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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Im Mondschein mit Goethe.

die Sonne stand fest, um sie lief die Erde und läuft sie noch und reißt unsern
Mond, der wieder sie eigenläufig umkreist, in anmutigen Schnörkeln mit sich
herum. Die Erde ist eine Tochter der Sonne geworden, ein von ihrem Leibe
abgeschleuderter, jetzt notdürftig umkrusteter Feuertropfen, der Mond aber hat
sich als ein Kind der Erde entpuppt, die Sonne ist seine Großmutter ge¬
worden. Freilich weiß er das nicht, unser Freund, denn nach irdischen Be¬
griffen ist er tot, und nur seinen Leichnam führt Mutter Erde, die auch schon
beginnt zu erkalten, noch mit sich herum, während Großmutter Sonne noch
von Jugendfeuer glüht und noch Kind und Kindeskind mit ihren Strahlen be¬
leuchtet, so liebevoll, daß jene im Weltengewimmel immer noch wiederstrahlend
zu sehen sind und, obwohl längst kalt und finster, scheinbar doch mit gleichem
Feuer leuchten.

Schwester von dem ersten Licht

redet deshalb sogar der Dichter, antiker Anschauung folgend, den Trabanten
der Erde an,


Bild der Zärtlichkeit in Trauer,
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht!

(An Luna.)

Im Sphärengeschlecht der Weltkörper setzt sich das Leben der Ahnen nicht
in demjenigen der Nachkommen fort wie bei uns Menschen; da ist es Vorwitz,
geboren zu werden. Der Enkel stirbt unrettbar ab vor dem Kinde, dieses vor
der Mutter, und wenn endlich letzterer das Leben erlischt, die Glut verblaßt, da
sind Kinder und Enkel nicht einmal mehr sichtbar, dunkle Gerippe nur noch --
wenn nicht längst zerschellt, zu Atomen aufgelöst und im Weltraum verloren!

Daß der Mond uns jetzt so verödet erscheint, das könnte uns zunächst
wohl mit dem Gefühl des Ängstlicher, Unheimlichen erfüllen. Da möchte uns
grauen vor seinem Vollglanze, der uns so trügerisch und gespenstig umleuchten
darf, und richtiger möchte es uns dünken, wenn er uns nie anders anblickte,
als mit dem Greisenantlitz, mit welchem er dereinst den nächtlichen Spuk der
Vlocksbergwallfahrt zuschaute:


Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran
(Faust I, Walpurgisnacht) Und leuchtet schlecht,

Da möchten wir der Lotte des Dichters Recht geben, wenn sie sagt:


Niemals gehe ich im Mondlicht spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine
Verstorbene begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme.

(Werther, Erstes Buch.)

Von Tod!


Es schweigt der Wind!
Es flicht der Stern!
Der trübe Mond verbirgt sich gern!

(Faust I, Walpurgisnacht.)

Aber auch von Zukunft!


Grenzboten I. 1883. 6K
Im Mondschein mit Goethe.

die Sonne stand fest, um sie lief die Erde und läuft sie noch und reißt unsern
Mond, der wieder sie eigenläufig umkreist, in anmutigen Schnörkeln mit sich
herum. Die Erde ist eine Tochter der Sonne geworden, ein von ihrem Leibe
abgeschleuderter, jetzt notdürftig umkrusteter Feuertropfen, der Mond aber hat
sich als ein Kind der Erde entpuppt, die Sonne ist seine Großmutter ge¬
worden. Freilich weiß er das nicht, unser Freund, denn nach irdischen Be¬
griffen ist er tot, und nur seinen Leichnam führt Mutter Erde, die auch schon
beginnt zu erkalten, noch mit sich herum, während Großmutter Sonne noch
von Jugendfeuer glüht und noch Kind und Kindeskind mit ihren Strahlen be¬
leuchtet, so liebevoll, daß jene im Weltengewimmel immer noch wiederstrahlend
zu sehen sind und, obwohl längst kalt und finster, scheinbar doch mit gleichem
Feuer leuchten.

Schwester von dem ersten Licht

redet deshalb sogar der Dichter, antiker Anschauung folgend, den Trabanten
der Erde an,


Bild der Zärtlichkeit in Trauer,
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht!

(An Luna.)

