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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Vorwürfe und Vorwände"

erjenige würde sich selbst der Möglichkeit einer verständnisvollen
Würdigung bedeutsamer Zeitfragen berauben, der sie nur von ein¬
seitigem Parteistandpunkte aus betrachten wollte; deun überall
wird jeder der sich entgegenstehenden Standpunkte teilweise seine
Berechtigung haben, und wer sich über die betreffende Sache auch
nur einigermaßen ein eignes Urteil bilden will, der muß diese Gegensätze und ihre
Begründung kennen und würdigen. So unterliegt es denn auch keinem Zweifel,
daß der heutzutage so entschieden hervortretende Gegensatz gegen den Großgrund¬
besitz und gegen alle spezifisch agrarischen Anschauungen nicht lediglich durch
Neid und Bosheit eingegeben, sondern zu einem gewissen Teile wohlbegründet
ist, und daß man in dieser Sache nicht öffentlich Stellung nehmen kann, ohne dies
anzuerkennen und den Gründen der heute so weitverbreiteten gegenagrarischen
Anschauungen ihr Recht widerfahren zu lassen. Nur sollte man freilich billiger¬
weise dieses Anerkenntnis auch auf Seiten der Gegner zu dein seinigen machen,
und sollte auch dort nicht alles Licht auf der einen, allen Schatten auf der
andern Seite zu finden behaupten; man sollte u. a. auch dies zugeben, daß
manche der Anklagen und Forderungen, mit denen man gegen die "Agrarier,"
die "Junker," die "Schnapsbaroue" und wie die schönen Bezeichnungen alle lauten,
zu Felde zieht, eigentlich nur Vorwände zur Verdeckung eines tiefer liegenden
Gegensatzes sind, bei dessen Aufdeckung man vielleicht, die Tagesströmung nicht
in gleichem Maße auf seiner Seite haben würde.

Es wäre kleinlich, verkennen zu wollen, daß die gewaltige soziale und tech¬
nische Entwicklung unsrer Zeit, wie sie um einmal stattfindet und ohne Zweifel
auch ihren Wert und ihre Berechtigung hat, in dem (zumal dem festgelegten)
Großgrundbesitze ihren natürlichen Gegner erblickt und erblicken muß, und daß


Grenzboten I. 1888. 41


Vorwürfe und Vorwände»

erjenige würde sich selbst der Möglichkeit einer verständnisvollen
Würdigung bedeutsamer Zeitfragen berauben, der sie nur von ein¬
seitigem Parteistandpunkte aus betrachten wollte; deun überall
wird jeder der sich entgegenstehenden Standpunkte teilweise seine
Berechtigung haben, und wer sich über die betreffende Sache auch
nur einigermaßen ein eignes Urteil bilden will, der muß diese Gegensätze und ihre
Begründung kennen und würdigen. So unterliegt es denn auch keinem Zweifel,
daß der heutzutage so entschieden hervortretende Gegensatz gegen den Großgrund¬
besitz und gegen alle spezifisch agrarischen Anschauungen nicht lediglich durch
Neid und Bosheit eingegeben, sondern zu einem gewissen Teile wohlbegründet
ist, und daß man in dieser Sache nicht öffentlich Stellung nehmen kann, ohne dies
anzuerkennen und den Gründen der heute so weitverbreiteten gegenagrarischen
Anschauungen ihr Recht widerfahren zu lassen. Nur sollte man freilich billiger¬
weise dieses Anerkenntnis auch auf Seiten der Gegner zu dein seinigen machen,
und sollte auch dort nicht alles Licht auf der einen, allen Schatten auf der
andern Seite zu finden behaupten; man sollte u. a. auch dies zugeben, daß
manche der Anklagen und Forderungen, mit denen man gegen die „Agrarier,"
die „Junker," die „Schnapsbaroue" und wie die schönen Bezeichnungen alle lauten,
zu Felde zieht, eigentlich nur Vorwände zur Verdeckung eines tiefer liegenden
Gegensatzes sind, bei dessen Aufdeckung man vielleicht, die Tagesströmung nicht
in gleichem Maße auf seiner Seite haben würde.

Es wäre kleinlich, verkennen zu wollen, daß die gewaltige soziale und tech¬
nische Entwicklung unsrer Zeit, wie sie um einmal stattfindet und ohne Zweifel
auch ihren Wert und ihre Berechtigung hat, in dem (zumal dem festgelegten)
Großgrundbesitze ihren natürlichen Gegner erblickt und erblicken muß, und daß


Grenzboten I. 1888. 41
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[0329] [Abbildung] Vorwürfe und Vorwände» erjenige würde sich selbst der Möglichkeit einer verständnisvollen Würdigung bedeutsamer Zeitfragen berauben, der sie nur von ein¬ seitigem Parteistandpunkte aus betrachten wollte; deun überall wird jeder der sich entgegenstehenden Standpunkte teilweise seine Berechtigung haben, und wer sich über die betreffende Sache auch nur einigermaßen ein eignes Urteil bilden will, der muß diese Gegensätze und ihre Begründung kennen und würdigen. So unterliegt es denn auch keinem Zweifel, daß der heutzutage so entschieden hervortretende Gegensatz gegen den Großgrund¬ besitz und gegen alle spezifisch agrarischen Anschauungen nicht lediglich durch Neid und Bosheit eingegeben, sondern zu einem gewissen Teile wohlbegründet ist, und daß man in dieser Sache nicht öffentlich Stellung nehmen kann, ohne dies anzuerkennen und den Gründen der heute so weitverbreiteten gegenagrarischen Anschauungen ihr Recht widerfahren zu lassen. Nur sollte man freilich billiger¬ weise dieses Anerkenntnis auch auf Seiten der Gegner zu dein seinigen machen, und sollte auch dort nicht alles Licht auf der einen, allen Schatten auf der andern Seite zu finden behaupten; man sollte u. a. auch dies zugeben, daß manche der Anklagen und Forderungen, mit denen man gegen die „Agrarier," die „Junker," die „Schnapsbaroue" und wie die schönen Bezeichnungen alle lauten, zu Felde zieht, eigentlich nur Vorwände zur Verdeckung eines tiefer liegenden Gegensatzes sind, bei dessen Aufdeckung man vielleicht, die Tagesströmung nicht in gleichem Maße auf seiner Seite haben würde. Es wäre kleinlich, verkennen zu wollen, daß die gewaltige soziale und tech¬ nische Entwicklung unsrer Zeit, wie sie um einmal stattfindet und ohne Zweifel auch ihren Wert und ihre Berechtigung hat, in dem (zumal dem festgelegten) Großgrundbesitze ihren natürlichen Gegner erblickt und erblicken muß, und daß Grenzboten I. 1888. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/329>, abgerufen am 23.06.2024.