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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans,

trachtet, nicht herzlich dürftig? Ganz gewiß! Interessant, wird der Litte-
raturfreund sagen, sehr interessant, daß der Zola schon im siebzehnten Jahr¬
hundert Vorgänger gehabt hat! Und zuversichtlich wird er, indem er das sagt,
vom siebzehnten Jahrhundert sich ein sehr uninteressantes, jedenfalls recht
falsches Bild machen. Wie steht es da nun um das Geschäft des Geschicht¬
schreibers? Er muß für die Vergangenheit erwärmen, denn er will sie ja in
Gedanken, in der Vorstellung neu beleben, und zwar sicherlich nicht deshalb,
weil sie ist wie die Gegenwart, sondern offenbar, weil sie so nicht ist. Ob mehr
oder weniger interessant, jedenfalls anders. Und der wahre Geschichtsfreund
folgt ihm letzten Grundes eben gerade wegen dieses Andersseins. Er will eine
Erzählung, keinen Rapport; je mehr Selbstzweck er von ersterer erwarten kann,
desto bereiter wird er sein, zu hören und neu aufzufassen. Wird es nun im
"Interesse" des Historikers liegen, einen Rapport zu verheißen, wo er eine Er¬
zählung giebt oder zu geben imstande ist?

Die von Körting im vorliegenden Bande behandelten Romane war man
bisher gewohnt unter dem Begriffe "komischer Roman" zusammenzufassen. Ich
weiß nicht, ob ich als Liebhaber nicht lieber zu einem Buche über komische
Romane greife, als zu einem über "Ansätze" zum realistischen Romane. Nichts
ist so über die Zeit erhaben als Witz, Laune, Humor. Selbst der unhistorische
Sinn begreift eher einen schlechten Schwank der alten Zeit, als ihren guten
Ernst. Unser moderner realistischer Roman ist nun aber bekanntlich nichts
weniger als komisch. Einige gute Ansätze bei Honore de Balzac hat die Plump¬
heit seiner nächsten Nachfolger nicht zur Entfaltung gelangen laisser, die völlige
Humorlosigkeit, der litterarische Fanatismus Zolas hat sie mit Bewußtsein
unterdrückt. Der komische Roman ist ein litterarischer Freischärler neben den
geschulten Kolonnen der modernen Litteraturzweige, der unmittelbare Fortsetzer
des rein volksmäßigen schwankes, der letzte Überrest des litterarisch noch frei¬
zügigen Mittelalters. Ebenso eifrig gelesen als geschmäht, umso mehr verbreitet,
je weniger empfohlen, zeigt er die verschiedensten Gesichter. Oft nichts weiter
als öde Zotensammlung und Platte Spaßmacherei, ergreift ihn in allen Ländern
und bis auf die neueste Zeit -- wenn wir eine Erscheinung wie Boz noch
hierher rechnen dürfen -- hie und da ein geistreicher, bedeutender Kopf, um
etwas aus ihm zu machen, und zwar in den allermeisten Fällen eine satirische
Waffe besonders gegen die anerkannte Litteratur selbst. Das hat den plebejischen
Profanus im Reiche der "hohen" Litteratur natürlich nicht gerade hoffähiger
machen können, und selbst inmitten der weitgehenden Duldung, die heute statt
der frühern Ausschließlichkeit in sie gefahren ist, scheint es doch noch ein merk¬
würdiger Nachklang dieser frühern Stimmung, wenn der auf die Führerschaft
der QAuts littsraturs von Anbeginn an so erpichte Zola sich gegen diese fatale
Familienbeziehung so auffällig zur Wehr setzt. Zola stellt die letzten Konse¬
quenzen dar von jener materialistisch-naturalistischen Reaktion gegen die gesell-


Zur Geschichte des realistischen Romans,

trachtet, nicht herzlich dürftig? Ganz gewiß! Interessant, wird der Litte-
raturfreund sagen, sehr interessant, daß der Zola schon im siebzehnten Jahr¬
hundert Vorgänger gehabt hat! Und zuversichtlich wird er, indem er das sagt,
vom siebzehnten Jahrhundert sich ein sehr uninteressantes, jedenfalls recht
falsches Bild machen. Wie steht es da nun um das Geschäft des Geschicht¬
schreibers? Er muß für die Vergangenheit erwärmen, denn er will sie ja in
Gedanken, in der Vorstellung neu beleben, und zwar sicherlich nicht deshalb,
weil sie ist wie die Gegenwart, sondern offenbar, weil sie so nicht ist. Ob mehr
oder weniger interessant, jedenfalls anders. Und der wahre Geschichtsfreund
folgt ihm letzten Grundes eben gerade wegen dieses Andersseins. Er will eine
Erzählung, keinen Rapport; je mehr Selbstzweck er von ersterer erwarten kann,
desto bereiter wird er sein, zu hören und neu aufzufassen. Wird es nun im
„Interesse" des Historikers liegen, einen Rapport zu verheißen, wo er eine Er¬
zählung giebt oder zu geben imstande ist?