Im Sphärengeschlecht der Weltkörper setzt sich das Leben der Ahnen nicht
in demjenigen der Nachkommen fort wie bei uns Menschen; da ist es Vorwitz,
geboren zu werden. Der Enkel stirbt unrettbar ab vor dem Kinde, dieses vor
der Mutter, und wenn endlich letzterer das Leben erlischt, die Glut verblaßt, da
sind Kinder und Enkel nicht einmal mehr sichtbar, dunkle Gerippe nur noch —
wenn nicht längst zerschellt, zu Atomen aufgelöst und im Weltraum verloren!

Daß der Mond uns jetzt so verödet erscheint, das könnte uns zunächst
wohl mit dem Gefühl des Ängstlicher, Unheimlichen erfüllen. Da möchte uns
grauen vor seinem Vollglanze, der uns so trügerisch und gespenstig umleuchten
darf, und richtiger möchte es uns dünken, wenn er uns nie anders anblickte,
als mit dem Greisenantlitz, mit welchem er dereinst den nächtlichen Spuk der
Vlocksbergwallfahrt zuschaute:


Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran
(Faust I, Walpurgisnacht) Und leuchtet schlecht,

Da möchten wir der Lotte des Dichters Recht geben, wenn sie sagt:


Niemals gehe ich im Mondlicht spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine
Verstorbene begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme.

(Werther, Erstes Buch.)

Von Tod!


Es schweigt der Wind!
Es flicht der Stern!
Der trübe Mond verbirgt sich gern!

(Faust I, Walpurgisnacht.)

Aber auch von Zukunft!


Grenzboten I. 1883. 6K
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[0521] Im Mondschein mit Goethe. die Sonne stand fest, um sie lief die Erde und läuft sie noch und reißt unsern Mond, der wieder sie eigenläufig umkreist, in anmutigen Schnörkeln mit sich herum. Die Erde ist eine Tochter der Sonne geworden, ein von ihrem Leibe abgeschleuderter, jetzt notdürftig umkrusteter Feuertropfen, der Mond aber hat sich als ein Kind der Erde entpuppt, die Sonne ist seine Großmutter ge¬ worden. Freilich weiß er das nicht, unser Freund, denn nach irdischen Be¬ griffen ist er tot, und nur seinen Leichnam führt Mutter Erde, die auch schon beginnt zu erkalten, noch mit sich herum, während Großmutter Sonne noch von Jugendfeuer glüht und noch Kind und Kindeskind mit ihren Strahlen be¬ leuchtet, so liebevoll, daß jene im Weltengewimmel immer noch wiederstrahlend zu sehen sind und, obwohl längst kalt und finster, scheinbar doch mit gleichem Feuer leuchten. Schwester von dem ersten Licht redet deshalb sogar der Dichter, antiker Anschauung folgend, den Trabanten der Erde an, Bild der Zärtlichkeit in Trauer, Nebel schwimmt mit Silberschauer Um dein reizendes Gesicht! (An Luna.) Im Sphärengeschlecht der Weltkörper setzt sich das Leben der Ahnen nicht in demjenigen der Nachkommen fort wie bei uns Menschen; da ist es Vorwitz, geboren zu werden. Der Enkel stirbt unrettbar ab vor dem Kinde, dieses vor der Mutter, und wenn endlich letzterer das Leben erlischt, die Glut verblaßt, da sind Kinder und Enkel nicht einmal mehr sichtbar, dunkle Gerippe nur noch — wenn nicht längst zerschellt, zu Atomen aufgelöst und im Weltraum verloren! Daß der Mond uns jetzt so verödet erscheint, das könnte uns zunächst wohl mit dem Gefühl des Ängstlicher, Unheimlichen erfüllen. Da möchte uns grauen vor seinem Vollglanze, der uns so trügerisch und gespenstig umleuchten darf, und richtiger möchte es uns dünken, wenn er uns nie anders anblickte, als mit dem Greisenantlitz, mit welchem er dereinst den nächtlichen Spuk der Vlocksbergwallfahrt zuschaute: Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe Des roten Monds mit später Glut heran (Faust I, Walpurgisnacht) Und leuchtet schlecht, Da möchten wir der Lotte des Dichters Recht geben, wenn sie sagt: Niemals gehe ich im Mondlicht spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbene begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme. (Werther, Erstes Buch.) Von Tod! Es schweigt der Wind! Es flicht der Stern! Der trübe Mond verbirgt sich gern! (Faust I, Walpurgisnacht.) Aber auch von Zukunft! Grenzboten I. 1883. 6K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/521>, abgerufen am 28.09.2024.