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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Dubar-Sage und der keilschiiftliche Sintstutbericht.

Leben absterben. Daß wir im Dubarmythus ein ähnliches annehmen dürfen,
ist bereits bemerkt.

Sahen wir nun, daß der Grieche da, wo er eine Episode der ihm über¬
kommenen Sage aus eigner Anschauung naturmythisch versteht, sie poetisch und
ethisch fein auszeichnet, so beweist uns doch die Schlußstellung der Krankheits¬
geschichte, daß er für den Zusammenhang der einzelnen Episoden, als Sinn¬
bildern eines abgerundeten Jahrescyklus, kein rechtes Verständnis mehr hatte.

Im griechischen Mythus folgt auf die Erkrankung der Tod; Abenteuer,
welche in der asiatischen Sage zwischen die Erkrankung und die Heilung, also
in die Zeit der größten Sonnenhitze, fallen, wie die Wanderung ins Land der
Seligen, in den Garten der Hesperiden, verlegt der Grieche vor des Helden
Krankheit, vor die Höllenfahrt. Was bedeuten die Äpfel der Hesperiden? Sind
sie das Sinnbild der materiellen Güter, besonders des Getreidesegens griechischer
Kolonien im Westen, auf Sizilien und in Italien? Die Erklärung ist mindestens
gesucht. Man darf wohl nur an das zivilisatorische Vordringen nach Westen
denken. Denn Herakles wird im griechischen Mythus aus dem Sonnenhelden
zugleich ein Kulturheld.

Im Dubarmythus hingegen hat die Wanderung nach Westen mit den dort
erwähnten Wunderbäumen einen bestimmten, durch die Episode wiedergegebenen
Sinn. Bevor die Sonne ihre verderbliche, sommerliche Kraft verliert, hat sie
alljährlich auch noch ein segensreiches Werk zu vollenden: die Reife des Weines.
Nichts andres bedeuten an ihrer Stelle die Bäume voll Rubinen und Sma¬
ragden als die Weinstöcke mit ihren schimmernden rotblauen und grünen Trauben.
Dubar trifft sie an auf seinem Zuge durch die Wüste nach dem großen Wasser,
also nach dem Westlande Kanaan und Phönizien. Wem fallen da nicht die
Trauben ein, welche die Kundschafter dem aus der Knechtschaft Ägyptens zurück¬
kehrenden Israel zeigten als kostbare Produkte des gelobten Landes? Palästina
war eben ein Weinland.

Und wer weist dem Dubar den Weg dahin? Vor Furchtbarkeit glühende
Gestalten sinds mit dem Schwänze eines Skorpions, deren Häupter an den
Himmel reichen, während sie mit den Füßen in der Erde stehen. Das sind die
dem Auge des aus der Wüste kommenden Wanderers hinter den Gebirgen
hervorragenden Sternbilder, darunter das eben aufgehende des Skorpions, in
welchem die Sonne während der Höhe der Weinernte und Weinbereitung steht.
Und endlich: was ist natürlicher, als daß Dubar zur Zeit und am Orte der
Weinerte seinen Ahn Hasisathra trifft, dessen biblischer Vetter Noah uns längst
aus der Genesis als Begründer des Weinbaues und des Weinknltus bekannt
ist? Sollte der Dubarmythus eine vollständige Versinnbildlichung des Jahres¬
laufes der Sonne sein, so durfte dieser Zug nicht fehlen, während er in der
griechischen Mythologie, die ihren umfangreichen Weinmythus in einem andern
Sagenkreise gründlich verarbeitete, gar nicht oder doch nur höchst verwischt und


Die Dubar-Sage und der keilschiiftliche Sintstutbericht.

Leben absterben. Daß wir im Dubarmythus ein ähnliches annehmen dürfen,
ist bereits bemerkt.

Sahen wir nun, daß der Grieche da, wo er eine Episode der ihm über¬
kommenen Sage aus eigner Anschauung naturmythisch versteht, sie poetisch und
ethisch fein auszeichnet, so beweist uns doch die Schlußstellung der Krankheits¬
geschichte, daß er für den Zusammenhang der einzelnen Episoden, als Sinn¬
bildern eines abgerundeten Jahrescyklus, kein rechtes Verständnis mehr hatte.

Im griechischen Mythus folgt auf die Erkrankung der Tod; Abenteuer,
welche in der asiatischen Sage zwischen die Erkrankung und die Heilung, also
in die Zeit der größten Sonnenhitze, fallen, wie die Wanderung ins Land der
Seligen, in den Garten der Hesperiden, verlegt der Grieche vor des Helden
Krankheit, vor die Höllenfahrt. Was bedeuten die Äpfel der Hesperiden? Sind
sie das Sinnbild der materiellen Güter, besonders des Getreidesegens griechischer
Kolonien im Westen, auf Sizilien und in Italien? Die Erklärung ist mindestens
gesucht. Man darf wohl nur an das zivilisatorische Vordringen nach Westen
denken. Denn Herakles wird im griechischen Mythus aus dem Sonnenhelden
zugleich ein Kulturheld.

