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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans.

sich selbst in Anspruch nehmen), als die heutigen Naturalisten. Der neue Tempel
erscheint ihnen stattlich genug. Sie staffiren ihn mit dem wohlgemeintesten ge¬
lehrten Prunkwerk aus hier wie dort, und bauen nach den ernstesten Regel".
Hier wie dort die äußersten Mittel zur Erregung der "Affekte," hier wie dort
das erhabene Endziel der sittlichen Wirkung (das Studium der "Welt" sollte,?
diese Bücher schon damals vermitteln, abschrecken, anfeuern, warnen und lehren,
wie heute), hier wie dort allen künstlerischen Angriffen gegenüber das stete
Pochen auf die "Wahrscheinlichkeit." Fehlte aber doch alles zu dem beabsich¬
tigten "Tempel," denn sein Grund und Boden blieb immer der Markt, und in
seiner Mitte stand immer der alte, plumpe Marktheilige.

Was den beiden litterarischen Perioden schon äußerlich so unverkennbar
gemeinsam ist, das ist diese künstlerische Repräsentativherrschaft des Romans.
Der Roman ist Epos, Drama und Lyrik; alle ersetzt er, alle enthält er in sich,
Von Haus aus ist er das vervollkommnete Epos, denn gerade "weil er keine wirk¬
liche Begebenheit erzählt wie jenes, kann er umso wahrer im einzelnen sein"
(Huck). Es mangelt ihm leider durchaus nicht an "herzbeweglichen Soliloquien"
und "anmutigen Wechselreden" der Helden. Die eingestreuten Gedichte sind so
gebildet und künstlich, als es der "strengste Kunstrichter" nur verlangen kann.
Und um diese litterarische Universalität vollständig zu machen, tritt überdies
noch wie billig der ernsten "tragischen" Gattung des Romans eine heitere
"komische" zur Seite. Diese letztere soll nun der "realistische Roman" des
siebzehnten Jahrhunderts sein. Sie ist aber etwas ganz andres. Getreu der
damaligen schematischen Auffassung vom Gegensatz der Tragödie und Komödie,
nach der jener die Helden, dieser die "NichtHelden" im allgemeinsten Sinne,
die xersorme vilioros, zufielen, ist der damalige komische Roman nichts als die
litterarische Ergänzung der Gesellschaftsdichtung in der Form des Romans.
Knüpfe jene Gattung an den Amadis de Gaula an, so diese an den spanischen
Picaro. Dort der fahrende Ritter, hier der fahrende Schelm; sonst auf beiden
Seiten in allen wesentlichen Punkten eine so schlagende Übereinstimmung, daß
der Einführer der Unterscheidung von "idealistisch" und "realistisch" in jene
vergangene Litteraturperiode nicht selten in die Lage kommt, nicht zu wissen,
welcher dieser "Formen" er nun einen Roman zusprechen soll. Er wundert
sich dann ganz ernsthaft und zweifelt an der Durchführung der Absicht der
betreffenden Verfasser, wobei er zu vergessen scheint, daß er es ist, der vom
heutigen Standpunkte diese Absicht in sie hineinlegt, daß er es ist, der die
Unterscheidung, welcher nicht Folge gegeben wird, erst eingeführt hat.

Die Bearbeiter des komischen Romans hatten, wir schon erwähnt, nicht
das Glück, litterarisch anerkannt zu werden, und zwar infolge jener der ko¬
mischen Gattung in den neuern Zeiten anhaftenden plebejischen Anrüchigkeit.
Bei der Nachwelt kommt ihnen dies zu statten, die für alles Unterdrückte
von vornherein Partei nimmt, ganz besonders in diesem Falle, wo ein gegen-


Zur Geschichte des realistischen Romans.

sich selbst in Anspruch nehmen), als die heutigen Naturalisten. Der neue Tempel
erscheint ihnen stattlich genug. Sie staffiren ihn mit dem wohlgemeintesten ge¬
lehrten Prunkwerk aus hier wie dort, und bauen nach den ernstesten Regel».
Hier wie dort die äußersten Mittel zur Erregung der „Affekte," hier wie dort
das erhabene Endziel der sittlichen Wirkung (das Studium der „Welt" sollte,?
diese Bücher schon damals vermitteln, abschrecken, anfeuern, warnen und lehren,
wie heute), hier wie dort allen künstlerischen Angriffen gegenüber das stete
Pochen auf die „Wahrscheinlichkeit." Fehlte aber doch alles zu dem beabsich¬
tigten „Tempel," denn sein Grund und Boden blieb immer der Markt, und in
seiner Mitte stand immer der alte, plumpe Marktheilige.

