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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

Das ist eine Erholung nach dem Wege, sagte der Reiter, ein junger, froh
ins Leben blickender Mann.

Der erste warme Frühlingsregen hatte Tausende von zarten Blütenkelchen
erschlossen, die wie helle Augen aus dem smaragdgrünen Grase lugten. Die
Bäume waren wie in einen grünen Schleier gehüllt, hinter dem sie schamhaft
ihr heimliches Werden, ihr Drängen und Treiben zu neuem Leben verbargen.
Blauflüglige Libellen und zahllose Mückenschwärme standen in den Sonnen¬
strahlen über dem Wasser, auf das sich eben ein Zug wilder Schwäne nieder¬
ließ. Das Röhricht des Sumpfes raschelte leise in einem schwachen Luftzuge,
der den Duft frischer, regenfeuchter Erde auf seinen Schwingen trug.

Ein unheimliches Gefühl durchschauerte den Reiter, als er auf die falsche,
trügerische, grüne Decke blickte. Unwiderstehlich zieht die Tiefe jeden hinab, der
sich darauf wagt, und die Geister mancher schlimmen, verborgnen That, deren
Kenntnis nie weiter gedrungen ist, schweben darüber. Selbst die Ziegen, die
sich hier ihre Nahrung suchen, meiden den Sumpf -- sie wissen, sie sind ver¬
loren, wenn sie sich ihm anvertrauen.

Der junge Mann ritt weiter, über eine kleine Bodenwelle, kaum Hügel zu
nennen, hinweg, hinter der sich für einen Fremden ganz ungeahnt die ärmlichen,
niedrigen Häuser des russischen Städtchens Urjansk zeigten, das hauptsächlich
von Juden bewohnt wird.

Sein Begründer that gut, es hier so zu verstecken, murmelte der Reiter,
indes sein Antlitz bei dem Anblick der Straßen Ekel und Widerwillen zeigte.
Je weniger man davon sieht, desto besser.

Er hatte Recht. Schmutz und Unrat jeder Art wird hier einfach vor die
Thüren oder aus den Fenstern geschüttet, vielleicht schwemmt ein tüchtiger
Regenguß von Zeit zu Zeit das schlimmste fort, aber nur um neuem Platz zu
machen. Und nicht besser stehts im Innern. Die Häuser sind unreinlich, die
Menschen unsauber und abstoßend. Selbst in der Sabbathkleidnng zeigt sich
eine grenzenlose Gleichgiltigkeit aller gegen das Wohlthuende einer schönen Er¬
scheinung in irgend welcher Form. Die Menschen sind nicht durchgängig häßlich
oder abschreckend, aber die Natur rächt an den Enkeln die Vernachlässigung
der Väter.

Der junge Mann konnte vom Pferde herab in die Häuser sehen. Überall
wurden Vorbereitungen zum Sabbath getroffen. Gebctsmäntel lagen bereit,
Sabbathkleider wurden hervor geholt, es ward gekocht und gebraten; will doch
auch der Ärmste sein Stück Fleisch zum Sabbath haben. Die Frauen reinigten
und schmückten die Wohnungen und stellten Lampen und Kerzen bereit, damit
das Mahl beginnen könne, sobald die Männer den Tempel verlassen hätten.

Die Häuser bestehen mit wenig Ausnahmen aus Flechtwerk, dessen Zwischen¬
räume mit Lehm ausgefüllt sind. Giebt es hier wohlhabende Menschen, so
merkt man es ihren Wohnungen wenigstens nicht an.


David Beronski.

Das ist eine Erholung nach dem Wege, sagte der Reiter, ein junger, froh
ins Leben blickender Mann.

Der erste warme Frühlingsregen hatte Tausende von zarten Blütenkelchen
erschlossen, die wie helle Augen aus dem smaragdgrünen Grase lugten. Die
Bäume waren wie in einen grünen Schleier gehüllt, hinter dem sie schamhaft
ihr heimliches Werden, ihr Drängen und Treiben zu neuem Leben verbargen.
Blauflüglige Libellen und zahllose Mückenschwärme standen in den Sonnen¬
strahlen über dem Wasser, auf das sich eben ein Zug wilder Schwäne nieder¬
ließ. Das Röhricht des Sumpfes raschelte leise in einem schwachen Luftzuge,
der den Duft frischer, regenfeuchter Erde auf seinen Schwingen trug.

Ein unheimliches Gefühl durchschauerte den Reiter, als er auf die falsche,
trügerische, grüne Decke blickte. Unwiderstehlich zieht die Tiefe jeden hinab, der
sich darauf wagt, und die Geister mancher schlimmen, verborgnen That, deren
Kenntnis nie weiter gedrungen ist, schweben darüber. Selbst die Ziegen, die
sich hier ihre Nahrung suchen, meiden den Sumpf — sie wissen, sie sind ver¬
loren, wenn sie sich ihm anvertrauen.

Der junge Mann ritt weiter, über eine kleine Bodenwelle, kaum Hügel zu
nennen, hinweg, hinter der sich für einen Fremden ganz ungeahnt die ärmlichen,
niedrigen Häuser des russischen Städtchens Urjansk zeigten, das hauptsächlich
von Juden bewohnt wird.

