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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans.

das Glück der Lotterie zu versuchen, der ist ein "Idealist," wer für Austern
und Portwein schwärmt, ein "Realist." Lust am Skandal und eigensüchtige
Begehrlichkeit ist Idealismus, dem lieben Nächsten einen Tritt versetzen und
kräftigen Gebrauch von seinen Ellenbogen machen, ist gesunder Realismus,
Kampf ums Dasein, natürliche Moral. So lange man für jede blöde Illusion
das letzte Wort der reinen Vernunft, Ideal, mißbraucht, und für jede Un-
Vernunft, Rohheit und Karikatur das Machtwort der vernünftigen Thatsächlich¬
keit, Realität, in Bereitschaft hat, ist es freilich unmöglich, sich über ihre Grund¬
bedeutungen klar zu bleiben. Aber warum läßt man sie dann mindestens
in der höhern Kritik nicht lieber ganz weg? Und ganz besonders in der histo¬
rischen, in der wiederum neue Begriffe dabei in Frage kommen und die Ver¬
wirrung vollständig wird? Was ist ein "Jdealroman"? Das Ideal eines
Romanes; die Romantiker stellten den "Wilhelm Meister" als solchen auf. Was
ist ein idealistischer Dichter? Ein Dichter im Sinne Goethe und Schillers oder
Boileaus oder der Antike. Deshalb, weil die Modelitteratur des siebzehnten
Jahrhunderts, die durch deu französischen Roman vertreten wird, sich den Ehren¬
titel des Realismus zugelegt hat, ist die Modelitteratur des siebzehnten Jahr¬
hunderts, die gleichfalls bereits den französischen Roman zum Herrscher erhebt,
noch nicht idealistisch zu nennen, wenn sie auch gerade das andre Extrem
dieser litterarischen Mode darstellt. Idealismus und Realismus sind dichterische
Grundgegensätze, in Deutschland klassisch verkörpert in den Persönlichkeiten
Schillers und Goethes. Man könnte also in Versuchung kommen, sie auch in
den beiden hierin Frage kommenden Litteraturen aufzusuchen, wie es ihr Ge¬
schichtschreiber -- mit wie viel Erfolg, wird er sich innerlich selber bezeugen -
eifrigst gethan hat. Das sind sie aber durchaus nicht. Es kommen ganz andre,
von jenen einfachen, rein künstlerischen Typen weit abführende, sehr zusammen¬
gesetzte Kennzeichen hierbei in Betracht. Und in ihrer Gesamterscheinung gehören
sie, weit entfernt, einen Gegensatz darzustellen, historisch betrachtet, in dieselbe Kate¬
gorie. Beide Litteraturen bauen sich, mit bewußter reformatorischer Abkehr von rein
künstlerischen Prinzipien, auf der Natur ihrer zeitgenössischen Gesellschaft, auf deu
Bedürfnissen ihres Publikums auf. Aus der Verschiedenheit dieser ihrer Gesell¬
schaften entspringt mit Notwendigkeit die Verschiedenheit ihres äußern Charakters.
Die Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts war preziös, vornehmthuerisch,
aristokratisch. Die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist im Ausdruck
freizügig, mit Ungebundenheit prunkend, demokratisch. Wenn diese Züge nun in
ihren jeweiligen Litteraturen mit verblüffender Treue zum Ausdruck kommen,
so wird sie der Literarhistoriker doch nicht in Gegensatz stellen können. Ihr
Grundzug ist ja durchaus derselbe, und wie sehr es ihre Tendenzen und Er¬
scheinungsformen sind, das zu vergleichen ist in viel höherm Grade lohnend,
als die eine in ihrem äußerlichen Ansehen als interessante Folie für die andre
zu benutzen. Die Barclay, Gomberville, La Calprensde, Scudöry sind ebenso


Zur Geschichte des realistischen Romans.

