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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Welches du bauen wirst, sechshundert Elleu seien das Maß seiner Länge und
sechzig Ellen das Maß seiner Breite und Höhe. Lasse es ins Meer und be¬
decke es mit einem Dach!"

Hasisathra baute dem Befehle gemäß das Schiff in fünf Tagen, teilte es
in Kammern und Stockwerke und füllte es, mit Nahrungsmitteln. Drei Saren
-- ein babylonisches Hohlmaß von bedeutender Größe -- goß er über die
Seiten an Erdpech; ebensoviel verwandte er für die Innenseite, das Schiff zu
dichten. Dann brachte er sein Hab und Gut, lebendiges und lebloses, Gesinde,
Vieh, Gold und Silber, auch seine Freunde, auf das Schiff. Dann sprach die
Stimme des Sonnengottes Samas zu ihm: "Besteige das Fahrzeug! Denn am
Abend wird der Himmel regnen lassen. Und schließe die Thür hinte dir zu!"

Hasisathra gehorcht hangend dem Befehle und wartet der Dinge, die da
kommen sollen; die Leitung des Schiffes aber übergiebt er dem Steuermanne
Buzurkurgul. Nicht lange, so beginnen die zerstörenden Elemente ihre Arbeit.
Dichtes, schwarzes Gewölk erhebt sich am Horizont, der Donnergott Naman
erhebt seine Stimme, die Götter Nahn und Scharru beginnen ihr Werk, die
ganze Erde verheerend. Auch aus der Tiefe brechen die Fluten hervor, das
Wasser beginnt himmelan zu steigen; die Erde erbebt in ihren Festen, und das
Licht wird zur Finsternis.

Sechs Tage und sechs Nächte vergehen so, ohne daß Sturm und Wolken¬
bruch nur im geringsten nachlassen. Als aber der siebente Tag anbrach, da
wurde Regen und Wind schwächer, und das Meer begann sich zurückzuziehen.
"Und -- so führt Hasisathra fort -- ich blickte hinaus aufs offne Meer und
schaute aufmerksam, und die ganze Menschheit war wieder zu Schlamm ge¬
worden. Wie Wasserpflanzen schwammen die Leichen. Ich öffnete das Fenster
und das Licht traf mich. Ich ward ergriffen von Schmerz und setzte mich und
weinte; und meine Thränen flössen über mein Antlitz."

Auch Istar beklagt sich, und die übrigen Götter weinen mit ihr, als sie
den Kampf der Elemente und seine Folgen sehen. Das Schiff aber wurde über
das Gebirge Nizio getragen, wo es sechs Tage hängen blieb. Als aber wieder
der siebente Tag anbrach, ließ Hasisathra eine Taube fliegen; aber sie fand
keinen Ruheplatz und kehrte zurück. Dann ließ er eine Schwalbe fliegen, die
gleichfalls zurückkehrte. Dann "ließ ich einen Naben fliegen; der Rabe enteilte
und sah die Äser auf den Gewässern. Er fraß, ruhte aus, drehte sich im Fluge
und kehrte nicht wieder."

Nun ließ Hasisathra aussteigen, brachte ein Opfer und richtete einen Altar
auf dem Berge auf, sodaß die Götter herbeikamen und sich scharten um das
Opfer. "Die hehre Göttin Istar aber hob in die Höhe die großen Bogen, die
ihr Vater, der Himmelsgott Ann, geschaffen hatte."

Soweit der Bericht des Keilschrifttextes.

Bei allen sofort in die Augen fallenden Ähnlichkeiten dieser Überlieferung


Grenzboten I. 1S88, 56

Welches du bauen wirst, sechshundert Elleu seien das Maß seiner Länge und
sechzig Ellen das Maß seiner Breite und Höhe. Lasse es ins Meer und be¬
decke es mit einem Dach!"

Hasisathra baute dem Befehle gemäß das Schiff in fünf Tagen, teilte es
in Kammern und Stockwerke und füllte es, mit Nahrungsmitteln. Drei Saren
— ein babylonisches Hohlmaß von bedeutender Größe — goß er über die
Seiten an Erdpech; ebensoviel verwandte er für die Innenseite, das Schiff zu
dichten. Dann brachte er sein Hab und Gut, lebendiges und lebloses, Gesinde,
Vieh, Gold und Silber, auch seine Freunde, auf das Schiff. Dann sprach die
Stimme des Sonnengottes Samas zu ihm: „Besteige das Fahrzeug! Denn am
Abend wird der Himmel regnen lassen. Und schließe die Thür hinte dir zu!"

Hasisathra gehorcht hangend dem Befehle und wartet der Dinge, die da
kommen sollen; die Leitung des Schiffes aber übergiebt er dem Steuermanne
Buzurkurgul. Nicht lange, so beginnen die zerstörenden Elemente ihre Arbeit.
Dichtes, schwarzes Gewölk erhebt sich am Horizont, der Donnergott Naman
erhebt seine Stimme, die Götter Nahn und Scharru beginnen ihr Werk, die
ganze Erde verheerend. Auch aus der Tiefe brechen die Fluten hervor, das
Wasser beginnt himmelan zu steigen; die Erde erbebt in ihren Festen, und das
Licht wird zur Finsternis.

