpften und
teuer bezahlten Sieges aufgeben müssen, aber es behielt davon immer noch
genug, um mit dem Ausgange des Streites zufrieden und dem deutschen Ver¬
mittler desselben dankbar sein zu können. Nußland hatte den Kongreß erstrebt
und mit Hilfe des Fürsten Bismarck herbeigeführt. Niemals während der Ver¬
handlungen widersetzte er sich den russischen Anträgen, vielmehr fanden sie bei
ihm ohne Ausnahme jede irgendwie mögliche Unterstützung, und in den meisten
Fragen, wo Zwiespalt hinsichtlich der Wünsche seiner russischen Freunde ein¬
trat, gelang es dem deutschen Einflüsse, ihnen Erfüllung zu verschaffen. Bis-


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[0564] [Abbildung] Der Stand der bulgarischen Frage. n seiner jüngsten großen Rede erklärte der Reichskanzler es für eine Schmach, wenn eine so wenig bedeutende Angelegenheit, wie die bulgarische, Veranlassung zu einem Kriege zwischen den Gro߬ staaten Europas werden sollte, und Lord Salisbury äußerte kürzlich im Oberhause, daß er diese Erklärung bereitwillig unter¬ schreibe. Gleichwohl steht diese Frage seit länger als Jahresfrist wie ein krieg- drvhender Koniet am südöstlichen Horizont des politischen Himmels, und noch sieht das Publikum, noch sieht vielleicht auch keiner von unsern Staatsmännern einen sichern Weg zu ihrer Lösung. Indes ist in der letzten Zeit wenigstens von feiten Rußlands das grollende Schweigen gebrochen worden, in das die dortige Diplomatie sich seit Monaten hinsichtlich der Sache hüllte, und der Versuch, zu einem Einvernehmen der Mächte über sie zu gelangen, ist nunmehr angeregt und trotz vieler Schwierigkeiten nicht ohne Aussicht, bei billigen und gemäßigten Ansprüchen auf Seiten der zunächst beteiligten Parteien zu einem mindestens bis auf weiteres befriedigenden Ergebnisse zu führen. Die Schwierig¬ keiten liegen nicht in Bulgarien, sondern hinter ihm, in dem Zielpunkte Ru߬ lands, zu dem der Weg über Bulgarien geht. Die Hoffnung, die neu erwacht ist, hat ihren Grund darin, daß in Petersburg wieder Glauben und Vertrauen auf den guten Willen der deutschen Politik eingekehrt zu sein scheint, ein Ver¬ trauen, welches so berechtigt ist, daß es nie eine Störung hätte erleiden sollen. Ein unbefangener Rückblick auf den Berliner Kongreß hätte genügt, um dieses Vertrauen, als es wankte, wiederherzustellen. Allerdings hatte Ru߬ land dort wesentliche Stücke von dem Ergebnis seines schwer erkämpften und teuer bezahlten Sieges aufgeben müssen, aber es behielt davon immer noch genug, um mit dem Ausgange des Streites zufrieden und dem deutschen Ver¬ mittler desselben dankbar sein zu können. Nußland hatte den Kongreß erstrebt und mit Hilfe des Fürsten Bismarck herbeigeführt. Niemals während der Ver¬ handlungen widersetzte er sich den russischen Anträgen, vielmehr fanden sie bei ihm ohne Ausnahme jede irgendwie mögliche Unterstützung, und in den meisten Fragen, wo Zwiespalt hinsichtlich der Wünsche seiner russischen Freunde ein¬ trat, gelang es dem deutschen Einflüsse, ihnen Erfüllung zu verschaffen. Bis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/564>, abgerufen am 27.06.2024.