Im Dubarmythus hingegen hat die Wanderung nach Westen mit den dort
erwähnten Wunderbäumen einen bestimmten, durch die Episode wiedergegebenen
Sinn. Bevor die Sonne ihre verderbliche, sommerliche Kraft verliert, hat sie
alljährlich auch noch ein segensreiches Werk zu vollenden: die Reife des Weines.
Nichts andres bedeuten an ihrer Stelle die Bäume voll Rubinen und Sma¬
ragden als die Weinstöcke mit ihren schimmernden rotblauen und grünen Trauben.
Dubar trifft sie an auf seinem Zuge durch die Wüste nach dem großen Wasser,
also nach dem Westlande Kanaan und Phönizien. Wem fallen da nicht die
Trauben ein, welche die Kundschafter dem aus der Knechtschaft Ägyptens zurück¬
kehrenden Israel zeigten als kostbare Produkte des gelobten Landes? Palästina
war eben ein Weinland.

Und wer weist dem Dubar den Weg dahin? Vor Furchtbarkeit glühende
Gestalten sinds mit dem Schwänze eines Skorpions, deren Häupter an den
Himmel reichen, während sie mit den Füßen in der Erde stehen. Das sind die
dem Auge des aus der Wüste kommenden Wanderers hinter den Gebirgen
hervorragenden Sternbilder, darunter das eben aufgehende des Skorpions, in
welchem die Sonne während der Höhe der Weinernte und Weinbereitung steht.
Und endlich: was ist natürlicher, als daß Dubar zur Zeit und am Orte der
Weinerte seinen Ahn Hasisathra trifft, dessen biblischer Vetter Noah uns längst
aus der Genesis als Begründer des Weinbaues und des Weinknltus bekannt
ist? Sollte der Dubarmythus eine vollständige Versinnbildlichung des Jahres¬
laufes der Sonne sein, so durfte dieser Zug nicht fehlen, während er in der
griechischen Mythologie, die ihren umfangreichen Weinmythus in einem andern
Sagenkreise gründlich verarbeitete, gar nicht oder doch nur höchst verwischt und


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[0447] Die Dubar-Sage und der keilschiiftliche Sintstutbericht. Leben absterben. Daß wir im Dubarmythus ein ähnliches annehmen dürfen, ist bereits bemerkt. Sahen wir nun, daß der Grieche da, wo er eine Episode der ihm über¬ kommenen Sage aus eigner Anschauung naturmythisch versteht, sie poetisch und ethisch fein auszeichnet, so beweist uns doch die Schlußstellung der Krankheits¬ geschichte, daß er für den Zusammenhang der einzelnen Episoden, als Sinn¬ bildern eines abgerundeten Jahrescyklus, kein rechtes Verständnis mehr hatte. Im griechischen Mythus folgt auf die Erkrankung der Tod; Abenteuer, welche in der asiatischen Sage zwischen die Erkrankung und die Heilung, also in die Zeit der größten Sonnenhitze, fallen, wie die Wanderung ins Land der Seligen, in den Garten der Hesperiden, verlegt der Grieche vor des Helden Krankheit, vor die Höllenfahrt. Was bedeuten die Äpfel der Hesperiden? Sind sie das Sinnbild der materiellen Güter, besonders des Getreidesegens griechischer Kolonien im Westen, auf Sizilien und in Italien? Die Erklärung ist mindestens gesucht. Man darf wohl nur an das zivilisatorische Vordringen nach Westen denken. Denn Herakles wird im griechischen Mythus aus dem Sonnenhelden zugleich ein Kulturheld. Im Dubarmythus hingegen hat die Wanderung nach Westen mit den dort erwähnten Wunderbäumen einen bestimmten, durch die Episode wiedergegebenen Sinn. Bevor die Sonne ihre verderbliche, sommerliche Kraft verliert, hat sie alljährlich auch noch ein segensreiches Werk zu vollenden: die Reife des Weines. Nichts andres bedeuten an ihrer Stelle die Bäume voll Rubinen und Sma¬ ragden als die Weinstöcke mit ihren schimmernden rotblauen und grünen Trauben. Dubar trifft sie an auf seinem Zuge durch die Wüste nach dem großen Wasser, also nach dem Westlande Kanaan und Phönizien. Wem fallen da nicht die Trauben ein, welche die Kundschafter dem aus der Knechtschaft Ägyptens zurück¬ kehrenden Israel zeigten als kostbare Produkte des gelobten Landes? Palästina war eben ein Weinland. Und wer weist dem Dubar den Weg dahin? Vor Furchtbarkeit glühende Gestalten sinds mit dem Schwänze eines Skorpions, deren Häupter an den Himmel reichen, während sie mit den Füßen in der Erde stehen. Das sind die dem Auge des aus der Wüste kommenden Wanderers hinter den Gebirgen hervorragenden Sternbilder, darunter das eben aufgehende des Skorpions, in welchem die Sonne während der Höhe der Weinernte und Weinbereitung steht. Und endlich: was ist natürlicher, als daß Dubar zur Zeit und am Orte der Weinerte seinen Ahn Hasisathra trifft, dessen biblischer Vetter Noah uns längst aus der Genesis als Begründer des Weinbaues und des Weinknltus bekannt ist? Sollte der Dubarmythus eine vollständige Versinnbildlichung des Jahres¬ laufes der Sonne sein, so durfte dieser Zug nicht fehlen, während er in der griechischen Mythologie, die ihren umfangreichen Weinmythus in einem andern Sagenkreise gründlich verarbeitete, gar nicht oder doch nur höchst verwischt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/447>, abgerufen am 27.09.2024.