Sechs Tage und sechs Nächte vergehen so, ohne daß Sturm und Wolken¬
bruch nur im geringsten nachlassen. Als aber der siebente Tag anbrach, da
wurde Regen und Wind schwächer, und das Meer begann sich zurückzuziehen.
„Und — so führt Hasisathra fort — ich blickte hinaus aufs offne Meer und
schaute aufmerksam, und die ganze Menschheit war wieder zu Schlamm ge¬
worden. Wie Wasserpflanzen schwammen die Leichen. Ich öffnete das Fenster
und das Licht traf mich. Ich ward ergriffen von Schmerz und setzte mich und
weinte; und meine Thränen flössen über mein Antlitz."

Auch Istar beklagt sich, und die übrigen Götter weinen mit ihr, als sie
den Kampf der Elemente und seine Folgen sehen. Das Schiff aber wurde über
das Gebirge Nizio getragen, wo es sechs Tage hängen blieb. Als aber wieder
der siebente Tag anbrach, ließ Hasisathra eine Taube fliegen; aber sie fand
keinen Ruheplatz und kehrte zurück. Dann ließ er eine Schwalbe fliegen, die
gleichfalls zurückkehrte. Dann „ließ ich einen Naben fliegen; der Rabe enteilte
und sah die Äser auf den Gewässern. Er fraß, ruhte aus, drehte sich im Fluge
und kehrte nicht wieder."

Nun ließ Hasisathra aussteigen, brachte ein Opfer und richtete einen Altar
auf dem Berge auf, sodaß die Götter herbeikamen und sich scharten um das
Opfer. „Die hehre Göttin Istar aber hob in die Höhe die großen Bogen, die
ihr Vater, der Himmelsgott Ann, geschaffen hatte."

Soweit der Bericht des Keilschrifttextes.

Bei allen sofort in die Augen fallenden Ähnlichkeiten dieser Überlieferung


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[0449] Welches du bauen wirst, sechshundert Elleu seien das Maß seiner Länge und sechzig Ellen das Maß seiner Breite und Höhe. Lasse es ins Meer und be¬ decke es mit einem Dach!" Hasisathra baute dem Befehle gemäß das Schiff in fünf Tagen, teilte es in Kammern und Stockwerke und füllte es, mit Nahrungsmitteln. Drei Saren — ein babylonisches Hohlmaß von bedeutender Größe — goß er über die Seiten an Erdpech; ebensoviel verwandte er für die Innenseite, das Schiff zu dichten. Dann brachte er sein Hab und Gut, lebendiges und lebloses, Gesinde, Vieh, Gold und Silber, auch seine Freunde, auf das Schiff. Dann sprach die Stimme des Sonnengottes Samas zu ihm: „Besteige das Fahrzeug! Denn am Abend wird der Himmel regnen lassen. Und schließe die Thür hinte dir zu!" Hasisathra gehorcht hangend dem Befehle und wartet der Dinge, die da kommen sollen; die Leitung des Schiffes aber übergiebt er dem Steuermanne Buzurkurgul. Nicht lange, so beginnen die zerstörenden Elemente ihre Arbeit. Dichtes, schwarzes Gewölk erhebt sich am Horizont, der Donnergott Naman erhebt seine Stimme, die Götter Nahn und Scharru beginnen ihr Werk, die ganze Erde verheerend. Auch aus der Tiefe brechen die Fluten hervor, das Wasser beginnt himmelan zu steigen; die Erde erbebt in ihren Festen, und das Licht wird zur Finsternis. Sechs Tage und sechs Nächte vergehen so, ohne daß Sturm und Wolken¬ bruch nur im geringsten nachlassen. Als aber der siebente Tag anbrach, da wurde Regen und Wind schwächer, und das Meer begann sich zurückzuziehen. „Und — so führt Hasisathra fort — ich blickte hinaus aufs offne Meer und schaute aufmerksam, und die ganze Menschheit war wieder zu Schlamm ge¬ worden. Wie Wasserpflanzen schwammen die Leichen. Ich öffnete das Fenster und das Licht traf mich. Ich ward ergriffen von Schmerz und setzte mich und weinte; und meine Thränen flössen über mein Antlitz." Auch Istar beklagt sich, und die übrigen Götter weinen mit ihr, als sie den Kampf der Elemente und seine Folgen sehen. Das Schiff aber wurde über das Gebirge Nizio getragen, wo es sechs Tage hängen blieb. Als aber wieder der siebente Tag anbrach, ließ Hasisathra eine Taube fliegen; aber sie fand keinen Ruheplatz und kehrte zurück. Dann ließ er eine Schwalbe fliegen, die gleichfalls zurückkehrte. Dann „ließ ich einen Naben fliegen; der Rabe enteilte und sah die Äser auf den Gewässern. Er fraß, ruhte aus, drehte sich im Fluge und kehrte nicht wieder." Nun ließ Hasisathra aussteigen, brachte ein Opfer und richtete einen Altar auf dem Berge auf, sodaß die Götter herbeikamen und sich scharten um das Opfer. „Die hehre Göttin Istar aber hob in die Höhe die großen Bogen, die ihr Vater, der Himmelsgott Ann, geschaffen hatte." Soweit der Bericht des Keilschrifttextes. Bei allen sofort in die Augen fallenden Ähnlichkeiten dieser Überlieferung Grenzboten I. 1S88, 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/449>, abgerufen am 27.06.2024.