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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien.

Für England und dessen ostindisches Reich hat diese neue Brücke eine Be¬
deutung, die weit über geographisches Interesse und geschichtliche Erinnerung
und Vergleichung hinausreicht. Natürlich giebt sie noch keinen Anlaß zu
Befürchtungen für heute und morgen. Trotzdem ist sie ein neues, laut redendes
und warnendes Zeugnis für die Beharrlichkeit, mit welcher das moskowitische
Reich seine Politik wohlberechneter Thätigkeit an seinen Grenzen in jeder Richtung
und namentlich im Südosten, nach Indien zu, verfolgt. Ganz ähnlich, wie massen¬
hafte Streitkräfte des Zaren langsam und in möglichster Stille und Verborgen¬
heit an die deutsche und galizische Grenze vorgeschoben wurden, bis Berlin und
Wien eines Tages erwachten, um zu vernehmen, daß um die östlichen Marken
russische Bajonette und Säbel blitzten, rückten auch gegen Rumänien, in
Bessarabien gegen Bulgarien, in Asien gegen Armenien und die cmatolischen
Festungen und in Turkestan gegen das Gebiet des Emirs der Afghanen in aller
Stille moskowitische Heerhaufen vor. Es ist wie das verstohlene Vorgehen der
Bauern eines feinen Schachspielers: es wird nicht viel gezeigt, es giebt keine
offenkundige Bedrohung und Gefahr, aber ein starker Angriff bereitet sich
allmählich durch kleine, aber stetig fortgesetzte Hinzufügungen von Streitkräften
vor, bis endlich genügendes Material zu einem Vorstoß mit der Gesamtheit
dieser Kräfte beisammen ist. Jene Annenkoffsche Brücke ist ein Hauptglied,
welches eine Kette wichtiger militärischer Handlungen verbindet. Sie bildet das
Mittelstück der großen Eisenbahn, welche, unter der Leitung des genannten Ge¬
nerals erbaut, die russische Station Michailowsk am Kaspisee einerseits mit
Samarkand im Norden des Oxus, anderseits mit Maro im Süden dieses
Flusses verknüpft. Diese zentralasiatische Riesenbahn erstreckt sich oder wird
sich in kurzem erstrecken über Kiön Arwat, Ask Abad und Kasta nach Merw
und von da, den Oxus bei Tschardjui überschreitend, nach Bochara und Samar¬
kand sowie wahrscheinlich auch nach Taschkend. Arglose Leute versichern, daß
das einzige Gleis, welches hier bis jetzt gelegt worden ist, nur für den Handels¬
verkehr über Merw ausgedehnt und über den großen Strom geführt worden
sei. Es ist aber, wenigstens dem russischen Generalstcibe, nicht verborgen ge¬
blieben, daß der nach Samarkand abzweigende Teil der Schienenstraße auch und
zwar ganz vorzüglich Kriegszwecken dienen, d. h. ein Verbindungsglied zwischen
den Garnisonen und Magazinen der turkestcmischen Städte und Merws abgeben
und die Besetzung von Balkh und die Eroberung der afghanischen Charade
wesentlich erleichtern kann. Jedes russische Heer, das gegen Herat vordringen
sollte, würde seine Bedürfnisse natürlich aus den transkaspischen Gebieten des
Zaren beziehen, aber das könnte nach Vollendung jenes Eisenbahnzweiges auch
mit den Streitkräften Rußlands'in Turkestan der Fall sein, und wir dürfen
mit Sicherheit erwarten, daß der Hauptkörper der Annenkoffschen Eisenbahn
sehr bald auch Polypenarme nach Sarakhs und Penjdeh, ja nach Kaschk, wenige
Meilen von der Grenze der Oase, in welcher Herat liegt, ausstrecken wird.


Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien.