Sein Begründer that gut, es hier so zu verstecken, murmelte der Reiter,
indes sein Antlitz bei dem Anblick der Straßen Ekel und Widerwillen zeigte.
Je weniger man davon sieht, desto besser.

Er hatte Recht. Schmutz und Unrat jeder Art wird hier einfach vor die
Thüren oder aus den Fenstern geschüttet, vielleicht schwemmt ein tüchtiger
Regenguß von Zeit zu Zeit das schlimmste fort, aber nur um neuem Platz zu
machen. Und nicht besser stehts im Innern. Die Häuser sind unreinlich, die
Menschen unsauber und abstoßend. Selbst in der Sabbathkleidnng zeigt sich
eine grenzenlose Gleichgiltigkeit aller gegen das Wohlthuende einer schönen Er¬
scheinung in irgend welcher Form. Die Menschen sind nicht durchgängig häßlich
oder abschreckend, aber die Natur rächt an den Enkeln die Vernachlässigung
der Väter.

Der junge Mann konnte vom Pferde herab in die Häuser sehen. Überall
wurden Vorbereitungen zum Sabbath getroffen. Gebctsmäntel lagen bereit,
Sabbathkleider wurden hervor geholt, es ward gekocht und gebraten; will doch
auch der Ärmste sein Stück Fleisch zum Sabbath haben. Die Frauen reinigten
und schmückten die Wohnungen und stellten Lampen und Kerzen bereit, damit
das Mahl beginnen könne, sobald die Männer den Tempel verlassen hätten.

Die Häuser bestehen mit wenig Ausnahmen aus Flechtwerk, dessen Zwischen¬
räume mit Lehm ausgefüllt sind. Giebt es hier wohlhabende Menschen, so
merkt man es ihren Wohnungen wenigstens nicht an.


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[0055] David Beronski. Das ist eine Erholung nach dem Wege, sagte der Reiter, ein junger, froh ins Leben blickender Mann. Der erste warme Frühlingsregen hatte Tausende von zarten Blütenkelchen erschlossen, die wie helle Augen aus dem smaragdgrünen Grase lugten. Die Bäume waren wie in einen grünen Schleier gehüllt, hinter dem sie schamhaft ihr heimliches Werden, ihr Drängen und Treiben zu neuem Leben verbargen. Blauflüglige Libellen und zahllose Mückenschwärme standen in den Sonnen¬ strahlen über dem Wasser, auf das sich eben ein Zug wilder Schwäne nieder¬ ließ. Das Röhricht des Sumpfes raschelte leise in einem schwachen Luftzuge, der den Duft frischer, regenfeuchter Erde auf seinen Schwingen trug. Ein unheimliches Gefühl durchschauerte den Reiter, als er auf die falsche, trügerische, grüne Decke blickte. Unwiderstehlich zieht die Tiefe jeden hinab, der sich darauf wagt, und die Geister mancher schlimmen, verborgnen That, deren Kenntnis nie weiter gedrungen ist, schweben darüber. Selbst die Ziegen, die sich hier ihre Nahrung suchen, meiden den Sumpf — sie wissen, sie sind ver¬ loren, wenn sie sich ihm anvertrauen. Der junge Mann ritt weiter, über eine kleine Bodenwelle, kaum Hügel zu nennen, hinweg, hinter der sich für einen Fremden ganz ungeahnt die ärmlichen, niedrigen Häuser des russischen Städtchens Urjansk zeigten, das hauptsächlich von Juden bewohnt wird. Sein Begründer that gut, es hier so zu verstecken, murmelte der Reiter, indes sein Antlitz bei dem Anblick der Straßen Ekel und Widerwillen zeigte. Je weniger man davon sieht, desto besser. Er hatte Recht. Schmutz und Unrat jeder Art wird hier einfach vor die Thüren oder aus den Fenstern geschüttet, vielleicht schwemmt ein tüchtiger Regenguß von Zeit zu Zeit das schlimmste fort, aber nur um neuem Platz zu machen. Und nicht besser stehts im Innern. Die Häuser sind unreinlich, die Menschen unsauber und abstoßend. Selbst in der Sabbathkleidnng zeigt sich eine grenzenlose Gleichgiltigkeit aller gegen das Wohlthuende einer schönen Er¬ scheinung in irgend welcher Form. Die Menschen sind nicht durchgängig häßlich oder abschreckend, aber die Natur rächt an den Enkeln die Vernachlässigung der Väter. Der junge Mann konnte vom Pferde herab in die Häuser sehen. Überall wurden Vorbereitungen zum Sabbath getroffen. Gebctsmäntel lagen bereit, Sabbathkleider wurden hervor geholt, es ward gekocht und gebraten; will doch auch der Ärmste sein Stück Fleisch zum Sabbath haben. Die Frauen reinigten und schmückten die Wohnungen und stellten Lampen und Kerzen bereit, damit das Mahl beginnen könne, sobald die Männer den Tempel verlassen hätten. Die Häuser bestehen mit wenig Ausnahmen aus Flechtwerk, dessen Zwischen¬ räume mit Lehm ausgefüllt sind. Giebt es hier wohlhabende Menschen, so merkt man es ihren Wohnungen wenigstens nicht an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/55>, abgerufen am 27.06.2024.