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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Im Mondschein mit Goethe.

O Luna, ich vergesse
Der Sonne gar gerne.
O Luna, ich vergesse
In deinen sanften Strahlen,
In deinem lieben Lichte,
Vor deinem Angesichts
Der Sonne der Welt!

(Die ungleichen Hausgenossen, vierter Akt.)

Ja. vergessen läßt sie uns die nächtliche Leuchte, und mit ihr den Druck der
aufreibenden Gegenwart; wir werden ruhig. Aber es ist nicht die totenähnliche,
das Bewußtsein gänzlich verlöschende Ruhe des Schlafes, es ist nur die Ruhe
der stillen Reflexion, des Empfindens. Vergangenheit und Zukunft, an die wir
im Lichte der Sonne so selten und dann meist nur sorgenvoll denken können,
dürfen sich im Lichte des Mondes faltenlos vor unsern geistigen Blicken aus¬
breiten; zu ihrer selbstlosen, stillen Betrachtung regt er uns an.


Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemcssne Weite.
Hebe mich an deine Seite!

(An Luna)

ruft es dann in unserm Innersten.

Der Nachtwandler versucht es. mit seinem Körper zum Monde emporzu¬
klimmen, so weit er kann; wir aber schwimmen wenigstens in Gedanken so gern
mit ihm in der Weite des Raumes und der Zeiten. Sein geborgtes Licht
erinnert uns zwar noch daran, daß wir der Erde und der Gegenwart ange¬
hören, hält uns mit beiden noch zusammen. Aber wir sind ihr Knecht nicht
mehr, wenn er uns scheint. Erde und Gegenwart, wir haben sie unter uns,
wie die Sonne selbst, die beide uns versinnlicht, über uns aber sein mild leuchtendes
Antlitz!

Auch bei Tage steht ja der Mond am Himmel, doch da erdrückt ihn der
Feuerpfuhl der Sonne, man sieht ihn kaum. Hast du, lieber Leser, den Mond
einmal bei Tage gesehen -- nein, zufällig entdeckt? Dann und wann gewiß.
Dann weißt du es:


Der stille Mond, der dich bei Nacht erfreut,
Dein Auge, dein Gemüt mit seinem Schein
Unwiderstehlich lockt, er schwebt am Tage
Ein unbedeutend blasses Wölkchen hin.

(Tasso IV, 2.)

Wie anders, wenn sich die Sonne senkt!


Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh';
Schwarzverticste Finsternisse
Wiederspiegelnd ruht der See.

Im Mondschein mit Goethe.

O Luna, ich vergesse
Der Sonne gar gerne.
O Luna, ich vergesse
In deinen sanften Strahlen,
In deinem lieben Lichte,
Vor deinem Angesichts
Der Sonne der Welt!

(Die ungleichen Hausgenossen, vierter Akt.)

Ja. vergessen läßt sie uns die nächtliche Leuchte, und mit ihr den Druck der
aufreibenden Gegenwart; wir werden ruhig. Aber es ist nicht die totenähnliche,
das Bewußtsein gänzlich verlöschende Ruhe des Schlafes, es ist nur die Ruhe
der stillen Reflexion, des Empfindens. Vergangenheit und Zukunft, an die wir
im Lichte der Sonne so selten und dann meist nur sorgenvoll denken können,
dürfen sich im Lichte des Mondes faltenlos vor unsern geistigen Blicken aus¬
breiten; zu ihrer selbstlosen, stillen Betrachtung regt er uns an.


Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemcssne Weite.
Hebe mich an deine Seite!

(An Luna)

ruft es dann in unserm Innersten.

Der Nachtwandler versucht es. mit seinem Körper zum Monde emporzu¬
klimmen, so weit er kann; wir aber schwimmen wenigstens in Gedanken so gern
mit ihm in der Weite des Raumes und der Zeiten. Sein geborgtes Licht
erinnert uns zwar noch daran, daß wir der Erde und der Gegenwart ange¬
hören, hält uns mit beiden noch zusammen. Aber wir sind ihr Knecht nicht
mehr, wenn er uns scheint. Erde und Gegenwart, wir haben sie unter uns,
wie die Sonne selbst, die beide uns versinnlicht, über uns aber sein mild leuchtendes
Antlitz!

Auch bei Tage steht ja der Mond am Himmel, doch da erdrückt ihn der
Feuerpfuhl der Sonne, man sieht ihn kaum. Hast du, lieber Leser, den Mond
einmal bei Tage gesehen — nein, zufällig entdeckt? Dann und wann gewiß.
Dann weißt du es:


Der stille Mond, der dich bei Nacht erfreut,
Dein Auge, dein Gemüt mit seinem Schein
Unwiderstehlich lockt, er schwebt am Tage
Ein unbedeutend blasses Wölkchen hin.

(Tasso IV, 2.)

Wie anders, wenn sich die Sonne senkt!


Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh';
Schwarzverticste Finsternisse
Wiederspiegelnd ruht der See.

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[0515] Im Mondschein mit Goethe. O Luna, ich vergesse Der Sonne gar gerne. O Luna, ich vergesse In deinen sanften Strahlen, In deinem lieben Lichte, Vor deinem Angesichts Der Sonne der Welt! (Die ungleichen Hausgenossen, vierter Akt.) Ja. vergessen läßt sie uns die nächtliche Leuchte, und mit ihr den Druck der aufreibenden Gegenwart; wir werden ruhig. Aber es ist nicht die totenähnliche, das Bewußtsein gänzlich verlöschende Ruhe des Schlafes, es ist nur die Ruhe der stillen Reflexion, des Empfindens. Vergangenheit und Zukunft, an die wir im Lichte der Sonne so selten und dann meist nur sorgenvoll denken können, dürfen sich im Lichte des Mondes faltenlos vor unsern geistigen Blicken aus¬ breiten; zu ihrer selbstlosen, stillen Betrachtung regt er uns an. Forschend übersieht dein Blick Eine großgemcssne Weite. Hebe mich an deine Seite! (An Luna) ruft es dann in unserm Innersten. Der Nachtwandler versucht es. mit seinem Körper zum Monde emporzu¬ klimmen, so weit er kann; wir aber schwimmen wenigstens in Gedanken so gern mit ihm in der Weite des Raumes und der Zeiten. Sein geborgtes Licht erinnert uns zwar noch daran, daß wir der Erde und der Gegenwart ange¬ hören, hält uns mit beiden noch zusammen. Aber wir sind ihr Knecht nicht mehr, wenn er uns scheint. Erde und Gegenwart, wir haben sie unter uns, wie die Sonne selbst, die beide uns versinnlicht, über uns aber sein mild leuchtendes Antlitz! Auch bei Tage steht ja der Mond am Himmel, doch da erdrückt ihn der Feuerpfuhl der Sonne, man sieht ihn kaum. Hast du, lieber Leser, den Mond einmal bei Tage gesehen — nein, zufällig entdeckt? Dann und wann gewiß. Dann weißt du es: Der stille Mond, der dich bei Nacht erfreut, Dein Auge, dein Gemüt mit seinem Schein Unwiderstehlich lockt, er schwebt am Tage Ein unbedeutend blasses Wölkchen hin. (Tasso IV, 2.) Wie anders, wenn sich die Sonne senkt! Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh'; Schwarzverticste Finsternisse Wiederspiegelnd ruht der See.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/515>, abgerufen am 28.09.2024.