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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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vorwürfe und vorwände.

zu betonen und zu schärfen, und um dabei zugleich manche Schattenseiten ihres
Wesens, recht wie zum Hohne, in der rücksichtslosesten Weise zu entfalten. Um
so unerläßlicher ist es, den hier obwaltenden Gegensatz als solchen zu erkennen
und öffentlich festzustellen, und sich bewußt zu werden, daß dieser fremde Tropfen
im Blute des modernen Staates früher oder später ausgetilgt werden muß,
keinesfalls aber zu schonen oder gar zu begünstigen ist." Das wäre ein offnes
und klares Wort und jedermann müßte anerkennen, daß daran viel Wahres
sei, und noch mehr, worüber sich wenigstens reden läßt. Es bleibt ja richtig,
daß dieser grundsätzliche Standpunkt gerade als solcher auch nicht unanfechtbar
ist; denn bis jetzt fehlt auch nur der Wahrschciulichkeitsbeweis, daß die moderne
Weltanschauung aussichtsvoll sei und in ihren Ergebnissen sich mehr und mehr
zum Bessern kehre, und gerade auf denjenigen Gebieten scheinen diese Ergebnisse
am zweifelhaftesten zu sein, wo die alte, von den grundsätzlichen Gegnern dieser
Anschauung vertretene ihr am schärfsten gegenübersteht. Dennoch muß anerkannt
werden, daß die, wenn auch vielleicht in manchen Punkten zu ändernde, moderne
Anschauung in hohem Maße naturnotwendig ist, und daß die Vertreter des Alten
ihr etwas ähnlich Geschlossenes nicht entgegenzustellen vermögen, schon darum nicht,
weil der moderne Geist, wenn auch ihnen selbst unbewußt, auch in ihnen mächtig
ist. Schwerlich ist also daran vorbeizukommen, daß Leute, deren ganzes Wesen
in der alten, trümmerhaft noch unter uns aufragenden Anschauung wurzelt, für
eine Verlorne Sache kämpfen, in deren Untergang sie selbst mit hineingerissen
werden müssen, und daß dieser Untergang durch die achtungswertesten im einzelnen
von ihnen zu entfaltenden Eigenschaften kaum aufgehalten, geschweige denn ver¬
hindert werden kann, während obendrein leidigerweise bei dieser Klasse von
Leuten auch solche Eigenschaften vorhanden sind, welche in hohem Maße darauf
hinwirken, den Untergang der alten Weltanschauung zu beschleunigen. Nichts
würde z. B. so sehr dazu beitragen, den Zusammenbruch hinauszuschieben,
als sorgsame Wirtschaftlichkeit, aber mag auch mancher der Vorwürfe, die den
Vertretern der alten Anschauung auf diesem Gebiete gemacht werden, übertrieben
und dabei noch gehässig zugespitzt sein, daß auf diesem Gebiete ihre Stärke nicht
liegt, kann unmöglich bestritten werden. Umsomehr fühlt man sich von un¬
befangnen Staudpunkte immer wieder veranlaßt, zu fragen: "Warum begnügt
man sich nicht mit Vorwürfen, die mit Recht erhoben werden können, sondern
ruft in der Hitze des Hasses und der sozialen Feindschaft noch allerhand
Annahmen und Behauptungen zu Hilfe, die wirklich nur als Vorwände be¬
zeichnet werden können, und die mit Notwendigkeit trübend und verwirrend
wirken, auch bei den Bekämpften das ohnehin vorhandene bittere Gefühl ver¬
stärken, es seien nur schlechte Mittel, mit denen man sie bekämpfe?"

Nehmen wir z. B. einen Punkt, der selbst in gemäßigten Blättern, ja sogar
in solchen, die an und für sich der alten Anschauung näher stehen als der mo¬
dernen, in neuester Zeit mehrfach geltend gemacht worden ist, und der dennoch


vorwürfe und vorwände.

zu betonen und zu schärfen, und um dabei zugleich manche Schattenseiten ihres
Wesens, recht wie zum Hohne, in der rücksichtslosesten Weise zu entfalten. Um
so unerläßlicher ist es, den hier obwaltenden Gegensatz als solchen zu erkennen
und öffentlich festzustellen, und sich bewußt zu werden, daß dieser fremde Tropfen
im Blute des modernen Staates früher oder später ausgetilgt werden muß,
keinesfalls aber zu schonen oder gar zu begünstigen ist." Das wäre ein offnes
und klares Wort und jedermann müßte anerkennen, daß daran viel Wahres
sei, und noch mehr, worüber sich wenigstens reden läßt. Es bleibt ja richtig,
daß dieser grundsätzliche Standpunkt gerade als solcher auch nicht unanfechtbar
ist; denn bis jetzt fehlt auch nur der Wahrschciulichkeitsbeweis, daß die moderne
Weltanschauung aussichtsvoll sei und in ihren Ergebnissen sich mehr und mehr
zum Bessern kehre, und gerade auf denjenigen Gebieten scheinen diese Ergebnisse
am zweifelhaftesten zu sein, wo die alte, von den grundsätzlichen Gegnern dieser
Anschauung vertretene ihr am schärfsten gegenübersteht. Dennoch muß anerkannt
werden, daß die, wenn auch vielleicht in manchen Punkten zu ändernde, moderne
Anschauung in hohem Maße naturnotwendig ist, und daß die Vertreter des Alten
ihr etwas ähnlich Geschlossenes nicht entgegenzustellen vermögen, schon darum nicht,
weil der moderne Geist, wenn auch ihnen selbst unbewußt, auch in ihnen mächtig
ist. Schwerlich ist also daran vorbeizukommen, daß Leute, deren ganzes Wesen
in der alten, trümmerhaft noch unter uns aufragenden Anschauung wurzelt, für
eine Verlorne Sache kämpfen, in deren Untergang sie selbst mit hineingerissen
werden müssen, und daß dieser Untergang durch die achtungswertesten im einzelnen
von ihnen zu entfaltenden Eigenschaften kaum aufgehalten, geschweige denn ver¬
hindert werden kann, während obendrein leidigerweise bei dieser Klasse von
Leuten auch solche Eigenschaften vorhanden sind, welche in hohem Maße darauf
hinwirken, den Untergang der alten Weltanschauung zu beschleunigen. Nichts
würde z. B. so sehr dazu beitragen, den Zusammenbruch hinauszuschieben,
als sorgsame Wirtschaftlichkeit, aber mag auch mancher der Vorwürfe, die den
Vertretern der alten Anschauung auf diesem Gebiete gemacht werden, übertrieben
und dabei noch gehässig zugespitzt sein, daß auf diesem Gebiete ihre Stärke nicht
liegt, kann unmöglich bestritten werden. Umsomehr fühlt man sich von un¬
befangnen Staudpunkte immer wieder veranlaßt, zu fragen: „Warum begnügt
man sich nicht mit Vorwürfen, die mit Recht erhoben werden können, sondern
ruft in der Hitze des Hasses und der sozialen Feindschaft noch allerhand
Annahmen und Behauptungen zu Hilfe, die wirklich nur als Vorwände be¬
zeichnet werden können, und die mit Notwendigkeit trübend und verwirrend
wirken, auch bei den Bekämpften das ohnehin vorhandene bittere Gefühl ver¬
stärken, es seien nur schlechte Mittel, mit denen man sie bekämpfe?"

