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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Lin böser Geist im heutigen England.

gezogenwcrden wurde ein sozialer Hebel zu Gunsten der jüngern Söhne der
obern Klassen, und da die Amtsverlcihungen sich fast ausschließlich in den Händen
der Krone und der großen Grundeigentümer befanden, so wurden sie nur in
deren Interesse verteilt. Statt, wie bisher, im Interesse des Stellvertreters
Sankt Peters zu arbeiten, richteten unsre Kirchenfttrsten im Einklange mit den
Klassen, aus denen sie hervorgegangen waren, ihren Einfluß vornehmlich auf
Befestigung der weltlichen Stellung ihrer Kaste, ihrer Familie und Vetternschaft____
Nicht das Familienband an sich wirkte notwendig in diesem Geiste; denn alle
Geistlichen andrer protestantischen Gemeinschaften heiraten, ohne daß die Ehe
ihren geistlichen Beruf beeinträchtigt. Aber da die Kirche von England wesentlich
aristokratisch ist, so verstärkte das Hinzutreten der Familie eine schon vor¬
geschriebene Richtung. Es begünstigte die Gründung einer mächtigen Oligarchie,
die seitdem stets darauf bedacht gewesen ist, nicht nur die weltlichen Interessen
ihres Standes wahrzunehmen, sondern auch die weltliche Stellung ihrer Sprö߬
linge und Verwandten zu fördern. Durch den stärksten aller Triebe, den der
Selbsterhaltung, gezwungen, hinaufzublicken zu der Quelle weltlicher Begnadigung,
entfremdete sich diese Geistlichkeit natürlich sehr bald den niedern Klassen, was
durch den Umstand verstärkt wurde, daß unsre Kleriker niemals, wie in andern
Ländern, allen Klassen gleich, sondern einzig den höhern und obern Mittelklassen
entnommen wurden. Immer war es das Bestreben unsers Klerus, zunächst ein
"Gentleman", dann erst der Hirt einer Herde zu sein, ein Gentleman mit all
der Engherzigkeit, die der Ausdruck oft einschließt, wo Rücksicht auf die Bedürf¬
nisse und Gefühle andrer unbekannt ist____Dieses soziale Nachobcnblicken unsrer
Geistlichkeit und der Umstand, daß sie Generationen hindurch die Erziehung
unsrer Jugend in ihren Händen gehabt und ihr drei Jahrhunderte lang die
Triebe eingepfropft hat, denen sie selbst ihr Emporkommen verdankt, but haupt¬
sächlich jenes verlogne Reptil, unsern englischen, respektabel", herkömmlichen Cent
erzeugt. Es hat den Grund gelegt zu jener schweifwedelnden Erniedrigung vor
Rang und gesellschaftlicher Macht, welche immer der größte Schandfleck der
englischen Nasse geblieben ist. Es ist in unsre öffentlichen Schulen gepflanzt
wurden, wo es Menschencilter hindurch Parole war, erst ein Gentleman zu
werden, und dann erst etwas zu lernen. Ja nicht nur das, auch die Definition
des Wortes "Gentleman" befand sich ausschließlich in den Händen einer Körper¬
schaft, deren Oberster -- der Direktor der Schule -- unabänderlich 6- bis
8000 Pfund Sterling für das Einprägen derselben bezieht. . . . Diese Einflüsse
sind jetzt über dreihundert Jahre an der Arbeit gewesen und haben die Gemein¬
schaft nach allen vier Richtungen der Windrose durchdrungen bis auf die untern
Klassen, welche weder von geistlichen Einflüssen noch vom Cent berührt worden
sind, da sie von ihnen nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren hatten. Sie
haben selbst solche Eleniente ergriffen, welche eine gewissenhafte religiöse Über¬
zeugung darstellten, die Anhänger Wesleys und die zahlreichen Dissentergemcinden


Lin böser Geist im heutigen England.

gezogenwcrden wurde ein sozialer Hebel zu Gunsten der jüngern Söhne der
obern Klassen, und da die Amtsverlcihungen sich fast ausschließlich in den Händen
der Krone und der großen Grundeigentümer befanden, so wurden sie nur in
deren Interesse verteilt. Statt, wie bisher, im Interesse des Stellvertreters
Sankt Peters zu arbeiten, richteten unsre Kirchenfttrsten im Einklange mit den
Klassen, aus denen sie hervorgegangen waren, ihren Einfluß vornehmlich auf
Befestigung der weltlichen Stellung ihrer Kaste, ihrer Familie und Vetternschaft____
Nicht das Familienband an sich wirkte notwendig in diesem Geiste; denn alle
Geistlichen andrer protestantischen Gemeinschaften heiraten, ohne daß die Ehe
ihren geistlichen Beruf beeinträchtigt. Aber da die Kirche von England wesentlich
aristokratisch ist, so verstärkte das Hinzutreten der Familie eine schon vor¬
geschriebene Richtung. Es begünstigte die Gründung einer mächtigen Oligarchie,
die seitdem stets darauf bedacht gewesen ist, nicht nur die weltlichen Interessen
ihres Standes wahrzunehmen, sondern auch die weltliche Stellung ihrer Sprö߬
linge und Verwandten zu fördern. Durch den stärksten aller Triebe, den der
Selbsterhaltung, gezwungen, hinaufzublicken zu der Quelle weltlicher Begnadigung,
entfremdete sich diese Geistlichkeit natürlich sehr bald den niedern Klassen, was
durch den Umstand verstärkt wurde, daß unsre Kleriker niemals, wie in andern
Ländern, allen Klassen gleich, sondern einzig den höhern und obern Mittelklassen
entnommen wurden. Immer war es das Bestreben unsers Klerus, zunächst ein
»Gentleman«, dann erst der Hirt einer Herde zu sein, ein Gentleman mit all
der Engherzigkeit, die der Ausdruck oft einschließt, wo Rücksicht auf die Bedürf¬
nisse und Gefühle andrer unbekannt ist____Dieses soziale Nachobcnblicken unsrer
Geistlichkeit und der Umstand, daß sie Generationen hindurch die Erziehung
unsrer Jugend in ihren Händen gehabt und ihr drei Jahrhunderte lang die
Triebe eingepfropft hat, denen sie selbst ihr Emporkommen verdankt, but haupt¬
sächlich jenes verlogne Reptil, unsern englischen, respektabel», herkömmlichen Cent
erzeugt. Es hat den Grund gelegt zu jener schweifwedelnden Erniedrigung vor
Rang und gesellschaftlicher Macht, welche immer der größte Schandfleck der
englischen Nasse geblieben ist. Es ist in unsre öffentlichen Schulen gepflanzt
wurden, wo es Menschencilter hindurch Parole war, erst ein Gentleman zu
werden, und dann erst etwas zu lernen. Ja nicht nur das, auch die Definition
des Wortes »Gentleman« befand sich ausschließlich in den Händen einer Körper¬
schaft, deren Oberster — der Direktor der Schule — unabänderlich 6- bis
8000 Pfund Sterling für das Einprägen derselben bezieht. . . . Diese Einflüsse
sind jetzt über dreihundert Jahre an der Arbeit gewesen und haben die Gemein¬
schaft nach allen vier Richtungen der Windrose durchdrungen bis auf die untern
Klassen, welche weder von geistlichen Einflüssen noch vom Cent berührt worden
sind, da sie von ihnen nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren hatten. Sie
haben selbst solche Eleniente ergriffen, welche eine gewissenhafte religiöse Über¬
zeugung darstellten, die Anhänger Wesleys und die zahlreichen Dissentergemcinden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/544>, abgerufen am 28.09.2024.