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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Bund.

gesamtes geistiges Interesse der Litteratur und Philosophie zugewandt hatte, so
war das auch zu dieser Zeit der Fall. In demselben Maße jedoch, wie die Dichter
dieses Zeitraumes der Epigonen jenen Heroen der klassischen Zeit nachstanden,
stand diese Bewegung an Tiefe und Gediegenheit der früheren nach. Eine
wunderbare Bemerkung drängt sich bei der Übersicht der dichterischen Erzeugnisse
der damaligen Zeit auch dem oberflächlichen Beobachter auf. Die Klänge der
Befreiungskriege waren mit der Demagogenverfolgung verstummt, die nationalen
Helden jener großen Zeit waren fast vergessen, von Scharnhorst, Blücher oder
Gneisenau hörte man kaum noch singen und sagen. Dagegen machten sich in
den Lieblingsliedern jener Zeit die Hydrioten und Sphakioten breit, die
Mainvtten, Phanarioten und andre interessante Leute mit Namen, von deren
Bedeutung der deutsche Bildungsphilister damals meistens keine Ahnung hatte
und wohl auch jetzt uoch nicht hat. Dann folgten die Polenlieder. Der Gre¬
nadiere, welche La Billette gestürmt hatten, gedachte man nicht mehr, aber für
die Grenadiere, "die letzten Zehn vom vierten Regiment," die eines schönen,
aber nebligen Morgens "in das Preußeuland" kamen, begeisterte man sich. Die
Thaten von Großbeeren und Dennewitz, die Feldherren Bülow und Tauentzien,
Aork und Kleist wurden kaum noch erwähnt, aber von Praga, von dem "tapfern
Lagienka" schwärmte und sang Herz und Mund jenes rührseligen Geschlechtes.
Dann kamen Heine und seine zahllosen Nachbeter mit ihren ausgesprochenen fran¬
zösischen Sympathien. Der Kultus, der mit Napoleon getrieben ward, dessen große
Eigenschaften man gar nicht abzuleugnen braucht, um doch zunächst in ihm den
Mann zu sehen, der unsägliches Elend und unaussprechliche Schmach über unser
Vaterland gebracht hat, ist geradezu ekelerregend. Die beiden Grenadiere, die
nach Frankreich zogen, die große Parade im elyseischen Felde, IlÄ Lslls ?oulo,
das Schiff, das des Kaisers Asche nach Frankreich brachte, der Garten von Schön¬
bronnen, in dem der König von Rom liegt, hatten in jenem Zeitalter des ver¬
schwommenen Kosmopolitismus die nationalen Stoffe fast verdrängt. Sogar
ein wackerer preußischer Offizier, von Gaudy, schrieb "Kaiserlieder." Und diese
dichterischen Erzeugnisse beeinflußten die öffentliche Stimmung umso mehr, als sie
meist durch poetischen Wert hervorragten. Die Dichter der romantischen Schule
griffen, wenn sie auch vaterländische Stoffe wählten, doch gewöhnlich in eine so
weit entlegne Zeit -- in das sagenhafte Mittelalter -- zurück, und der Ton
ihrer Dichtungen war in so hohem Grade mystisch, dunkel und unklar, daß
sie auf weitere Kreise des Volkes fast gar keine Wirkung haben konnten.
Sogar Uhland, so hoch er auch als Dichter und Patriot zu stellen ist, hat
kaum etwas dazu beigetragen, einen nationalen Aufschwung vorzubereiten. Am
meisten in dieser Beziehung wirkte wohl das Lied von Nikolaus Becker: "Sie sollen
ihn nicht haben!" Die "Wacht am Rhein" dagegen, die derselben Zeit ent¬
stammt, fand so gut wie gar keine Beachtung, sondern blieb fast dreißig Jahre
vergessen.


Der deutsche Bund.

gesamtes geistiges Interesse der Litteratur und Philosophie zugewandt hatte, so
war das auch zu dieser Zeit der Fall. In demselben Maße jedoch, wie die Dichter
dieses Zeitraumes der Epigonen jenen Heroen der klassischen Zeit nachstanden,
stand diese Bewegung an Tiefe und Gediegenheit der früheren nach. Eine
wunderbare Bemerkung drängt sich bei der Übersicht der dichterischen Erzeugnisse
der damaligen Zeit auch dem oberflächlichen Beobachter auf. Die Klänge der
Befreiungskriege waren mit der Demagogenverfolgung verstummt, die nationalen
Helden jener großen Zeit waren fast vergessen, von Scharnhorst, Blücher oder
Gneisenau hörte man kaum noch singen und sagen. Dagegen machten sich in
den Lieblingsliedern jener Zeit die Hydrioten und Sphakioten breit, die
Mainvtten, Phanarioten und andre interessante Leute mit Namen, von deren
Bedeutung der deutsche Bildungsphilister damals meistens keine Ahnung hatte
und wohl auch jetzt uoch nicht hat. Dann folgten die Polenlieder. Der Gre¬
nadiere, welche La Billette gestürmt hatten, gedachte man nicht mehr, aber für
die Grenadiere, „die letzten Zehn vom vierten Regiment," die eines schönen,
aber nebligen Morgens „in das Preußeuland" kamen, begeisterte man sich. Die
Thaten von Großbeeren und Dennewitz, die Feldherren Bülow und Tauentzien,
Aork und Kleist wurden kaum noch erwähnt, aber von Praga, von dem „tapfern
Lagienka" schwärmte und sang Herz und Mund jenes rührseligen Geschlechtes.
Dann kamen Heine und seine zahllosen Nachbeter mit ihren ausgesprochenen fran¬
zösischen Sympathien. Der Kultus, der mit Napoleon getrieben ward, dessen große
Eigenschaften man gar nicht abzuleugnen braucht, um doch zunächst in ihm den
Mann zu sehen, der unsägliches Elend und unaussprechliche Schmach über unser
Vaterland gebracht hat, ist geradezu ekelerregend. Die beiden Grenadiere, die
nach Frankreich zogen, die große Parade im elyseischen Felde, IlÄ Lslls ?oulo,
das Schiff, das des Kaisers Asche nach Frankreich brachte, der Garten von Schön¬
bronnen, in dem der König von Rom liegt, hatten in jenem Zeitalter des ver¬
schwommenen Kosmopolitismus die nationalen Stoffe fast verdrängt. Sogar
ein wackerer preußischer Offizier, von Gaudy, schrieb „Kaiserlieder." Und diese
dichterischen Erzeugnisse beeinflußten die öffentliche Stimmung umso mehr, als sie
meist durch poetischen Wert hervorragten. Die Dichter der romantischen Schule
griffen, wenn sie auch vaterländische Stoffe wählten, doch gewöhnlich in eine so
weit entlegne Zeit — in das sagenhafte Mittelalter — zurück, und der Ton
ihrer Dichtungen war in so hohem Grade mystisch, dunkel und unklar, daß
sie auf weitere Kreise des Volkes fast gar keine Wirkung haben konnten.
Sogar Uhland, so hoch er auch als Dichter und Patriot zu stellen ist, hat
kaum etwas dazu beigetragen, einen nationalen Aufschwung vorzubereiten. Am
meisten in dieser Beziehung wirkte wohl das Lied von Nikolaus Becker: „Sie sollen
ihn nicht haben!" Die „Wacht am Rhein" dagegen, die derselben Zeit ent¬
stammt, fand so gut wie gar keine Beachtung, sondern blieb fast dreißig Jahre
vergessen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/298>, abgerufen am 22.06.2024.