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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Lin böser Geist im heutigen England.

aufgedeckt wird. Dann brüllt er entrüstete Mißbilligung über den Frevel,
welcher zeigt, daß Jupiter Ammon mit Sägespänen ausgestopft ist. Kaum
hatte die englische Gesellschaft den unangenehmen Eindruck der Grevilleschcn
Memoiren verwunden, in welchen sie daran erinnert wurde, daß Albion noch
vor kurzem von einem Dummköpfe und vor ihm von einem elenden Wüstling
regiert worden war, als die Biographie Samuel Wilberforces und die Briefe
Carlyles und seiner Frau erschienen. Was für Enthüllungen! heulte die wohl-
gekleidete respektable Menge. Welche Frechheit, welche unverzeihliche Indiskretion,
den Schleier von dem Privatleben verstorbener hervorragender Männer zu
heben! Die Herausgeber wissen nicht, was sich schickt und gehört, haben weder
Takt noch Herz. Es ist ganz erschrecklich, wie sie jedes Herkommen und Recht
unsrer Gesellschaft mißachtet haben. Woher diese Wehklagen und Vorwürfe?
Ist die Gesellschaft wirklich so eifrig darauf bedacht, daß niemandes Gefühle
durch Bloßstellung verletzt werden sollen? Will sie in Wahrheit nicht sagen
lassen, daß ihre großen Männer auch Schwächen und Gebrechen hatten? O
nein, sie denkt dabei an sich selbst, daran, daß sie sich verehrungsvoll vor ihnen
gebeugt hat, und anderseits, namentlich bei Carlyles Briefen, daran, daß der
Entschleierte eine sehr geringe Meinung von ihr und ihrer Gleißnerei und allem
hatte, worauf sie Wert legt. Kalte und gleichgiltige Manieren lassen sich bei
der englischen Aristokratie mehr oder minder entschuldigen, ganz unnatürlich da¬
gegen ist es, wenn die Mittelklasse, um vornehm zu scheinen, sie sich miegt.
Der hohe Adel hat kein warmes Familienleben, die Glieder seiner Familie sind
getrennt durch den Brauch, nach welchem stets der älteste Sohn Erbe des Titels
und Grundbesitzes derselben ist, und interessiren sich wenig für einander, und
das überträgt sich dann auf das ganze Lebensgebiet. Die Mittelklassen leiden
daran von Hause aus nicht. Ihre Kälte ist gemacht, Cent, Scheinwesen, und als
solches umso deutlicher zu erkennen, als sie immer ein liebenswürdig sein sol¬
lendes freundliches Grinsen in der Tasche haben, das die kalte Zugeknöpftheit
plötzlich unterbricht, wenn es zweckdienlich erscheint. Das wären so einige Bei¬
spiele des gesellschaftlichen Carl im heutigen England, über welchen Gordon
in seinem Tagebuche schreibt: "Ich freue mich innig, Großbritannien mit seinen
langweiligen Abendgesellschaften und andern Erbärmlichkeiten nie wieder zu
sehen. Es ist eine vollständige Knechtschaft. Bei diesen Zusammenkünften sind
wir alle in Masken, sagen, was wir nicht glauben, essen, was wir nicht brauchen,
und reden hinterher übles von einander. Lieber wollte ich als Derwisch beim
Mahdi leben, als jeden Abend in London in Gesellschaft gehen."

Voll von Carl ist die englische Tagespresse Fremde Völker haben, hier
bei Streitigkeiten mit England nie das geringste Recht und Verdienst. Die
Leistungen der britischen Soldaten im Kriege sind nicht nur allezeit glorreich,
sondern lassen sich nur mit den Thaten des Altertums vergleichen. Die Gegner
werden stets zu Schurken, Verrätern und Rebellen. Giebt es eine Niederlage


Lin böser Geist im heutigen England.

aufgedeckt wird. Dann brüllt er entrüstete Mißbilligung über den Frevel,
welcher zeigt, daß Jupiter Ammon mit Sägespänen ausgestopft ist. Kaum
hatte die englische Gesellschaft den unangenehmen Eindruck der Grevilleschcn
Memoiren verwunden, in welchen sie daran erinnert wurde, daß Albion noch
vor kurzem von einem Dummköpfe und vor ihm von einem elenden Wüstling
regiert worden war, als die Biographie Samuel Wilberforces und die Briefe
Carlyles und seiner Frau erschienen. Was für Enthüllungen! heulte die wohl-
gekleidete respektable Menge. Welche Frechheit, welche unverzeihliche Indiskretion,
den Schleier von dem Privatleben verstorbener hervorragender Männer zu
heben! Die Herausgeber wissen nicht, was sich schickt und gehört, haben weder
Takt noch Herz. Es ist ganz erschrecklich, wie sie jedes Herkommen und Recht
unsrer Gesellschaft mißachtet haben. Woher diese Wehklagen und Vorwürfe?
Ist die Gesellschaft wirklich so eifrig darauf bedacht, daß niemandes Gefühle
durch Bloßstellung verletzt werden sollen? Will sie in Wahrheit nicht sagen
lassen, daß ihre großen Männer auch Schwächen und Gebrechen hatten? O
nein, sie denkt dabei an sich selbst, daran, daß sie sich verehrungsvoll vor ihnen
gebeugt hat, und anderseits, namentlich bei Carlyles Briefen, daran, daß der
Entschleierte eine sehr geringe Meinung von ihr und ihrer Gleißnerei und allem
hatte, worauf sie Wert legt. Kalte und gleichgiltige Manieren lassen sich bei
der englischen Aristokratie mehr oder minder entschuldigen, ganz unnatürlich da¬
gegen ist es, wenn die Mittelklasse, um vornehm zu scheinen, sie sich miegt.
Der hohe Adel hat kein warmes Familienleben, die Glieder seiner Familie sind
getrennt durch den Brauch, nach welchem stets der älteste Sohn Erbe des Titels
und Grundbesitzes derselben ist, und interessiren sich wenig für einander, und
das überträgt sich dann auf das ganze Lebensgebiet. Die Mittelklassen leiden
daran von Hause aus nicht. Ihre Kälte ist gemacht, Cent, Scheinwesen, und als
solches umso deutlicher zu erkennen, als sie immer ein liebenswürdig sein sol¬
lendes freundliches Grinsen in der Tasche haben, das die kalte Zugeknöpftheit
plötzlich unterbricht, wenn es zweckdienlich erscheint. Das wären so einige Bei¬
spiele des gesellschaftlichen Carl im heutigen England, über welchen Gordon
in seinem Tagebuche schreibt: „Ich freue mich innig, Großbritannien mit seinen
langweiligen Abendgesellschaften und andern Erbärmlichkeiten nie wieder zu
sehen. Es ist eine vollständige Knechtschaft. Bei diesen Zusammenkünften sind
wir alle in Masken, sagen, was wir nicht glauben, essen, was wir nicht brauchen,
und reden hinterher übles von einander. Lieber wollte ich als Derwisch beim
Mahdi leben, als jeden Abend in London in Gesellschaft gehen."