Nehmen wir z. B. einen Punkt, der selbst in gemäßigten Blättern, ja sogar
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dernen, in neuester Zeit mehrfach geltend gemacht worden ist, und der dennoch


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[0331] vorwürfe und vorwände. zu betonen und zu schärfen, und um dabei zugleich manche Schattenseiten ihres Wesens, recht wie zum Hohne, in der rücksichtslosesten Weise zu entfalten. Um so unerläßlicher ist es, den hier obwaltenden Gegensatz als solchen zu erkennen und öffentlich festzustellen, und sich bewußt zu werden, daß dieser fremde Tropfen im Blute des modernen Staates früher oder später ausgetilgt werden muß, keinesfalls aber zu schonen oder gar zu begünstigen ist." Das wäre ein offnes und klares Wort und jedermann müßte anerkennen, daß daran viel Wahres sei, und noch mehr, worüber sich wenigstens reden läßt. Es bleibt ja richtig, daß dieser grundsätzliche Standpunkt gerade als solcher auch nicht unanfechtbar ist; denn bis jetzt fehlt auch nur der Wahrschciulichkeitsbeweis, daß die moderne Weltanschauung aussichtsvoll sei und in ihren Ergebnissen sich mehr und mehr zum Bessern kehre, und gerade auf denjenigen Gebieten scheinen diese Ergebnisse am zweifelhaftesten zu sein, wo die alte, von den grundsätzlichen Gegnern dieser Anschauung vertretene ihr am schärfsten gegenübersteht. Dennoch muß anerkannt werden, daß die, wenn auch vielleicht in manchen Punkten zu ändernde, moderne Anschauung in hohem Maße naturnotwendig ist, und daß die Vertreter des Alten ihr etwas ähnlich Geschlossenes nicht entgegenzustellen vermögen, schon darum nicht, weil der moderne Geist, wenn auch ihnen selbst unbewußt, auch in ihnen mächtig ist. Schwerlich ist also daran vorbeizukommen, daß Leute, deren ganzes Wesen in der alten, trümmerhaft noch unter uns aufragenden Anschauung wurzelt, für eine Verlorne Sache kämpfen, in deren Untergang sie selbst mit hineingerissen werden müssen, und daß dieser Untergang durch die achtungswertesten im einzelnen von ihnen zu entfaltenden Eigenschaften kaum aufgehalten, geschweige denn ver¬ hindert werden kann, während obendrein leidigerweise bei dieser Klasse von Leuten auch solche Eigenschaften vorhanden sind, welche in hohem Maße darauf hinwirken, den Untergang der alten Weltanschauung zu beschleunigen. Nichts würde z. B. so sehr dazu beitragen, den Zusammenbruch hinauszuschieben, als sorgsame Wirtschaftlichkeit, aber mag auch mancher der Vorwürfe, die den Vertretern der alten Anschauung auf diesem Gebiete gemacht werden, übertrieben und dabei noch gehässig zugespitzt sein, daß auf diesem Gebiete ihre Stärke nicht liegt, kann unmöglich bestritten werden. Umsomehr fühlt man sich von un¬ befangnen Staudpunkte immer wieder veranlaßt, zu fragen: „Warum begnügt man sich nicht mit Vorwürfen, die mit Recht erhoben werden können, sondern ruft in der Hitze des Hasses und der sozialen Feindschaft noch allerhand Annahmen und Behauptungen zu Hilfe, die wirklich nur als Vorwände be¬ zeichnet werden können, und die mit Notwendigkeit trübend und verwirrend wirken, auch bei den Bekämpften das ohnehin vorhandene bittere Gefühl ver¬ stärken, es seien nur schlechte Mittel, mit denen man sie bekämpfe?" Nehmen wir z. B. einen Punkt, der selbst in gemäßigten Blättern, ja sogar in solchen, die an und für sich der alten Anschauung näher stehen als der mo¬ dernen, in neuester Zeit mehrfach geltend gemacht worden ist, und der dennoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/331>, abgerufen am 23.06.2024.