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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien,

durstigen Wüstenhochebene des Usturt und von den Sand- und Schlammbänke"
des Ural aufgesogen wird. Noch niemals ist dieser alte Strom im Laufe der
Jahrhunderte in seinen mittlern Teilen unter das Joch einer Brücke gebeugt
und seiner Eigenschaft als Verkehrshindernis entkleidet morden, immer hatte
man hier nur einzelne Fähren. Erst den moskowitischen Ingenieuren war es vor¬
behalten, ihn gleichsam zu zähmen und das zu vollbringen, was die Makedonier
und Timurs Scharen nicht einmal wagen wollten. Sie haben die Aufgabe an
keiner besonders günstigen Stelle zu lösen unternommen, sondern vielmehr die
ausgewählt, welche sich am besten zur Verlängerung ihrer großen Eisenbahn
vom Kaspischen See bis nach Samarkand eignet, wobei sie den Übergang von
Ufer zu Ufer nach Tschardjui verlegten. Der Strom ist hier von gewaltiger
Breite, fließt aber in der trocknen Jahreszeit in mehreren Armen zwischen Inseln
von Geröll und Sand, bedeckt mit Gras und Röhricht, die in der Zeit der
Schneeschmelze in -nächtigen Fluten von Bergwasser verschwinden. Es wird
berichtet, daß die Brücke des Generals Annenkoff in ihrem Entwürfe eine Länge
von 6804 Fuß, also zwei Kilometern hatte, woraus zu schließen ist, daß sie
aus verschiednen Abschnitten oder Gliedern besteht, die von Eiland zu Eiland
über deu breiten Strom führen, und hauptsächlich auf Holzpfeilern ruht. Mas¬
sive Zylinder und schwere Balken oder Gurte voll Eisen hätten sich mit den
dermaligen Verkehrsmitteln der Agenten des Zaren in Turkestan schwerlich
vom Kaspischen Meere bis nach Tschardjui schaffen lassen, der Bau wird sich
wohl nur durch seine Länge von ähnlichen Brücken unterscheiden, wie sie von
Holzhändlern im Hinterwalde des Westens von Amerika errichtet werden. Er
wird ein nur vorläufiges Werk sein. Doch ist nicht zu bezweifeln, daß er
seinem Zwecke entsprechen wird, bis die Verbesserung der Verkehrslinie die
Russen in den Stand setzt, den Strom in einer Gestalt zu überbrücken, welche
der Wut, die er in der Zeit entwickelt, wo der Schnee jenseits des Pamir
aufthaut, mit Sicherheit Widerstand zu leisten verspricht.

Wo die Lokomotive, mit welcher Annenkoff und der Beg von Tschardjui
den Fluß überschritten, ohne Unfall die Brücke passirte, werden bald auch
Truppen zu Fuß und zu Pferde, Geschütze, Munition und Proviant von Ufer
zu Ufer kommen und gehen. Die neue Brücke ist also ohne Zweifel ein sehr
wichtiger Gewinn und Vorteil für Rußland, namentlich wenn man die Ent¬
legenheit der Stelle, wo sie steht, in Rechnung zieht, und der Beg und sein
halbwildes Gefolge werden die Augen weit aufgethan und manches staunende
"Jnschallah!" ausgestoßen haben, als sie mit dem sausenden "Feuerwagen" über
die breite Fläche des endlich von Menschen bezwungenen Stromes fegten. Der
Name des "weißen Zaren" muß in den Augen der Nomaden von Karakum größer
und schrecklicher geworden sein, als der schrille Pfiff der Lokomotive die langen
Reihen von Pelikanen und die zahllosen Schwärme wilder Gänse aufscheuchte,
welche an den Rändern der Ufersümpfe unter ihren Rädern nisten.


Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien,

durstigen Wüstenhochebene des Usturt und von den Sand- und Schlammbänke»
des Ural aufgesogen wird. Noch niemals ist dieser alte Strom im Laufe der
Jahrhunderte in seinen mittlern Teilen unter das Joch einer Brücke gebeugt
und seiner Eigenschaft als Verkehrshindernis entkleidet morden, immer hatte
man hier nur einzelne Fähren. Erst den moskowitischen Ingenieuren war es vor¬
behalten, ihn gleichsam zu zähmen und das zu vollbringen, was die Makedonier
und Timurs Scharen nicht einmal wagen wollten. Sie haben die Aufgabe an
keiner besonders günstigen Stelle zu lösen unternommen, sondern vielmehr die
ausgewählt, welche sich am besten zur Verlängerung ihrer großen Eisenbahn
vom Kaspischen See bis nach Samarkand eignet, wobei sie den Übergang von
Ufer zu Ufer nach Tschardjui verlegten. Der Strom ist hier von gewaltiger
Breite, fließt aber in der trocknen Jahreszeit in mehreren Armen zwischen Inseln
von Geröll und Sand, bedeckt mit Gras und Röhricht, die in der Zeit der
Schneeschmelze in -nächtigen Fluten von Bergwasser verschwinden. Es wird
berichtet, daß die Brücke des Generals Annenkoff in ihrem Entwürfe eine Länge
von 6804 Fuß, also zwei Kilometern hatte, woraus zu schließen ist, daß sie
aus verschiednen Abschnitten oder Gliedern besteht, die von Eiland zu Eiland
über deu breiten Strom führen, und hauptsächlich auf Holzpfeilern ruht. Mas¬
sive Zylinder und schwere Balken oder Gurte voll Eisen hätten sich mit den
dermaligen Verkehrsmitteln der Agenten des Zaren in Turkestan schwerlich
vom Kaspischen Meere bis nach Tschardjui schaffen lassen, der Bau wird sich
wohl nur durch seine Länge von ähnlichen Brücken unterscheiden, wie sie von
Holzhändlern im Hinterwalde des Westens von Amerika errichtet werden. Er
wird ein nur vorläufiges Werk sein. Doch ist nicht zu bezweifeln, daß er
seinem Zwecke entsprechen wird, bis die Verbesserung der Verkehrslinie die
Russen in den Stand setzt, den Strom in einer Gestalt zu überbrücken, welche
der Wut, die er in der Zeit entwickelt, wo der Schnee jenseits des Pamir
aufthaut, mit Sicherheit Widerstand zu leisten verspricht.