Voll von Carl ist die englische Tagespresse Fremde Völker haben, hier
bei Streitigkeiten mit England nie das geringste Recht und Verdienst. Die
Leistungen der britischen Soldaten im Kriege sind nicht nur allezeit glorreich,
sondern lassen sich nur mit den Thaten des Altertums vergleichen. Die Gegner
werden stets zu Schurken, Verrätern und Rebellen. Giebt es eine Niederlage


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[0546] Lin böser Geist im heutigen England. aufgedeckt wird. Dann brüllt er entrüstete Mißbilligung über den Frevel, welcher zeigt, daß Jupiter Ammon mit Sägespänen ausgestopft ist. Kaum hatte die englische Gesellschaft den unangenehmen Eindruck der Grevilleschcn Memoiren verwunden, in welchen sie daran erinnert wurde, daß Albion noch vor kurzem von einem Dummköpfe und vor ihm von einem elenden Wüstling regiert worden war, als die Biographie Samuel Wilberforces und die Briefe Carlyles und seiner Frau erschienen. Was für Enthüllungen! heulte die wohl- gekleidete respektable Menge. Welche Frechheit, welche unverzeihliche Indiskretion, den Schleier von dem Privatleben verstorbener hervorragender Männer zu heben! Die Herausgeber wissen nicht, was sich schickt und gehört, haben weder Takt noch Herz. Es ist ganz erschrecklich, wie sie jedes Herkommen und Recht unsrer Gesellschaft mißachtet haben. Woher diese Wehklagen und Vorwürfe? Ist die Gesellschaft wirklich so eifrig darauf bedacht, daß niemandes Gefühle durch Bloßstellung verletzt werden sollen? Will sie in Wahrheit nicht sagen lassen, daß ihre großen Männer auch Schwächen und Gebrechen hatten? O nein, sie denkt dabei an sich selbst, daran, daß sie sich verehrungsvoll vor ihnen gebeugt hat, und anderseits, namentlich bei Carlyles Briefen, daran, daß der Entschleierte eine sehr geringe Meinung von ihr und ihrer Gleißnerei und allem hatte, worauf sie Wert legt. Kalte und gleichgiltige Manieren lassen sich bei der englischen Aristokratie mehr oder minder entschuldigen, ganz unnatürlich da¬ gegen ist es, wenn die Mittelklasse, um vornehm zu scheinen, sie sich miegt. Der hohe Adel hat kein warmes Familienleben, die Glieder seiner Familie sind getrennt durch den Brauch, nach welchem stets der älteste Sohn Erbe des Titels und Grundbesitzes derselben ist, und interessiren sich wenig für einander, und das überträgt sich dann auf das ganze Lebensgebiet. Die Mittelklassen leiden daran von Hause aus nicht. Ihre Kälte ist gemacht, Cent, Scheinwesen, und als solches umso deutlicher zu erkennen, als sie immer ein liebenswürdig sein sol¬ lendes freundliches Grinsen in der Tasche haben, das die kalte Zugeknöpftheit plötzlich unterbricht, wenn es zweckdienlich erscheint. Das wären so einige Bei¬ spiele des gesellschaftlichen Carl im heutigen England, über welchen Gordon in seinem Tagebuche schreibt: „Ich freue mich innig, Großbritannien mit seinen langweiligen Abendgesellschaften und andern Erbärmlichkeiten nie wieder zu sehen. Es ist eine vollständige Knechtschaft. Bei diesen Zusammenkünften sind wir alle in Masken, sagen, was wir nicht glauben, essen, was wir nicht brauchen, und reden hinterher übles von einander. Lieber wollte ich als Derwisch beim Mahdi leben, als jeden Abend in London in Gesellschaft gehen." Voll von Carl ist die englische Tagespresse Fremde Völker haben, hier bei Streitigkeiten mit England nie das geringste Recht und Verdienst. Die Leistungen der britischen Soldaten im Kriege sind nicht nur allezeit glorreich, sondern lassen sich nur mit den Thaten des Altertums vergleichen. Die Gegner werden stets zu Schurken, Verrätern und Rebellen. Giebt es eine Niederlage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/546>, abgerufen am 28.09.2024.