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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

Aber kein Haus ist so ärmlich, so verfallen, wie das des Karaiten,*) das
sich ganz am äußersten Ende des Städtchens an die Bodenwelle lehnt. Das
Haus und seine Bewohner sind der ganzen Judengemeinde ein Dorn im Auge,
und daß der Karaite nicht längst mit seinen beiden Kindern fortgezogen ist, wäre
unbegreiflich, wenn man nicht wüßte, daß seine Voreltern schon unter demselben
Drucke hier gelebt und ihm ihre Leiden als einzige Erbschaft hinterlassen haben.

Auf einem freien Platze in der Mitte des Städtchens, auf dem sogenannten
Markte, hielt der Reiter still, vor einem etwas weniger baufälligen und um ein
Geringes ansehnlichern Hause.

Hier muß es sein, sagte er laut. Aber wie kann ein Mensch von seiner
Bildung, seinen Ansprüchen hier leben!

In ein offnes Fenster blickend, nickte er einer Frau zu, die näher trat und
ihn fragend anstarrte. Ihr Kopf war mit einer grellroten Haube oder Binde
bedeckt, und weder Gestalt noch Antlitz verrieten Jngend oder Anmut. Ihre
Augen lagen tief in ihren Höhlen, auf den gelben Wangen zeigten sich dunkel¬
rote Flecke, und ihr Atem ging rasch und kurz. Ihr Gewand hing lose und
unordentlich um ihre hagere Gestalt, als sei es ihr nicht mehr der Mühe wert,
irgend eine Sorgfalt darauf zu verwenden.

Ist dies das Haus der Beronskis? fragte der junge Maun vom Pferde
herab in russischer Sprache.

Irgend etwas in seinem Tone, seiner Frage ärgerte die Frau, vielleicht
auch seine Jugend, sein Frohsinn oder sein Gesichtsausdruck, der sein Mißfallen,
seinen Widerwillen allzu deutlich zeigte.

Sie nickte nur und zog sich wieder tiefer ins Zimmer zurück.

Ist David Beronski zu Hause? Ich wünsche ihn zu sprechen, rief er ihr
kurz und befehlend zu, durch ihre abweisende Art gereizt.

Ohne ihn einer Autwort zu würdigen, öffnete sie eine Thür und rief in
das Haus hinein: David, geh hinaus, man fragt nach dir!

Sie sprach in dem Jargon, der unter allen Juden Rußlands gebräuchlich
ist und deutsch heißt, in Deutschland aber weder verstanden noch als deutsche
Sprache anerkannt werden würde. Auf russisch rief sie dem draußen immer
noch zu Pferde haltenden über die Achsel zu: David studirt! Der Sabbath ist
nicht mehr fern, er hat nicht viel Zeit.

Daran habe ich nicht gedacht. Ich möchte ihn aber wenigstens begrüßen.
Soll ich hinein kommen oder kommt er heraus?

Mein Mann wird hinaus kommen.

Ihr Mann? spöttisches Lächeln begleitete seinen ausdrucksvollen Blick.
Nein, das ist ein Irrtum! Ich will zu dem jungen David Beronski, der mit
mir auf der Schule in --



*) Eine Judmsektc.
David Beronski.

Aber kein Haus ist so ärmlich, so verfallen, wie das des Karaiten,*) das
sich ganz am äußersten Ende des Städtchens an die Bodenwelle lehnt. Das
Haus und seine Bewohner sind der ganzen Judengemeinde ein Dorn im Auge,
und daß der Karaite nicht längst mit seinen beiden Kindern fortgezogen ist, wäre
unbegreiflich, wenn man nicht wüßte, daß seine Voreltern schon unter demselben
Drucke hier gelebt und ihm ihre Leiden als einzige Erbschaft hinterlassen haben.

Auf einem freien Platze in der Mitte des Städtchens, auf dem sogenannten
Markte, hielt der Reiter still, vor einem etwas weniger baufälligen und um ein
Geringes ansehnlichern Hause.

Hier muß es sein, sagte er laut. Aber wie kann ein Mensch von seiner
Bildung, seinen Ansprüchen hier leben!

In ein offnes Fenster blickend, nickte er einer Frau zu, die näher trat und
ihn fragend anstarrte. Ihr Kopf war mit einer grellroten Haube oder Binde
bedeckt, und weder Gestalt noch Antlitz verrieten Jngend oder Anmut. Ihre
Augen lagen tief in ihren Höhlen, auf den gelben Wangen zeigten sich dunkel¬
rote Flecke, und ihr Atem ging rasch und kurz. Ihr Gewand hing lose und
unordentlich um ihre hagere Gestalt, als sei es ihr nicht mehr der Mühe wert,
irgend eine Sorgfalt darauf zu verwenden.

