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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte dos realistischen Romans.

schaftliche Romantik, welche fast in allen Kulturländern die Folge der abenteuer¬
lichen Weltgestaltung in der Napoleonischen Zeit und nicht zum mindesten der
neuen Einflüsse deutscher Litteratur und Musik bezeichnet. Balzac schildert recht
augenfällig (im?örs Llorioy den Einsatz dieser Reaktion, wo die jungen Herren
anfingen, von einer Schönen nicht mehr als einer Zaubererscheinung aus Duft
und Mondschein, sondern als "kapitales Rasseweib" zu sprechen, und statt auf
die malerische Schürzung ihres Halstuches auf das Sitzen ihrer Gamaschen und
das Futter ihres Überziehers Gewicht zu legen. Wie das nun auf seine
litterarische Entfaltung einwirkte, bemüht er sich dabei eifrig genug zu zeigen,
fast möchte man sagen: entschuldigend. Diese Entschuldigung ist heute nicht
mehr nötig. Eben dieser Balzac ist heute nach dem Literarhistoriker Zola
-- und durch den Dichter Zola ist dabei stillschweigend hinzuzusetzen -- M
soniMst, 00I088ÄI, Er ist ihm der litterarische Reformator xar sxvsllsnog, da
ja auch der litterarische Anstand verbietet, sich selbst als solchen zu bezeichnen.
Also eine litterarische Macht ist der moderne realistische Roman, der Typus
und Vertreter seiner Zeit, das neue Kapitel in der Litteraturgeschichte, welches
sich ja bekanntlich immer einbildet, zugleich das letzte zu sein. Eben diese
Stellung bekleidet nun im siebzehnten Jahrhundert -- um dessen Mitte ge¬
nauer -- nicht der komische Roman, sondern der "idealistische" Roman, Körtings
mitleidig eingeführter, für sein Dasein um Verzeihung bittender erster Band.
Mit ihm muß man, wenn statt des äußern Zusammenhanges die tiefere histo¬
rische Beziehung zur Gegenwart zu ihrem Rechte kommen soll, den modernen "rea¬
listischen" Roman vergleichen. Diejenigen aber, welche zu dieser herrschenden
Strömung in einen Gegensatz treten, welche auch litterarische Moden nicht gern
mitmachen, sondern sich sogar gegen sie und die ihr zu Grunde liegende gesell¬
schaftliche Stimmung satirisch auflehnen, in Ausnahmefällen sich gänzlich ihre
gemütliche und litterarische Unabhängigkeit wahren: diese vereinzelten Erschei¬
nungen find damals ebenso wenig "realistisch," als heute in diesem Sinne
"idealistisch" zu nennen.'

Über die Bedeutung dieser heutezu Worten für alles gewordenen ästhe¬
tischen Schlagworte sollte man sich schon deshalb klarer sein. Wir wünschten
sehr, uns hier auf eine solche Klärung beziehen zu können; denn ein wahrer
Rattenkönig von Verwechslungen, falschen Analogien, Begriffsübertragungen
müßte hier entwirrt werden. Sie entstammen der Kantischen Philosophie; denn
erst seitdem sind sie die Lieblingsworte namentlich der deutschen Kritik. Aber
was bezeichnete man nicht schließlich alles mit diesen für den abstrakt metaphy¬
sischen Gebrauch zurecht gemachten Ausdrücken! Es giebt kaum mehr ein Gebiet
ganz gemeinen, selbstverständlichen, unmetaphysischen Daseins, wo sie sich nicht
breit machen und mit ihren schließlich in allen Farben schillernden, bis zur Un¬
kenntlichkeit abgegriffenem Prägungen Streit und Verwirrung anrichten. Wer
sich und der Familie das Geld abdarbt, um zum hundertsten male vergeblich


Zur Geschichte dos realistischen Romans.

schaftliche Romantik, welche fast in allen Kulturländern die Folge der abenteuer¬
lichen Weltgestaltung in der Napoleonischen Zeit und nicht zum mindesten der
neuen Einflüsse deutscher Litteratur und Musik bezeichnet. Balzac schildert recht
augenfällig (im?örs Llorioy den Einsatz dieser Reaktion, wo die jungen Herren
anfingen, von einer Schönen nicht mehr als einer Zaubererscheinung aus Duft
und Mondschein, sondern als „kapitales Rasseweib" zu sprechen, und statt auf
die malerische Schürzung ihres Halstuches auf das Sitzen ihrer Gamaschen und
das Futter ihres Überziehers Gewicht zu legen. Wie das nun auf seine
litterarische Entfaltung einwirkte, bemüht er sich dabei eifrig genug zu zeigen,
fast möchte man sagen: entschuldigend. Diese Entschuldigung ist heute nicht
mehr nötig. Eben dieser Balzac ist heute nach dem Literarhistoriker Zola
— und durch den Dichter Zola ist dabei stillschweigend hinzuzusetzen — M
soniMst, 00I088ÄI, Er ist ihm der litterarische Reformator xar sxvsllsnog, da
ja auch der litterarische Anstand verbietet, sich selbst als solchen zu bezeichnen.
Also eine litterarische Macht ist der moderne realistische Roman, der Typus
und Vertreter seiner Zeit, das neue Kapitel in der Litteraturgeschichte, welches
sich ja bekanntlich immer einbildet, zugleich das letzte zu sein. Eben diese
Stellung bekleidet nun im siebzehnten Jahrhundert — um dessen Mitte ge¬
nauer — nicht der komische Roman, sondern der „idealistische" Roman, Körtings
mitleidig eingeführter, für sein Dasein um Verzeihung bittender erster Band.
Mit ihm muß man, wenn statt des äußern Zusammenhanges die tiefere histo¬
rische Beziehung zur Gegenwart zu ihrem Rechte kommen soll, den modernen „rea¬
listischen" Roman vergleichen. Diejenigen aber, welche zu dieser herrschenden
Strömung in einen Gegensatz treten, welche auch litterarische Moden nicht gern
mitmachen, sondern sich sogar gegen sie und die ihr zu Grunde liegende gesell¬
schaftliche Stimmung satirisch auflehnen, in Ausnahmefällen sich gänzlich ihre
gemütliche und litterarische Unabhängigkeit wahren: diese vereinzelten Erschei¬
nungen find damals ebenso wenig „realistisch," als heute in diesem Sinne
„idealistisch" zu nennen.'

