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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans.

wärtig triumphirendes Prinzip in Frage kommt. Aber deswegen jenen Leuten
"Zukunftstheorien" unterzulegen und sie zu verkannten prophetischen Genies zu
machen, ist nur im Sinne der eingangs charakterisirten Geschichtschreibung
möglich. Thatsächlich sind sie ebenso unbekannt mit den heute modernen Kunst¬
theorien, als man es heute mit den damals geltenden nur irgend sein kann.
Das "Wahre," das auch diese Romanschreiber wie ihre Kollegen von der hohen
Gattung im Munde führen und das man deshalb nicht gerade bei ihnen ein¬
seitig betonen darf, ist durchaus nicht wie bei dem heutigen Naturalismus das
materiell Wahre, das "Exakte," sondern es ist die Wahrheit des Weisen, des
Philosophen, die nach einer platonischen Anregung damals jeder Dichter in den
"goldnen Pillen," in dem "süßen Wein" seiner Poesien wie ein "kluger Arzt"
zu verabreichen gedachte. In dieser unkünstlerischen Zweckanschauuug kann man
allerdings etwas Gemeinsames suchen; aber dies trifft die oben ausgeführte all¬
gemeine Wesensgleichheit der beiden litterarischen Perioden, nicht ihre Ansge-
stnltungen im besondern. Sagte der Tragiker damals die "schöne" Wahrheit,
wobei er weniger für Jdealisirung als für die möglichste "Verzuckerung" sorgte,
so sagte der Komiker seine Wahrheit "mit Lachen," wie z. B. in Deutschland
der uns heute thatsächlich durchaus nicht lächerlich vorkommende "Simplizissi-
mus" (in seinem Motto), indem er sich an den Wahrspruch der Horazischen
(nicht der Juvenalischen) Satire hielt: liiäsntsin äiesrö verum. Da kam nun
der Picaro, der spätere Figaro, sehr gelegen, der damals noch kein ehrlich Bar¬
biergewerbe in Ruhe trieb, sondern noch als Bedienter seines vornehmen Herrn
die Welt durchstreifte. Hier konnte man sich die gleichen Phantasieausschwei¬
fungen gestatten, in gleicher Weise dem Bedürfnisse des Publikums genügen wie
beim heroischen Roman; die gleichen wesenlosen Namen und Abenteuer (ja noch
wesenloser, da ja hier "alles" erdichtet sein durfte) und die zum mindesten im
ganzen nicht viel wcsenhaftern Örtlichkeiten wie dort. Nur statt der Herren
haben hier die Bedienten, statt der Helden die Schelme und Vaganten,
die ungeratenen Söhne, die Glücksritter und Tausendsassas das Wort. Wie
wenig Gewicht hierbei auf das Realistische gelegt wurde, kaun man aus der
bald mindestens gleichen Beliebtheit schließen, welche eine andre, aus Italien
kommende litterarische Anregung, die satirische Erzählung auf absichtlich luftigem,
gegenstandslosem Boden, die "Berichte aus dem Parnaß" von dem Römer Tra-
jano Boccalini auf diesem Gebiete erlangten. Wir halten sie für den Prolog
jener Mond- und Sonnenreiher, jener satirischen Berichte von allerlei unmög¬
lichen Ländern und Völkern, die diese Litteratur anfüllen und in Swifts "Gul¬
liver" ihren klassischen Vertreter gefunden haben. Der oben angeführte wichtige
Bestandteil in der Phantasie des Zeitalters, der Zug in die Fremde, Weite,
das Nobinsonadenhafte, spielt auch hier wieder seine durchaus unrealistische Rolle.
Was schließlich die Schreibart, den Stil anbetrifft, so ist dieser in beiden Gat¬
tungen des Romans mit Bewußtheit ebenso weit vom poetischen Ideal entfernt


Zur Geschichte des realistischen Romans.

