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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gin böser Geist im heutigen England.

unsers Landes. Was geistlichem Znsprmhe nicht nachgeben wollte, hat durch den
Einfluß vieler Entwicklungen weltlicher gesellschaftlicher Verhältnisse mittelbar
den Anforderungen der Selbstsucht nachgegeben. Der Cent hat uns bis in unsre
Triebe hinein verdorben, und es wäre ein interessantes Problem, wenn man sich
die Frage vorlegte, ob er nicht auch auf das Gepräge unsrer Gesichtszüge einge¬
wirkt und jene cigcutttmliche Mundbildung hervorgerufen hat, welche die englische
Rasse so häufig kennzeichnet. Wie sehr er in unsern Gedankengang eindringt,
kann man an der juristischen Fiktion sehen, daß nichts den Wahrspruch von zwölf
englischen Geschwornen aufhebe" könne. Ist jemand unschuldig zu Zucht¬
haus verurteilt, so kann er nur begnadigt, nicht aber wieder in den vorigen
Stand eingesetzt werden und für seine Leiden Entschädigung erlangen. Selbst
unsre Sprache zeigt unverkennbare Merkmale von Carl. Wir nennen eine
Menschenrasse liosnMÄ viciwallvrs, die gar nicht die Erlaubnis hat, Viktualien
zu verkaufen, und dies nur selten thut. Sie haben die Erlaubnis, alkoholische
Getränke zu verkaufen und selbst diese zu verfälschen. Der bloße Ausdruck
enthält eine gleißnerische Lüge, durch deren allgemeine Verwendung und Billigung
jetzt eine Körperschaft vou Leuten bezeichnet wird, welche früher das Schicksal
eines Ministeriums entschied."

In das Kapitel vom gesellschaftlichen Carl gehört das stete Bestreben der
englischen Mittelklassen, sich und andre glauben zu machen, sie seien mehr, als
sie in Wirklichkeit sind, und das giebt ihrer ganzen Existenz mit ihren Be¬
schäftigungen und Freuden die Farbe der Unrecllitüt. Die Dienstboten sind nur
glücklich, wenn sie sich wie ihre Herrschaft putzen können. Ähnlich die Hand¬
werker, die kleinen Kaufleute, selbst Dichter und Schriftsteller. Dickens z. B.
ruinirte sich trotz sehr bedeutender Honorare dadurch, daß er es mit seineu
Ausgaben den Lords, mit denen er verkehrte und von denen er eingeladen
wurde, gleichzuthun versuchte. Überall fast mühen sich die englischen Mittel¬
klassen ab, der Welt die Meinung beizubringen, es gebe ein Verbindungsglied
Mischen ihnen und den gesellschaftlich höherstehenden, und machen sich dadurch
unglücklich. Ein milde Form des gesellschaftlichen Meißner- und Scheinwesens
ist die Gewohnheit der Parlamentarier und Minister, ihre Reden mit griechischen
und lateinischen Zitaten zu spicken. Diese sind nicht für "den Verbrauch durch
das Publikum" berechnet, sondern sollen nur an die gesellschaftliche Stellung der
Redner und ihrer Zuhörer, an die Erziehung derselben zu Gentlemen erinnern,
die sie in Eton oder Harrow durchgemacht haben. Es ist eine allgemein an¬
genommene Einbildung, daß nur vornehme Leute mit dem Griechischen und
Lateinischen vertraut seien, obwohl die, welche am häufigsten solche Zitate ver¬
üben, vielleicht am wenigsten in die betreffenden Litteraturen eingedrungen sind.
Sobald irgendwo in der Welt ein Skandal an den Tag kommt, giebt uns der
britische Löwe, dieses Wappentier voll Überhebung und Gleißnerei. sofort sein
vergnügtes Gebrüll zu genießen. Ganz anders, wenn etwas derart zu Hause


Grenzboten I. 1883. W
Gin böser Geist im heutigen England.

unsers Landes. Was geistlichem Znsprmhe nicht nachgeben wollte, hat durch den
Einfluß vieler Entwicklungen weltlicher gesellschaftlicher Verhältnisse mittelbar
den Anforderungen der Selbstsucht nachgegeben. Der Cent hat uns bis in unsre
Triebe hinein verdorben, und es wäre ein interessantes Problem, wenn man sich
die Frage vorlegte, ob er nicht auch auf das Gepräge unsrer Gesichtszüge einge¬
wirkt und jene cigcutttmliche Mundbildung hervorgerufen hat, welche die englische
Rasse so häufig kennzeichnet. Wie sehr er in unsern Gedankengang eindringt,
kann man an der juristischen Fiktion sehen, daß nichts den Wahrspruch von zwölf
englischen Geschwornen aufhebe» könne. Ist jemand unschuldig zu Zucht¬
haus verurteilt, so kann er nur begnadigt, nicht aber wieder in den vorigen
Stand eingesetzt werden und für seine Leiden Entschädigung erlangen. Selbst
unsre Sprache zeigt unverkennbare Merkmale von Carl. Wir nennen eine
Menschenrasse liosnMÄ viciwallvrs, die gar nicht die Erlaubnis hat, Viktualien
zu verkaufen, und dies nur selten thut. Sie haben die Erlaubnis, alkoholische
Getränke zu verkaufen und selbst diese zu verfälschen. Der bloße Ausdruck
enthält eine gleißnerische Lüge, durch deren allgemeine Verwendung und Billigung
jetzt eine Körperschaft vou Leuten bezeichnet wird, welche früher das Schicksal
eines Ministeriums entschied."