Ist dies das Haus der Beronskis? fragte der junge Maun vom Pferde
herab in russischer Sprache.

Irgend etwas in seinem Tone, seiner Frage ärgerte die Frau, vielleicht
auch seine Jugend, sein Frohsinn oder sein Gesichtsausdruck, der sein Mißfallen,
seinen Widerwillen allzu deutlich zeigte.

Sie nickte nur und zog sich wieder tiefer ins Zimmer zurück.

Ist David Beronski zu Hause? Ich wünsche ihn zu sprechen, rief er ihr
kurz und befehlend zu, durch ihre abweisende Art gereizt.

Ohne ihn einer Autwort zu würdigen, öffnete sie eine Thür und rief in
das Haus hinein: David, geh hinaus, man fragt nach dir!

Sie sprach in dem Jargon, der unter allen Juden Rußlands gebräuchlich
ist und deutsch heißt, in Deutschland aber weder verstanden noch als deutsche
Sprache anerkannt werden würde. Auf russisch rief sie dem draußen immer
noch zu Pferde haltenden über die Achsel zu: David studirt! Der Sabbath ist
nicht mehr fern, er hat nicht viel Zeit.

Daran habe ich nicht gedacht. Ich möchte ihn aber wenigstens begrüßen.
Soll ich hinein kommen oder kommt er heraus?

Mein Mann wird hinaus kommen.

Ihr Mann? spöttisches Lächeln begleitete seinen ausdrucksvollen Blick.
Nein, das ist ein Irrtum! Ich will zu dem jungen David Beronski, der mit
mir auf der Schule in —



*) Eine Judmsektc.
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[0056] David Beronski. Aber kein Haus ist so ärmlich, so verfallen, wie das des Karaiten,*) das sich ganz am äußersten Ende des Städtchens an die Bodenwelle lehnt. Das Haus und seine Bewohner sind der ganzen Judengemeinde ein Dorn im Auge, und daß der Karaite nicht längst mit seinen beiden Kindern fortgezogen ist, wäre unbegreiflich, wenn man nicht wüßte, daß seine Voreltern schon unter demselben Drucke hier gelebt und ihm ihre Leiden als einzige Erbschaft hinterlassen haben. Auf einem freien Platze in der Mitte des Städtchens, auf dem sogenannten Markte, hielt der Reiter still, vor einem etwas weniger baufälligen und um ein Geringes ansehnlichern Hause. Hier muß es sein, sagte er laut. Aber wie kann ein Mensch von seiner Bildung, seinen Ansprüchen hier leben! In ein offnes Fenster blickend, nickte er einer Frau zu, die näher trat und ihn fragend anstarrte. Ihr Kopf war mit einer grellroten Haube oder Binde bedeckt, und weder Gestalt noch Antlitz verrieten Jngend oder Anmut. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen, auf den gelben Wangen zeigten sich dunkel¬ rote Flecke, und ihr Atem ging rasch und kurz. Ihr Gewand hing lose und unordentlich um ihre hagere Gestalt, als sei es ihr nicht mehr der Mühe wert, irgend eine Sorgfalt darauf zu verwenden. Ist dies das Haus der Beronskis? fragte der junge Maun vom Pferde herab in russischer Sprache. Irgend etwas in seinem Tone, seiner Frage ärgerte die Frau, vielleicht auch seine Jugend, sein Frohsinn oder sein Gesichtsausdruck, der sein Mißfallen, seinen Widerwillen allzu deutlich zeigte. Sie nickte nur und zog sich wieder tiefer ins Zimmer zurück. Ist David Beronski zu Hause? Ich wünsche ihn zu sprechen, rief er ihr kurz und befehlend zu, durch ihre abweisende Art gereizt. Ohne ihn einer Autwort zu würdigen, öffnete sie eine Thür und rief in das Haus hinein: David, geh hinaus, man fragt nach dir! Sie sprach in dem Jargon, der unter allen Juden Rußlands gebräuchlich ist und deutsch heißt, in Deutschland aber weder verstanden noch als deutsche Sprache anerkannt werden würde. Auf russisch rief sie dem draußen immer noch zu Pferde haltenden über die Achsel zu: David studirt! Der Sabbath ist nicht mehr fern, er hat nicht viel Zeit. Daran habe ich nicht gedacht. Ich möchte ihn aber wenigstens begrüßen. Soll ich hinein kommen oder kommt er heraus? Mein Mann wird hinaus kommen. Ihr Mann? spöttisches Lächeln begleitete seinen ausdrucksvollen Blick. Nein, das ist ein Irrtum! Ich will zu dem jungen David Beronski, der mit mir auf der Schule in — *) Eine Judmsektc.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/56>, abgerufen am 27.06.2024.