wärtig triumphirendes Prinzip in Frage kommt. Aber deswegen jenen Leuten
„Zukunftstheorien" unterzulegen und sie zu verkannten prophetischen Genies zu
machen, ist nur im Sinne der eingangs charakterisirten Geschichtschreibung
möglich. Thatsächlich sind sie ebenso unbekannt mit den heute modernen Kunst¬
theorien, als man es heute mit den damals geltenden nur irgend sein kann.
Das „Wahre," das auch diese Romanschreiber wie ihre Kollegen von der hohen
Gattung im Munde führen und das man deshalb nicht gerade bei ihnen ein¬
seitig betonen darf, ist durchaus nicht wie bei dem heutigen Naturalismus das
materiell Wahre, das „Exakte," sondern es ist die Wahrheit des Weisen, des
Philosophen, die nach einer platonischen Anregung damals jeder Dichter in den
„goldnen Pillen," in dem „süßen Wein" seiner Poesien wie ein „kluger Arzt"
zu verabreichen gedachte. In dieser unkünstlerischen Zweckanschauuug kann man
allerdings etwas Gemeinsames suchen; aber dies trifft die oben ausgeführte all¬
gemeine Wesensgleichheit der beiden litterarischen Perioden, nicht ihre Ansge-
stnltungen im besondern. Sagte der Tragiker damals die „schöne" Wahrheit,
wobei er weniger für Jdealisirung als für die möglichste „Verzuckerung" sorgte,
so sagte der Komiker seine Wahrheit „mit Lachen," wie z. B. in Deutschland
der uns heute thatsächlich durchaus nicht lächerlich vorkommende „Simplizissi-
mus" (in seinem Motto), indem er sich an den Wahrspruch der Horazischen
(nicht der Juvenalischen) Satire hielt: liiäsntsin äiesrö verum. Da kam nun
der Picaro, der spätere Figaro, sehr gelegen, der damals noch kein ehrlich Bar¬
biergewerbe in Ruhe trieb, sondern noch als Bedienter seines vornehmen Herrn
die Welt durchstreifte. Hier konnte man sich die gleichen Phantasieausschwei¬
fungen gestatten, in gleicher Weise dem Bedürfnisse des Publikums genügen wie
beim heroischen Roman; die gleichen wesenlosen Namen und Abenteuer (ja noch
wesenloser, da ja hier „alles" erdichtet sein durfte) und die zum mindesten im
ganzen nicht viel wcsenhaftern Örtlichkeiten wie dort. Nur statt der Herren
haben hier die Bedienten, statt der Helden die Schelme und Vaganten,
die ungeratenen Söhne, die Glücksritter und Tausendsassas das Wort. Wie
wenig Gewicht hierbei auf das Realistische gelegt wurde, kaun man aus der
bald mindestens gleichen Beliebtheit schließen, welche eine andre, aus Italien
kommende litterarische Anregung, die satirische Erzählung auf absichtlich luftigem,
gegenstandslosem Boden, die „Berichte aus dem Parnaß" von dem Römer Tra-
jano Boccalini auf diesem Gebiete erlangten. Wir halten sie für den Prolog
jener Mond- und Sonnenreiher, jener satirischen Berichte von allerlei unmög¬
lichen Ländern und Völkern, die diese Litteratur anfüllen und in Swifts „Gul¬
liver" ihren klassischen Vertreter gefunden haben. Der oben angeführte wichtige
Bestandteil in der Phantasie des Zeitalters, der Zug in die Fremde, Weite,
das Nobinsonadenhafte, spielt auch hier wieder seine durchaus unrealistische Rolle.
Was schließlich die Schreibart, den Stil anbetrifft, so ist dieser in beiden Gat¬
tungen des Romans mit Bewußtheit ebenso weit vom poetischen Ideal entfernt


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[0312] Zur Geschichte des realistischen Romans. wärtig triumphirendes Prinzip in Frage kommt. Aber deswegen jenen Leuten „Zukunftstheorien" unterzulegen und sie zu verkannten prophetischen Genies zu machen, ist nur im Sinne der eingangs charakterisirten Geschichtschreibung möglich. Thatsächlich sind sie ebenso unbekannt mit den heute modernen Kunst¬ theorien, als man es heute mit den damals geltenden nur irgend sein kann. Das „Wahre," das auch diese Romanschreiber wie ihre Kollegen von der hohen Gattung im Munde führen und das man deshalb nicht gerade bei ihnen ein¬ seitig betonen darf, ist durchaus nicht wie bei dem heutigen Naturalismus das materiell Wahre, das „Exakte," sondern es ist die Wahrheit des Weisen, des Philosophen, die nach einer platonischen Anregung damals jeder Dichter in den „goldnen Pillen," in dem „süßen Wein" seiner Poesien wie ein „kluger Arzt" zu verabreichen gedachte. In dieser unkünstlerischen Zweckanschauuug kann man allerdings etwas Gemeinsames suchen; aber dies trifft die oben ausgeführte all¬ gemeine Wesensgleichheit der beiden litterarischen Perioden, nicht ihre Ansge- stnltungen im besondern. Sagte der Tragiker damals die „schöne" Wahrheit, wobei er weniger für Jdealisirung als für die möglichste „Verzuckerung" sorgte, so sagte der Komiker seine Wahrheit „mit Lachen," wie z. B. in Deutschland der uns heute thatsächlich durchaus nicht lächerlich vorkommende „Simplizissi- mus" (in seinem Motto), indem er sich an den Wahrspruch der Horazischen (nicht der Juvenalischen) Satire hielt: liiäsntsin äiesrö verum. Da kam nun der Picaro, der spätere Figaro, sehr gelegen, der damals noch kein ehrlich Bar¬ biergewerbe in Ruhe trieb, sondern noch als Bedienter seines vornehmen Herrn die Welt durchstreifte. Hier konnte man sich die gleichen Phantasieausschwei¬ fungen gestatten, in gleicher Weise dem Bedürfnisse des Publikums genügen wie beim heroischen Roman; die gleichen wesenlosen Namen und Abenteuer (ja noch wesenloser, da ja hier „alles" erdichtet sein durfte) und die zum mindesten im ganzen nicht viel wcsenhaftern Örtlichkeiten wie dort. Nur statt der Herren haben hier die Bedienten, statt der Helden die Schelme und Vaganten, die ungeratenen Söhne, die Glücksritter und Tausendsassas das Wort. Wie wenig Gewicht hierbei auf das Realistische gelegt wurde, kaun man aus der bald mindestens gleichen Beliebtheit schließen, welche eine andre, aus Italien kommende litterarische Anregung, die satirische Erzählung auf absichtlich luftigem, gegenstandslosem Boden, die „Berichte aus dem Parnaß" von dem Römer Tra- jano Boccalini auf diesem Gebiete erlangten. Wir halten sie für den Prolog jener Mond- und Sonnenreiher, jener satirischen Berichte von allerlei unmög¬ lichen Ländern und Völkern, die diese Litteratur anfüllen und in Swifts „Gul¬ liver" ihren klassischen Vertreter gefunden haben. Der oben angeführte wichtige Bestandteil in der Phantasie des Zeitalters, der Zug in die Fremde, Weite, das Nobinsonadenhafte, spielt auch hier wieder seine durchaus unrealistische Rolle. Was schließlich die Schreibart, den Stil anbetrifft, so ist dieser in beiden Gat¬ tungen des Romans mit Bewußtheit ebenso weit vom poetischen Ideal entfernt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/312>, abgerufen am 28.09.2024.