In das Kapitel vom gesellschaftlichen Carl gehört das stete Bestreben der
englischen Mittelklassen, sich und andre glauben zu machen, sie seien mehr, als
sie in Wirklichkeit sind, und das giebt ihrer ganzen Existenz mit ihren Be¬
schäftigungen und Freuden die Farbe der Unrecllitüt. Die Dienstboten sind nur
glücklich, wenn sie sich wie ihre Herrschaft putzen können. Ähnlich die Hand¬
werker, die kleinen Kaufleute, selbst Dichter und Schriftsteller. Dickens z. B.
ruinirte sich trotz sehr bedeutender Honorare dadurch, daß er es mit seineu
Ausgaben den Lords, mit denen er verkehrte und von denen er eingeladen
wurde, gleichzuthun versuchte. Überall fast mühen sich die englischen Mittel¬
klassen ab, der Welt die Meinung beizubringen, es gebe ein Verbindungsglied
Mischen ihnen und den gesellschaftlich höherstehenden, und machen sich dadurch
unglücklich. Ein milde Form des gesellschaftlichen Meißner- und Scheinwesens
ist die Gewohnheit der Parlamentarier und Minister, ihre Reden mit griechischen
und lateinischen Zitaten zu spicken. Diese sind nicht für „den Verbrauch durch
das Publikum" berechnet, sondern sollen nur an die gesellschaftliche Stellung der
Redner und ihrer Zuhörer, an die Erziehung derselben zu Gentlemen erinnern,
die sie in Eton oder Harrow durchgemacht haben. Es ist eine allgemein an¬
genommene Einbildung, daß nur vornehme Leute mit dem Griechischen und
Lateinischen vertraut seien, obwohl die, welche am häufigsten solche Zitate ver¬
üben, vielleicht am wenigsten in die betreffenden Litteraturen eingedrungen sind.
Sobald irgendwo in der Welt ein Skandal an den Tag kommt, giebt uns der
britische Löwe, dieses Wappentier voll Überhebung und Gleißnerei. sofort sein
vergnügtes Gebrüll zu genießen. Ganz anders, wenn etwas derart zu Hause


Grenzboten I. 1883. W
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[0545] Gin böser Geist im heutigen England. unsers Landes. Was geistlichem Znsprmhe nicht nachgeben wollte, hat durch den Einfluß vieler Entwicklungen weltlicher gesellschaftlicher Verhältnisse mittelbar den Anforderungen der Selbstsucht nachgegeben. Der Cent hat uns bis in unsre Triebe hinein verdorben, und es wäre ein interessantes Problem, wenn man sich die Frage vorlegte, ob er nicht auch auf das Gepräge unsrer Gesichtszüge einge¬ wirkt und jene cigcutttmliche Mundbildung hervorgerufen hat, welche die englische Rasse so häufig kennzeichnet. Wie sehr er in unsern Gedankengang eindringt, kann man an der juristischen Fiktion sehen, daß nichts den Wahrspruch von zwölf englischen Geschwornen aufhebe» könne. Ist jemand unschuldig zu Zucht¬ haus verurteilt, so kann er nur begnadigt, nicht aber wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden und für seine Leiden Entschädigung erlangen. Selbst unsre Sprache zeigt unverkennbare Merkmale von Carl. Wir nennen eine Menschenrasse liosnMÄ viciwallvrs, die gar nicht die Erlaubnis hat, Viktualien zu verkaufen, und dies nur selten thut. Sie haben die Erlaubnis, alkoholische Getränke zu verkaufen und selbst diese zu verfälschen. Der bloße Ausdruck enthält eine gleißnerische Lüge, durch deren allgemeine Verwendung und Billigung jetzt eine Körperschaft vou Leuten bezeichnet wird, welche früher das Schicksal eines Ministeriums entschied." In das Kapitel vom gesellschaftlichen Carl gehört das stete Bestreben der englischen Mittelklassen, sich und andre glauben zu machen, sie seien mehr, als sie in Wirklichkeit sind, und das giebt ihrer ganzen Existenz mit ihren Be¬ schäftigungen und Freuden die Farbe der Unrecllitüt. Die Dienstboten sind nur glücklich, wenn sie sich wie ihre Herrschaft putzen können. Ähnlich die Hand¬ werker, die kleinen Kaufleute, selbst Dichter und Schriftsteller. Dickens z. B. ruinirte sich trotz sehr bedeutender Honorare dadurch, daß er es mit seineu Ausgaben den Lords, mit denen er verkehrte und von denen er eingeladen wurde, gleichzuthun versuchte. Überall fast mühen sich die englischen Mittel¬ klassen ab, der Welt die Meinung beizubringen, es gebe ein Verbindungsglied Mischen ihnen und den gesellschaftlich höherstehenden, und machen sich dadurch unglücklich. Ein milde Form des gesellschaftlichen Meißner- und Scheinwesens ist die Gewohnheit der Parlamentarier und Minister, ihre Reden mit griechischen und lateinischen Zitaten zu spicken. Diese sind nicht für „den Verbrauch durch das Publikum" berechnet, sondern sollen nur an die gesellschaftliche Stellung der Redner und ihrer Zuhörer, an die Erziehung derselben zu Gentlemen erinnern, die sie in Eton oder Harrow durchgemacht haben. Es ist eine allgemein an¬ genommene Einbildung, daß nur vornehme Leute mit dem Griechischen und Lateinischen vertraut seien, obwohl die, welche am häufigsten solche Zitate ver¬ üben, vielleicht am wenigsten in die betreffenden Litteraturen eingedrungen sind. Sobald irgendwo in der Welt ein Skandal an den Tag kommt, giebt uns der britische Löwe, dieses Wappentier voll Überhebung und Gleißnerei. sofort sein vergnügtes Gebrüll zu genießen. Ganz anders, wenn etwas derart zu Hause Grenzboten I. 1883. W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/545>, abgerufen am 27.06.2024.