Für England und dessen ostindisches Reich hat diese neue Brücke eine Be¬
deutung, die weit über geographisches Interesse und geschichtliche Erinnerung
und Vergleichung hinausreicht. Natürlich giebt sie noch keinen Anlaß zu
Befürchtungen für heute und morgen. Trotzdem ist sie ein neues, laut redendes
und warnendes Zeugnis für die Beharrlichkeit, mit welcher das moskowitische
Reich seine Politik wohlberechneter Thätigkeit an seinen Grenzen in jeder Richtung
und namentlich im Südosten, nach Indien zu, verfolgt. Ganz ähnlich, wie massen¬
hafte Streitkräfte des Zaren langsam und in möglichster Stille und Verborgen¬
heit an die deutsche und galizische Grenze vorgeschoben wurden, bis Berlin und
Wien eines Tages erwachten, um zu vernehmen, daß um die östlichen Marken
russische Bajonette und Säbel blitzten, rückten auch gegen Rumänien, in
Bessarabien gegen Bulgarien, in Asien gegen Armenien und die cmatolischen
Festungen und in Turkestan gegen das Gebiet des Emirs der Afghanen in aller
Stille moskowitische Heerhaufen vor. Es ist wie das verstohlene Vorgehen der
Bauern eines feinen Schachspielers: es wird nicht viel gezeigt, es giebt keine
offenkundige Bedrohung und Gefahr, aber ein starker Angriff bereitet sich
allmählich durch kleine, aber stetig fortgesetzte Hinzufügungen von Streitkräften
vor, bis endlich genügendes Material zu einem Vorstoß mit der Gesamtheit
dieser Kräfte beisammen ist. Jene Annenkoffsche Brücke ist ein Hauptglied,
welches eine Kette wichtiger militärischer Handlungen verbindet. Sie bildet das
Mittelstück der großen Eisenbahn, welche, unter der Leitung des genannten Ge¬
nerals erbaut, die russische Station Michailowsk am Kaspisee einerseits mit
Samarkand im Norden des Oxus, anderseits mit Maro im Süden dieses
Flusses verknüpft. Diese zentralasiatische Riesenbahn erstreckt sich oder wird
sich in kurzem erstrecken über Kiön Arwat, Ask Abad und Kasta nach Merw
und von da, den Oxus bei Tschardjui überschreitend, nach Bochara und Samar¬
kand sowie wahrscheinlich auch nach Taschkend. Arglose Leute versichern, daß
das einzige Gleis, welches hier bis jetzt gelegt worden ist, nur für den Handels¬
verkehr über Merw ausgedehnt und über den großen Strom geführt worden
sei. Es ist aber, wenigstens dem russischen Generalstcibe, nicht verborgen ge¬
blieben, daß der nach Samarkand abzweigende Teil der Schienenstraße auch und
zwar ganz vorzüglich Kriegszwecken dienen, d. h. ein Verbindungsglied zwischen
den Garnisonen und Magazinen der turkestcmischen Städte und Merws abgeben
und die Besetzung von Balkh und die Eroberung der afghanischen Charade
wesentlich erleichtern kann. Jedes russische Heer, das gegen Herat vordringen
sollte, würde seine Bedürfnisse natürlich aus den transkaspischen Gebieten des
Zaren beziehen, aber das könnte nach Vollendung jenes Eisenbahnzweiges auch
mit den Streitkräften Rußlands'in Turkestan der Fall sein, und wir dürfen
mit Sicherheit erwarten, daß der Hauptkörper der Annenkoffschen Eisenbahn
sehr bald auch Polypenarme nach Sarakhs und Penjdeh, ja nach Kaschk, wenige
Meilen von der Grenze der Oase, in welcher Herat liegt, ausstrecken wird.


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[0275] Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien. Für England und dessen ostindisches Reich hat diese neue Brücke eine Be¬ deutung, die weit über geographisches Interesse und geschichtliche Erinnerung und Vergleichung hinausreicht. Natürlich giebt sie noch keinen Anlaß zu Befürchtungen für heute und morgen. Trotzdem ist sie ein neues, laut redendes und warnendes Zeugnis für die Beharrlichkeit, mit welcher das moskowitische Reich seine Politik wohlberechneter Thätigkeit an seinen Grenzen in jeder Richtung und namentlich im Südosten, nach Indien zu, verfolgt. Ganz ähnlich, wie massen¬ hafte Streitkräfte des Zaren langsam und in möglichster Stille und Verborgen¬ heit an die deutsche und galizische Grenze vorgeschoben wurden, bis Berlin und Wien eines Tages erwachten, um zu vernehmen, daß um die östlichen Marken russische Bajonette und Säbel blitzten, rückten auch gegen Rumänien, in Bessarabien gegen Bulgarien, in Asien gegen Armenien und die cmatolischen Festungen und in Turkestan gegen das Gebiet des Emirs der Afghanen in aller Stille moskowitische Heerhaufen vor. Es ist wie das verstohlene Vorgehen der Bauern eines feinen Schachspielers: es wird nicht viel gezeigt, es giebt keine offenkundige Bedrohung und Gefahr, aber ein starker Angriff bereitet sich allmählich durch kleine, aber stetig fortgesetzte Hinzufügungen von Streitkräften vor, bis endlich genügendes Material zu einem Vorstoß mit der Gesamtheit dieser Kräfte beisammen ist. Jene Annenkoffsche Brücke ist ein Hauptglied, welches eine Kette wichtiger militärischer Handlungen verbindet. Sie bildet das Mittelstück der großen Eisenbahn, welche, unter der Leitung des genannten Ge¬ nerals erbaut, die russische Station Michailowsk am Kaspisee einerseits mit Samarkand im Norden des Oxus, anderseits mit Maro im Süden dieses Flusses verknüpft. Diese zentralasiatische Riesenbahn erstreckt sich oder wird sich in kurzem erstrecken über Kiön Arwat, Ask Abad und Kasta nach Merw und von da, den Oxus bei Tschardjui überschreitend, nach Bochara und Samar¬ kand sowie wahrscheinlich auch nach Taschkend. Arglose Leute versichern, daß das einzige Gleis, welches hier bis jetzt gelegt worden ist, nur für den Handels¬ verkehr über Merw ausgedehnt und über den großen Strom geführt worden sei. Es ist aber, wenigstens dem russischen Generalstcibe, nicht verborgen ge¬ blieben, daß der nach Samarkand abzweigende Teil der Schienenstraße auch und zwar ganz vorzüglich Kriegszwecken dienen, d. h. ein Verbindungsglied zwischen den Garnisonen und Magazinen der turkestcmischen Städte und Merws abgeben und die Besetzung von Balkh und die Eroberung der afghanischen Charade wesentlich erleichtern kann. Jedes russische Heer, das gegen Herat vordringen sollte, würde seine Bedürfnisse natürlich aus den transkaspischen Gebieten des Zaren beziehen, aber das könnte nach Vollendung jenes Eisenbahnzweiges auch mit den Streitkräften Rußlands'in Turkestan der Fall sein, und wir dürfen mit Sicherheit erwarten, daß der Hauptkörper der Annenkoffschen Eisenbahn sehr bald auch Polypenarme nach Sarakhs und Penjdeh, ja nach Kaschk, wenige Meilen von der Grenze der Oase, in welcher Herat liegt, ausstrecken wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/275>, abgerufen am 22.06.2024.