Über die Bedeutung dieser heutezu Worten für alles gewordenen ästhe¬
tischen Schlagworte sollte man sich schon deshalb klarer sein. Wir wünschten
sehr, uns hier auf eine solche Klärung beziehen zu können; denn ein wahrer
Rattenkönig von Verwechslungen, falschen Analogien, Begriffsübertragungen
müßte hier entwirrt werden. Sie entstammen der Kantischen Philosophie; denn
erst seitdem sind sie die Lieblingsworte namentlich der deutschen Kritik. Aber
was bezeichnete man nicht schließlich alles mit diesen für den abstrakt metaphy¬
sischen Gebrauch zurecht gemachten Ausdrücken! Es giebt kaum mehr ein Gebiet
ganz gemeinen, selbstverständlichen, unmetaphysischen Daseins, wo sie sich nicht
breit machen und mit ihren schließlich in allen Farben schillernden, bis zur Un¬
kenntlichkeit abgegriffenem Prägungen Streit und Verwirrung anrichten. Wer
sich und der Familie das Geld abdarbt, um zum hundertsten male vergeblich


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[0308] Zur Geschichte dos realistischen Romans. schaftliche Romantik, welche fast in allen Kulturländern die Folge der abenteuer¬ lichen Weltgestaltung in der Napoleonischen Zeit und nicht zum mindesten der neuen Einflüsse deutscher Litteratur und Musik bezeichnet. Balzac schildert recht augenfällig (im?örs Llorioy den Einsatz dieser Reaktion, wo die jungen Herren anfingen, von einer Schönen nicht mehr als einer Zaubererscheinung aus Duft und Mondschein, sondern als „kapitales Rasseweib" zu sprechen, und statt auf die malerische Schürzung ihres Halstuches auf das Sitzen ihrer Gamaschen und das Futter ihres Überziehers Gewicht zu legen. Wie das nun auf seine litterarische Entfaltung einwirkte, bemüht er sich dabei eifrig genug zu zeigen, fast möchte man sagen: entschuldigend. Diese Entschuldigung ist heute nicht mehr nötig. Eben dieser Balzac ist heute nach dem Literarhistoriker Zola — und durch den Dichter Zola ist dabei stillschweigend hinzuzusetzen — M soniMst, 00I088ÄI, Er ist ihm der litterarische Reformator xar sxvsllsnog, da ja auch der litterarische Anstand verbietet, sich selbst als solchen zu bezeichnen. Also eine litterarische Macht ist der moderne realistische Roman, der Typus und Vertreter seiner Zeit, das neue Kapitel in der Litteraturgeschichte, welches sich ja bekanntlich immer einbildet, zugleich das letzte zu sein. Eben diese Stellung bekleidet nun im siebzehnten Jahrhundert — um dessen Mitte ge¬ nauer — nicht der komische Roman, sondern der „idealistische" Roman, Körtings mitleidig eingeführter, für sein Dasein um Verzeihung bittender erster Band. Mit ihm muß man, wenn statt des äußern Zusammenhanges die tiefere histo¬ rische Beziehung zur Gegenwart zu ihrem Rechte kommen soll, den modernen „rea¬ listischen" Roman vergleichen. Diejenigen aber, welche zu dieser herrschenden Strömung in einen Gegensatz treten, welche auch litterarische Moden nicht gern mitmachen, sondern sich sogar gegen sie und die ihr zu Grunde liegende gesell¬ schaftliche Stimmung satirisch auflehnen, in Ausnahmefällen sich gänzlich ihre gemütliche und litterarische Unabhängigkeit wahren: diese vereinzelten Erschei¬ nungen find damals ebenso wenig „realistisch," als heute in diesem Sinne „idealistisch" zu nennen.' Über die Bedeutung dieser heutezu Worten für alles gewordenen ästhe¬ tischen Schlagworte sollte man sich schon deshalb klarer sein. Wir wünschten sehr, uns hier auf eine solche Klärung beziehen zu können; denn ein wahrer Rattenkönig von Verwechslungen, falschen Analogien, Begriffsübertragungen müßte hier entwirrt werden. Sie entstammen der Kantischen Philosophie; denn erst seitdem sind sie die Lieblingsworte namentlich der deutschen Kritik. Aber was bezeichnete man nicht schließlich alles mit diesen für den abstrakt metaphy¬ sischen Gebrauch zurecht gemachten Ausdrücken! Es giebt kaum mehr ein Gebiet ganz gemeinen, selbstverständlichen, unmetaphysischen Daseins, wo sie sich nicht breit machen und mit ihren schließlich in allen Farben schillernden, bis zur Un¬ kenntlichkeit abgegriffenem Prägungen Streit und Verwirrung anrichten. Wer sich und der Familie das Geld abdarbt, um zum hundertsten male vergeblich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/308>, abgerufen am 23.06.2024.