Wo die Lokomotive, mit welcher Annenkoff und der Beg von Tschardjui
den Fluß überschritten, ohne Unfall die Brücke passirte, werden bald auch
Truppen zu Fuß und zu Pferde, Geschütze, Munition und Proviant von Ufer
zu Ufer kommen und gehen. Die neue Brücke ist also ohne Zweifel ein sehr
wichtiger Gewinn und Vorteil für Rußland, namentlich wenn man die Ent¬
legenheit der Stelle, wo sie steht, in Rechnung zieht, und der Beg und sein
halbwildes Gefolge werden die Augen weit aufgethan und manches staunende
„Jnschallah!" ausgestoßen haben, als sie mit dem sausenden „Feuerwagen" über
die breite Fläche des endlich von Menschen bezwungenen Stromes fegten. Der
Name des „weißen Zaren" muß in den Augen der Nomaden von Karakum größer
und schrecklicher geworden sein, als der schrille Pfiff der Lokomotive die langen
Reihen von Pelikanen und die zahllosen Schwärme wilder Gänse aufscheuchte,
welche an den Rändern der Ufersümpfe unter ihren Rädern nisten.


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[0274] Lin neuer Schritt Rußlands in Turanien, durstigen Wüstenhochebene des Usturt und von den Sand- und Schlammbänke» des Ural aufgesogen wird. Noch niemals ist dieser alte Strom im Laufe der Jahrhunderte in seinen mittlern Teilen unter das Joch einer Brücke gebeugt und seiner Eigenschaft als Verkehrshindernis entkleidet morden, immer hatte man hier nur einzelne Fähren. Erst den moskowitischen Ingenieuren war es vor¬ behalten, ihn gleichsam zu zähmen und das zu vollbringen, was die Makedonier und Timurs Scharen nicht einmal wagen wollten. Sie haben die Aufgabe an keiner besonders günstigen Stelle zu lösen unternommen, sondern vielmehr die ausgewählt, welche sich am besten zur Verlängerung ihrer großen Eisenbahn vom Kaspischen See bis nach Samarkand eignet, wobei sie den Übergang von Ufer zu Ufer nach Tschardjui verlegten. Der Strom ist hier von gewaltiger Breite, fließt aber in der trocknen Jahreszeit in mehreren Armen zwischen Inseln von Geröll und Sand, bedeckt mit Gras und Röhricht, die in der Zeit der Schneeschmelze in -nächtigen Fluten von Bergwasser verschwinden. Es wird berichtet, daß die Brücke des Generals Annenkoff in ihrem Entwürfe eine Länge von 6804 Fuß, also zwei Kilometern hatte, woraus zu schließen ist, daß sie aus verschiednen Abschnitten oder Gliedern besteht, die von Eiland zu Eiland über deu breiten Strom führen, und hauptsächlich auf Holzpfeilern ruht. Mas¬ sive Zylinder und schwere Balken oder Gurte voll Eisen hätten sich mit den dermaligen Verkehrsmitteln der Agenten des Zaren in Turkestan schwerlich vom Kaspischen Meere bis nach Tschardjui schaffen lassen, der Bau wird sich wohl nur durch seine Länge von ähnlichen Brücken unterscheiden, wie sie von Holzhändlern im Hinterwalde des Westens von Amerika errichtet werden. Er wird ein nur vorläufiges Werk sein. Doch ist nicht zu bezweifeln, daß er seinem Zwecke entsprechen wird, bis die Verbesserung der Verkehrslinie die Russen in den Stand setzt, den Strom in einer Gestalt zu überbrücken, welche der Wut, die er in der Zeit entwickelt, wo der Schnee jenseits des Pamir aufthaut, mit Sicherheit Widerstand zu leisten verspricht. Wo die Lokomotive, mit welcher Annenkoff und der Beg von Tschardjui den Fluß überschritten, ohne Unfall die Brücke passirte, werden bald auch Truppen zu Fuß und zu Pferde, Geschütze, Munition und Proviant von Ufer zu Ufer kommen und gehen. Die neue Brücke ist also ohne Zweifel ein sehr wichtiger Gewinn und Vorteil für Rußland, namentlich wenn man die Ent¬ legenheit der Stelle, wo sie steht, in Rechnung zieht, und der Beg und sein halbwildes Gefolge werden die Augen weit aufgethan und manches staunende „Jnschallah!" ausgestoßen haben, als sie mit dem sausenden „Feuerwagen" über die breite Fläche des endlich von Menschen bezwungenen Stromes fegten. Der Name des „weißen Zaren" muß in den Augen der Nomaden von Karakum größer und schrecklicher geworden sein, als der schrille Pfiff der Lokomotive die langen Reihen von Pelikanen und die zahllosen Schwärme wilder Gänse aufscheuchte, welche an den Rändern der Ufersümpfe unter ihren Rädern nisten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/274>, abgerufen am 22.06.2024.