Was den beiden litterarischen Perioden schon äußerlich so unverkennbar
gemeinsam ist, das ist diese künstlerische Repräsentativherrschaft des Romans.
Der Roman ist Epos, Drama und Lyrik; alle ersetzt er, alle enthält er in sich,
Von Haus aus ist er das vervollkommnete Epos, denn gerade „weil er keine wirk¬
liche Begebenheit erzählt wie jenes, kann er umso wahrer im einzelnen sein"
(Huck). Es mangelt ihm leider durchaus nicht an „herzbeweglichen Soliloquien"
und „anmutigen Wechselreden" der Helden. Die eingestreuten Gedichte sind so
gebildet und künstlich, als es der „strengste Kunstrichter" nur verlangen kann.
Und um diese litterarische Universalität vollständig zu machen, tritt überdies
noch wie billig der ernsten „tragischen" Gattung des Romans eine heitere
„komische" zur Seite. Diese letztere soll nun der „realistische Roman" des
siebzehnten Jahrhunderts sein. Sie ist aber etwas ganz andres. Getreu der
damaligen schematischen Auffassung vom Gegensatz der Tragödie und Komödie,
nach der jener die Helden, dieser die „NichtHelden" im allgemeinsten Sinne,
die xersorme vilioros, zufielen, ist der damalige komische Roman nichts als die
litterarische Ergänzung der Gesellschaftsdichtung in der Form des Romans.
Knüpfe jene Gattung an den Amadis de Gaula an, so diese an den spanischen
Picaro. Dort der fahrende Ritter, hier der fahrende Schelm; sonst auf beiden
Seiten in allen wesentlichen Punkten eine so schlagende Übereinstimmung, daß
der Einführer der Unterscheidung von „idealistisch" und „realistisch" in jene
vergangene Litteraturperiode nicht selten in die Lage kommt, nicht zu wissen,
welcher dieser „Formen" er nun einen Roman zusprechen soll. Er wundert
sich dann ganz ernsthaft und zweifelt an der Durchführung der Absicht der
betreffenden Verfasser, wobei er zu vergessen scheint, daß er es ist, der vom
heutigen Standpunkte diese Absicht in sie hineinlegt, daß er es ist, der die
Unterscheidung, welcher nicht Folge gegeben wird, erst eingeführt hat.

Die Bearbeiter des komischen Romans hatten, wir schon erwähnt, nicht
das Glück, litterarisch anerkannt zu werden, und zwar infolge jener der ko¬
mischen Gattung in den neuern Zeiten anhaftenden plebejischen Anrüchigkeit.
Bei der Nachwelt kommt ihnen dies zu statten, die für alles Unterdrückte
von vornherein Partei nimmt, ganz besonders in diesem Falle, wo ein gegen-


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[0311] Zur Geschichte des realistischen Romans. sich selbst in Anspruch nehmen), als die heutigen Naturalisten. Der neue Tempel erscheint ihnen stattlich genug. Sie staffiren ihn mit dem wohlgemeintesten ge¬ lehrten Prunkwerk aus hier wie dort, und bauen nach den ernstesten Regel». Hier wie dort die äußersten Mittel zur Erregung der „Affekte," hier wie dort das erhabene Endziel der sittlichen Wirkung (das Studium der „Welt" sollte,? diese Bücher schon damals vermitteln, abschrecken, anfeuern, warnen und lehren, wie heute), hier wie dort allen künstlerischen Angriffen gegenüber das stete Pochen auf die „Wahrscheinlichkeit." Fehlte aber doch alles zu dem beabsich¬ tigten „Tempel," denn sein Grund und Boden blieb immer der Markt, und in seiner Mitte stand immer der alte, plumpe Marktheilige. Was den beiden litterarischen Perioden schon äußerlich so unverkennbar gemeinsam ist, das ist diese künstlerische Repräsentativherrschaft des Romans. Der Roman ist Epos, Drama und Lyrik; alle ersetzt er, alle enthält er in sich, Von Haus aus ist er das vervollkommnete Epos, denn gerade „weil er keine wirk¬ liche Begebenheit erzählt wie jenes, kann er umso wahrer im einzelnen sein" (Huck). Es mangelt ihm leider durchaus nicht an „herzbeweglichen Soliloquien" und „anmutigen Wechselreden" der Helden. Die eingestreuten Gedichte sind so gebildet und künstlich, als es der „strengste Kunstrichter" nur verlangen kann. Und um diese litterarische Universalität vollständig zu machen, tritt überdies noch wie billig der ernsten „tragischen" Gattung des Romans eine heitere „komische" zur Seite. Diese letztere soll nun der „realistische Roman" des siebzehnten Jahrhunderts sein. Sie ist aber etwas ganz andres. Getreu der damaligen schematischen Auffassung vom Gegensatz der Tragödie und Komödie, nach der jener die Helden, dieser die „NichtHelden" im allgemeinsten Sinne, die xersorme vilioros, zufielen, ist der damalige komische Roman nichts als die litterarische Ergänzung der Gesellschaftsdichtung in der Form des Romans. Knüpfe jene Gattung an den Amadis de Gaula an, so diese an den spanischen Picaro. Dort der fahrende Ritter, hier der fahrende Schelm; sonst auf beiden Seiten in allen wesentlichen Punkten eine so schlagende Übereinstimmung, daß der Einführer der Unterscheidung von „idealistisch" und „realistisch" in jene vergangene Litteraturperiode nicht selten in die Lage kommt, nicht zu wissen, welcher dieser „Formen" er nun einen Roman zusprechen soll. Er wundert sich dann ganz ernsthaft und zweifelt an der Durchführung der Absicht der betreffenden Verfasser, wobei er zu vergessen scheint, daß er es ist, der vom heutigen Standpunkte diese Absicht in sie hineinlegt, daß er es ist, der die Unterscheidung, welcher nicht Folge gegeben wird, erst eingeführt hat. Die Bearbeiter des komischen Romans hatten, wir schon erwähnt, nicht das Glück, litterarisch anerkannt zu werden, und zwar infolge jener der ko¬ mischen Gattung in den neuern Zeiten anhaftenden plebejischen Anrüchigkeit. Bei der Nachwelt kommt ihnen dies zu statten, die für alles Unterdrückte von vornherein Partei nimmt, ganz besonders in diesem Falle, wo ein gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/311>, abgerufen am 23.06.2024.