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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans.

durchaus thatsächliche Vertreter der Phantasie des Durchschnitts ihrer Zeitge¬
nossen, wie heute die Balzac, Flaubert, Daudet und Zola. Nicht im entferntesten
ist es ihre Absicht, idealistisch zu Verfahren. Im Gegenteil, hundertmal wird in
dieser Litteratur seit Barclay betont, daß der Roman ein Sittenspiegel sein
wolle, daß dies seinen Vorzug vor seinem Ahnen, dem (wohlgemerkt sehr wohl
als idealistisch empfundenen) antiken Epos, bedeute, daß er in seinen Einzelheiten
lebensgetreu, wie sein Theoretiker Huck sogar sich ausdrückt, "wahr" sei. Darum
gab man das Versmaß, damals in ganz anderm Sinne als heute das Merkmal
der litterarischen Wert beanspruchenden Dichtung, triumphirend auf, gefiel sich
in versteckter Zeichnung wirklicher Persönlichkeiten in Hof und Gesellschaft, streute
die politischen und philosophischen Gespräche des Tages ein, und glaubte so
einen entscheidenden Schritt über die bis dahin als Ideal verehrten Klassiker
hinausgethan, sie (nicht bloß an litterarischer Wirkung) übertrumpft zu haben.
Die exotische, antikisirende, schäferliche Einkleidung dieser Romane ist so wenig
idealistisch (obwohl sie den einzigen äußern Anhaltepunkt für eine solche Charak-
terisirung bietet), daß gerade sie die zeitgemäßste Zuthat, den Haupthebel der
für uns jetzt erstaunlichen litterarischen Wirkung bildet. Diese abenteuerlichen
fremden Länder und Meere, diese tönenden klassischen Namen, diese arkadische
Romantik waren damals "wahr." Die Köpfe waren voll von den neuen Ent¬
deckungen, von Abenteuern in fremden Ländern und Meeren, sie tönten von dem
Klänge der klassischen Namen.' der damals etwas Berauschendes gehabt haben
muß und deren wirkliche Einführung ins Leben wohl nur an dem Widerstande
der Kirchenbücher scheiterte; und mit den grotesken "Schäfern"^ glaubte man
gar den Anforderungen der Dichtung an "Natur" am nächsten gekommen zu
sein, gar nicht so viel anders als heute mit den grotesken Säufern und Wüst¬
lingen. Glaubt man denn wirklich, daß nicht bloß die gelehrtesten und be¬
deutendsten Männer des Zeitalters, die Casaubon und Gerhard Voß, die Grotius,
Racine und Leibniz, sondern gerade Bediente, Schüler und Kammerjungfern (wie
die Romaufeinde klagen) diese Romane "verschlungen" haben würden, wenn sie
diese Dinge als "unwahr" empfunden hätten? Das Volksbuch, an welches die
Gesellschaftslitteratur jener Zeit anknüpfte, war eben der Amadis de Gaula,
in unserm Jahrhundert warmes Casanova und etwa Paul de Kock. Gelehrte
Männer stiegen in diesem und jenem Falle von dem vornehmen, aber einsamen,
schließlich mit Grund verödeten klassischen Litteraturtcmpel herab, um sich in
den Markt des Lebens zu mischen. Aber statt die diesem Beginnen zu Grunde
liegende gesunde Idee recht zu erfassen, den Weg zum Leben offen zu erhalten
und so den Markt immer wieder einmal zum Tempel hinanzuführen, verfuhren
sie radikal, wie alle Umstürzler: sie verschrieen ihren Heimatsort, auf dem sie
gebildet wurden, als verfallene Ruine und bauten den Marktheiligen einen
Tempel. Man muß beachten, daß die damaligen Precieusen ganz ebenso
"Moderne" sind, Feinde und Verächter der anerkannten Klassizität (die sie für


Zur Geschichte des realistischen Romans.