Die von Körting im vorliegenden Bande behandelten Romane war man
bisher gewohnt unter dem Begriffe „komischer Roman" zusammenzufassen. Ich
weiß nicht, ob ich als Liebhaber nicht lieber zu einem Buche über komische
Romane greife, als zu einem über „Ansätze" zum realistischen Romane. Nichts
ist so über die Zeit erhaben als Witz, Laune, Humor. Selbst der unhistorische
Sinn begreift eher einen schlechten Schwank der alten Zeit, als ihren guten
Ernst. Unser moderner realistischer Roman ist nun aber bekanntlich nichts
weniger als komisch. Einige gute Ansätze bei Honore de Balzac hat die Plump¬
heit seiner nächsten Nachfolger nicht zur Entfaltung gelangen laisser, die völlige
Humorlosigkeit, der litterarische Fanatismus Zolas hat sie mit Bewußtsein
unterdrückt. Der komische Roman ist ein litterarischer Freischärler neben den
geschulten Kolonnen der modernen Litteraturzweige, der unmittelbare Fortsetzer
des rein volksmäßigen schwankes, der letzte Überrest des litterarisch noch frei¬
zügigen Mittelalters. Ebenso eifrig gelesen als geschmäht, umso mehr verbreitet,
je weniger empfohlen, zeigt er die verschiedensten Gesichter. Oft nichts weiter
als öde Zotensammlung und Platte Spaßmacherei, ergreift ihn in allen Ländern
und bis auf die neueste Zeit — wenn wir eine Erscheinung wie Boz noch
hierher rechnen dürfen — hie und da ein geistreicher, bedeutender Kopf, um
etwas aus ihm zu machen, und zwar in den allermeisten Fällen eine satirische
Waffe besonders gegen die anerkannte Litteratur selbst. Das hat den plebejischen
Profanus im Reiche der „hohen" Litteratur natürlich nicht gerade hoffähiger
machen können, und selbst inmitten der weitgehenden Duldung, die heute statt
der frühern Ausschließlichkeit in sie gefahren ist, scheint es doch noch ein merk¬
würdiger Nachklang dieser frühern Stimmung, wenn der auf die Führerschaft
der QAuts littsraturs von Anbeginn an so erpichte Zola sich gegen diese fatale
Familienbeziehung so auffällig zur Wehr setzt. Zola stellt die letzten Konse¬
quenzen dar von jener materialistisch-naturalistischen Reaktion gegen die gesell-


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[0307] Zur Geschichte des realistischen Romans, trachtet, nicht herzlich dürftig? Ganz gewiß! Interessant, wird der Litte- raturfreund sagen, sehr interessant, daß der Zola schon im siebzehnten Jahr¬ hundert Vorgänger gehabt hat! Und zuversichtlich wird er, indem er das sagt, vom siebzehnten Jahrhundert sich ein sehr uninteressantes, jedenfalls recht falsches Bild machen. Wie steht es da nun um das Geschäft des Geschicht¬ schreibers? Er muß für die Vergangenheit erwärmen, denn er will sie ja in Gedanken, in der Vorstellung neu beleben, und zwar sicherlich nicht deshalb, weil sie ist wie die Gegenwart, sondern offenbar, weil sie so nicht ist. Ob mehr oder weniger interessant, jedenfalls anders. Und der wahre Geschichtsfreund folgt ihm letzten Grundes eben gerade wegen dieses Andersseins. Er will eine Erzählung, keinen Rapport; je mehr Selbstzweck er von ersterer erwarten kann, desto bereiter wird er sein, zu hören und neu aufzufassen. Wird es nun im „Interesse" des Historikers liegen, einen Rapport zu verheißen, wo er eine Er¬ zählung giebt oder zu geben imstande ist? Die von Körting im vorliegenden Bande behandelten Romane war man bisher gewohnt unter dem Begriffe „komischer Roman" zusammenzufassen. Ich weiß nicht, ob ich als Liebhaber nicht lieber zu einem Buche über komische Romane greife, als zu einem über „Ansätze" zum realistischen Romane. Nichts ist so über die Zeit erhaben als Witz, Laune, Humor. Selbst der unhistorische Sinn begreift eher einen schlechten Schwank der alten Zeit, als ihren guten Ernst. Unser moderner realistischer Roman ist nun aber bekanntlich nichts weniger als komisch. Einige gute Ansätze bei Honore de Balzac hat die Plump¬ heit seiner nächsten Nachfolger nicht zur Entfaltung gelangen laisser, die völlige Humorlosigkeit, der litterarische Fanatismus Zolas hat sie mit Bewußtsein unterdrückt. Der komische Roman ist ein litterarischer Freischärler neben den geschulten Kolonnen der modernen Litteraturzweige, der unmittelbare Fortsetzer des rein volksmäßigen schwankes, der letzte Überrest des litterarisch noch frei¬ zügigen Mittelalters. Ebenso eifrig gelesen als geschmäht, umso mehr verbreitet, je weniger empfohlen, zeigt er die verschiedensten Gesichter. Oft nichts weiter als öde Zotensammlung und Platte Spaßmacherei, ergreift ihn in allen Ländern und bis auf die neueste Zeit — wenn wir eine Erscheinung wie Boz noch hierher rechnen dürfen — hie und da ein geistreicher, bedeutender Kopf, um etwas aus ihm zu machen, und zwar in den allermeisten Fällen eine satirische Waffe besonders gegen die anerkannte Litteratur selbst. Das hat den plebejischen Profanus im Reiche der „hohen" Litteratur natürlich nicht gerade hoffähiger machen können, und selbst inmitten der weitgehenden Duldung, die heute statt der frühern Ausschließlichkeit in sie gefahren ist, scheint es doch noch ein merk¬ würdiger Nachklang dieser frühern Stimmung, wenn der auf die Führerschaft der QAuts littsraturs von Anbeginn an so erpichte Zola sich gegen diese fatale Familienbeziehung so auffällig zur Wehr setzt. Zola stellt die letzten Konse¬ quenzen dar von jener materialistisch-naturalistischen Reaktion gegen die gesell-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/307>, abgerufen am 23.06.2024.