das Glück der Lotterie zu versuchen, der ist ein „Idealist," wer für Austern
und Portwein schwärmt, ein „Realist." Lust am Skandal und eigensüchtige
Begehrlichkeit ist Idealismus, dem lieben Nächsten einen Tritt versetzen und
kräftigen Gebrauch von seinen Ellenbogen machen, ist gesunder Realismus,
Kampf ums Dasein, natürliche Moral. So lange man für jede blöde Illusion
das letzte Wort der reinen Vernunft, Ideal, mißbraucht, und für jede Un-
Vernunft, Rohheit und Karikatur das Machtwort der vernünftigen Thatsächlich¬
keit, Realität, in Bereitschaft hat, ist es freilich unmöglich, sich über ihre Grund¬
bedeutungen klar zu bleiben. Aber warum läßt man sie dann mindestens
in der höhern Kritik nicht lieber ganz weg? Und ganz besonders in der histo¬
rischen, in der wiederum neue Begriffe dabei in Frage kommen und die Ver¬
wirrung vollständig wird? Was ist ein „Jdealroman"? Das Ideal eines
Romanes; die Romantiker stellten den „Wilhelm Meister" als solchen auf. Was
ist ein idealistischer Dichter? Ein Dichter im Sinne Goethe und Schillers oder
Boileaus oder der Antike. Deshalb, weil die Modelitteratur des siebzehnten
Jahrhunderts, die durch deu französischen Roman vertreten wird, sich den Ehren¬
titel des Realismus zugelegt hat, ist die Modelitteratur des siebzehnten Jahr¬
hunderts, die gleichfalls bereits den französischen Roman zum Herrscher erhebt,
noch nicht idealistisch zu nennen, wenn sie auch gerade das andre Extrem
dieser litterarischen Mode darstellt. Idealismus und Realismus sind dichterische
Grundgegensätze, in Deutschland klassisch verkörpert in den Persönlichkeiten
Schillers und Goethes. Man könnte also in Versuchung kommen, sie auch in
den beiden hierin Frage kommenden Litteraturen aufzusuchen, wie es ihr Ge¬
schichtschreiber — mit wie viel Erfolg, wird er sich innerlich selber bezeugen -
eifrigst gethan hat. Das sind sie aber durchaus nicht. Es kommen ganz andre,
von jenen einfachen, rein künstlerischen Typen weit abführende, sehr zusammen¬
gesetzte Kennzeichen hierbei in Betracht. Und in ihrer Gesamterscheinung gehören
sie, weit entfernt, einen Gegensatz darzustellen, historisch betrachtet, in dieselbe Kate¬
gorie. Beide Litteraturen bauen sich, mit bewußter reformatorischer Abkehr von rein
künstlerischen Prinzipien, auf der Natur ihrer zeitgenössischen Gesellschaft, auf deu
Bedürfnissen ihres Publikums auf. Aus der Verschiedenheit dieser ihrer Gesell¬
schaften entspringt mit Notwendigkeit die Verschiedenheit ihres äußern Charakters.
Die Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts war preziös, vornehmthuerisch,
aristokratisch. Die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist im Ausdruck
freizügig, mit Ungebundenheit prunkend, demokratisch. Wenn diese Züge nun in
ihren jeweiligen Litteraturen mit verblüffender Treue zum Ausdruck kommen,
so wird sie der Literarhistoriker doch nicht in Gegensatz stellen können. Ihr
Grundzug ist ja durchaus derselbe, und wie sehr es ihre Tendenzen und Er¬
scheinungsformen sind, das zu vergleichen ist in viel höherm Grade lohnend,
als die eine in ihrem äußerlichen Ansehen als interessante Folie für die andre
zu benutzen. Die Barclay, Gomberville, La Calprensde, Scudöry sind ebenso


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[0309] Zur Geschichte des realistischen Romans. das Glück der Lotterie zu versuchen, der ist ein „Idealist," wer für Austern und Portwein schwärmt, ein „Realist." Lust am Skandal und eigensüchtige Begehrlichkeit ist Idealismus, dem lieben Nächsten einen Tritt versetzen und kräftigen Gebrauch von seinen Ellenbogen machen, ist gesunder Realismus, Kampf ums Dasein, natürliche Moral. So lange man für jede blöde Illusion das letzte Wort der reinen Vernunft, Ideal, mißbraucht, und für jede Un- Vernunft, Rohheit und Karikatur das Machtwort der vernünftigen Thatsächlich¬ keit, Realität, in Bereitschaft hat, ist es freilich unmöglich, sich über ihre Grund¬ bedeutungen klar zu bleiben. Aber warum läßt man sie dann mindestens in der höhern Kritik nicht lieber ganz weg? Und ganz besonders in der histo¬ rischen, in der wiederum neue Begriffe dabei in Frage kommen und die Ver¬ wirrung vollständig wird? Was ist ein „Jdealroman"? Das Ideal eines Romanes; die Romantiker stellten den „Wilhelm Meister" als solchen auf. Was ist ein idealistischer Dichter? Ein Dichter im Sinne Goethe und Schillers oder Boileaus oder der Antike. Deshalb, weil die Modelitteratur des siebzehnten Jahrhunderts, die durch deu französischen Roman vertreten wird, sich den Ehren¬ titel des Realismus zugelegt hat, ist die Modelitteratur des siebzehnten Jahr¬ hunderts, die gleichfalls bereits den französischen Roman zum Herrscher erhebt, noch nicht idealistisch zu nennen, wenn sie auch gerade das andre Extrem dieser litterarischen Mode darstellt. Idealismus und Realismus sind dichterische Grundgegensätze, in Deutschland klassisch verkörpert in den Persönlichkeiten Schillers und Goethes. Man könnte also in Versuchung kommen, sie auch in den beiden hierin Frage kommenden Litteraturen aufzusuchen, wie es ihr Ge¬ schichtschreiber — mit wie viel Erfolg, wird er sich innerlich selber bezeugen - eifrigst gethan hat. Das sind sie aber durchaus nicht. Es kommen ganz andre, von jenen einfachen, rein künstlerischen Typen weit abführende, sehr zusammen¬ gesetzte Kennzeichen hierbei in Betracht. Und in ihrer Gesamterscheinung gehören sie, weit entfernt, einen Gegensatz darzustellen, historisch betrachtet, in dieselbe Kate¬ gorie. Beide Litteraturen bauen sich, mit bewußter reformatorischer Abkehr von rein künstlerischen Prinzipien, auf der Natur ihrer zeitgenössischen Gesellschaft, auf deu Bedürfnissen ihres Publikums auf. Aus der Verschiedenheit dieser ihrer Gesell¬ schaften entspringt mit Notwendigkeit die Verschiedenheit ihres äußern Charakters. Die Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts war preziös, vornehmthuerisch, aristokratisch. Die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist im Ausdruck freizügig, mit Ungebundenheit prunkend, demokratisch. Wenn diese Züge nun in ihren jeweiligen Litteraturen mit verblüffender Treue zum Ausdruck kommen, so wird sie der Literarhistoriker doch nicht in Gegensatz stellen können. Ihr Grundzug ist ja durchaus derselbe, und wie sehr es ihre Tendenzen und Er¬ scheinungsformen sind, das zu vergleichen ist in viel höherm Grade lohnend, als die eine in ihrem äußerlichen Ansehen als interessante Folie für die andre zu benutzen. Die Barclay, Gomberville, La Calprensde, Scudöry sind ebenso

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/309>, abgerufen am 23.06.2024.