durchaus thatsächliche Vertreter der Phantasie des Durchschnitts ihrer Zeitge¬
nossen, wie heute die Balzac, Flaubert, Daudet und Zola. Nicht im entferntesten
ist es ihre Absicht, idealistisch zu Verfahren. Im Gegenteil, hundertmal wird in
dieser Litteratur seit Barclay betont, daß der Roman ein Sittenspiegel sein
wolle, daß dies seinen Vorzug vor seinem Ahnen, dem (wohlgemerkt sehr wohl
als idealistisch empfundenen) antiken Epos, bedeute, daß er in seinen Einzelheiten
lebensgetreu, wie sein Theoretiker Huck sogar sich ausdrückt, „wahr" sei. Darum
gab man das Versmaß, damals in ganz anderm Sinne als heute das Merkmal
der litterarischen Wert beanspruchenden Dichtung, triumphirend auf, gefiel sich
in versteckter Zeichnung wirklicher Persönlichkeiten in Hof und Gesellschaft, streute
die politischen und philosophischen Gespräche des Tages ein, und glaubte so
einen entscheidenden Schritt über die bis dahin als Ideal verehrten Klassiker
hinausgethan, sie (nicht bloß an litterarischer Wirkung) übertrumpft zu haben.
Die exotische, antikisirende, schäferliche Einkleidung dieser Romane ist so wenig
idealistisch (obwohl sie den einzigen äußern Anhaltepunkt für eine solche Charak-
terisirung bietet), daß gerade sie die zeitgemäßste Zuthat, den Haupthebel der
für uns jetzt erstaunlichen litterarischen Wirkung bildet. Diese abenteuerlichen
fremden Länder und Meere, diese tönenden klassischen Namen, diese arkadische
Romantik waren damals „wahr." Die Köpfe waren voll von den neuen Ent¬
deckungen, von Abenteuern in fremden Ländern und Meeren, sie tönten von dem
Klänge der klassischen Namen.' der damals etwas Berauschendes gehabt haben
muß und deren wirkliche Einführung ins Leben wohl nur an dem Widerstande
der Kirchenbücher scheiterte; und mit den grotesken „Schäfern"^ glaubte man
gar den Anforderungen der Dichtung an „Natur" am nächsten gekommen zu
sein, gar nicht so viel anders als heute mit den grotesken Säufern und Wüst¬
lingen. Glaubt man denn wirklich, daß nicht bloß die gelehrtesten und be¬
deutendsten Männer des Zeitalters, die Casaubon und Gerhard Voß, die Grotius,
Racine und Leibniz, sondern gerade Bediente, Schüler und Kammerjungfern (wie
die Romaufeinde klagen) diese Romane „verschlungen" haben würden, wenn sie
diese Dinge als „unwahr" empfunden hätten? Das Volksbuch, an welches die
Gesellschaftslitteratur jener Zeit anknüpfte, war eben der Amadis de Gaula,
in unserm Jahrhundert warmes Casanova und etwa Paul de Kock. Gelehrte
Männer stiegen in diesem und jenem Falle von dem vornehmen, aber einsamen,
schließlich mit Grund verödeten klassischen Litteraturtcmpel herab, um sich in
den Markt des Lebens zu mischen. Aber statt die diesem Beginnen zu Grunde
liegende gesunde Idee recht zu erfassen, den Weg zum Leben offen zu erhalten
und so den Markt immer wieder einmal zum Tempel hinanzuführen, verfuhren
sie radikal, wie alle Umstürzler: sie verschrieen ihren Heimatsort, auf dem sie
gebildet wurden, als verfallene Ruine und bauten den Marktheiligen einen
Tempel. Man muß beachten, daß die damaligen Precieusen ganz ebenso
„Moderne" sind, Feinde und Verächter der anerkannten Klassizität (die sie für


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[0310] Zur Geschichte des realistischen Romans. durchaus thatsächliche Vertreter der Phantasie des Durchschnitts ihrer Zeitge¬ nossen, wie heute die Balzac, Flaubert, Daudet und Zola. Nicht im entferntesten ist es ihre Absicht, idealistisch zu Verfahren. Im Gegenteil, hundertmal wird in dieser Litteratur seit Barclay betont, daß der Roman ein Sittenspiegel sein wolle, daß dies seinen Vorzug vor seinem Ahnen, dem (wohlgemerkt sehr wohl als idealistisch empfundenen) antiken Epos, bedeute, daß er in seinen Einzelheiten lebensgetreu, wie sein Theoretiker Huck sogar sich ausdrückt, „wahr" sei. Darum gab man das Versmaß, damals in ganz anderm Sinne als heute das Merkmal der litterarischen Wert beanspruchenden Dichtung, triumphirend auf, gefiel sich in versteckter Zeichnung wirklicher Persönlichkeiten in Hof und Gesellschaft, streute die politischen und philosophischen Gespräche des Tages ein, und glaubte so einen entscheidenden Schritt über die bis dahin als Ideal verehrten Klassiker hinausgethan, sie (nicht bloß an litterarischer Wirkung) übertrumpft zu haben. Die exotische, antikisirende, schäferliche Einkleidung dieser Romane ist so wenig idealistisch (obwohl sie den einzigen äußern Anhaltepunkt für eine solche Charak- terisirung bietet), daß gerade sie die zeitgemäßste Zuthat, den Haupthebel der für uns jetzt erstaunlichen litterarischen Wirkung bildet. Diese abenteuerlichen fremden Länder und Meere, diese tönenden klassischen Namen, diese arkadische Romantik waren damals „wahr." Die Köpfe waren voll von den neuen Ent¬ deckungen, von Abenteuern in fremden Ländern und Meeren, sie tönten von dem Klänge der klassischen Namen.' der damals etwas Berauschendes gehabt haben muß und deren wirkliche Einführung ins Leben wohl nur an dem Widerstande der Kirchenbücher scheiterte; und mit den grotesken „Schäfern"^ glaubte man gar den Anforderungen der Dichtung an „Natur" am nächsten gekommen zu sein, gar nicht so viel anders als heute mit den grotesken Säufern und Wüst¬ lingen. Glaubt man denn wirklich, daß nicht bloß die gelehrtesten und be¬ deutendsten Männer des Zeitalters, die Casaubon und Gerhard Voß, die Grotius, Racine und Leibniz, sondern gerade Bediente, Schüler und Kammerjungfern (wie die Romaufeinde klagen) diese Romane „verschlungen" haben würden, wenn sie diese Dinge als „unwahr" empfunden hätten? Das Volksbuch, an welches die Gesellschaftslitteratur jener Zeit anknüpfte, war eben der Amadis de Gaula, in unserm Jahrhundert warmes Casanova und etwa Paul de Kock. Gelehrte Männer stiegen in diesem und jenem Falle von dem vornehmen, aber einsamen, schließlich mit Grund verödeten klassischen Litteraturtcmpel herab, um sich in den Markt des Lebens zu mischen. Aber statt die diesem Beginnen zu Grunde liegende gesunde Idee recht zu erfassen, den Weg zum Leben offen zu erhalten und so den Markt immer wieder einmal zum Tempel hinanzuführen, verfuhren sie radikal, wie alle Umstürzler: sie verschrieen ihren Heimatsort, auf dem sie gebildet wurden, als verfallene Ruine und bauten den Marktheiligen einen Tempel. Man muß beachten, daß die damaligen Precieusen ganz ebenso „Moderne" sind, Feinde und Verächter der anerkannten Klassizität (die sie für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/310>, abgerufen am 23.06.2024.