Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien.

orige Woche traf, wie englische Blätter meldeten, in London ein
Petersburger Telegramm ein, welches eine wichtige Nachricht
aus Mittelasien brachte. Denen zwar, welche, wie wir, schon seit
geraumer Zeit die Augen auf Turaniens ferne Lande gerichtet
halten und jede Kunde von dem, was dort sich vorbereitet und
vollzieht, sorgfältig verzeichnen, war sie keine Überraschung, allen aber, die sich
klar darüber sind, was Rußland mit seiner Politik in diesen Gegenden als
letztes Ziel erstrebt, wird sie bedeutend genug erscheinen, um eine kurze Be¬
sprechung zu rechtfertigen. Sie lautet: Die russischen Ingenieure haben ihre
längst schon beabsichtigte und seit einiger Zeit in Angriff genommene Brücke
über den Ann Darja vollendet, und ihr Chef, der General Annenkoff, ist in
Begleitung des Beg von Tschardjui in einem Eisenbahnwagen von Ufer zu Ufer
gefahren.

Diese Mitteilung ist zunächst in geographischer Hinsicht von Interesse. Der
Ann Darja oder Dschihoun, der Oxus der alten Geographen und Geschicht¬
schreiber, fließt, wie sein mächtiger Schwesterstrom, der Shr Darja, Sihun oder
Jaxartes, dem von Einöden umgebenen Becken des Aralsees zu, der aller
Wahrscheinlichkeit nach gleich gewissen Teilen des gewaltigen Kaspi bestimmt ist,
im Laufe einiger Jahrhunderte zu versumpfen und zuletzt einzutrocknen. Vom
geschichtlichen Standpunkte betrachtet, war der Oxus die nördliche Grenzmarke
der von Cyrus und später von Alexander dem Großen beherrschten turanischen
Gebiete. Er ist ein breiter und wasserreicher Fluß, gespeist von den Gletschern
der tibetanischen Bergketten und fast sechshundert deutsche Meilen lang, doch
wird sein Wasser im untern Laufe seichter und immer seichter, da es von der


Grenzboten I. 1333. 34


Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien.

orige Woche traf, wie englische Blätter meldeten, in London ein
Petersburger Telegramm ein, welches eine wichtige Nachricht
aus Mittelasien brachte. Denen zwar, welche, wie wir, schon seit
geraumer Zeit die Augen auf Turaniens ferne Lande gerichtet
halten und jede Kunde von dem, was dort sich vorbereitet und
vollzieht, sorgfältig verzeichnen, war sie keine Überraschung, allen aber, die sich
klar darüber sind, was Rußland mit seiner Politik in diesen Gegenden als
letztes Ziel erstrebt, wird sie bedeutend genug erscheinen, um eine kurze Be¬
sprechung zu rechtfertigen. Sie lautet: Die russischen Ingenieure haben ihre
längst schon beabsichtigte und seit einiger Zeit in Angriff genommene Brücke
über den Ann Darja vollendet, und ihr Chef, der General Annenkoff, ist in
Begleitung des Beg von Tschardjui in einem Eisenbahnwagen von Ufer zu Ufer
gefahren.

Diese Mitteilung ist zunächst in geographischer Hinsicht von Interesse. Der
Ann Darja oder Dschihoun, der Oxus der alten Geographen und Geschicht¬
schreiber, fließt, wie sein mächtiger Schwesterstrom, der Shr Darja, Sihun oder
Jaxartes, dem von Einöden umgebenen Becken des Aralsees zu, der aller
Wahrscheinlichkeit nach gleich gewissen Teilen des gewaltigen Kaspi bestimmt ist,
im Laufe einiger Jahrhunderte zu versumpfen und zuletzt einzutrocknen. Vom
geschichtlichen Standpunkte betrachtet, war der Oxus die nördliche Grenzmarke
der von Cyrus und später von Alexander dem Großen beherrschten turanischen
Gebiete. Er ist ein breiter und wasserreicher Fluß, gespeist von den Gletschern
der tibetanischen Bergketten und fast sechshundert deutsche Meilen lang, doch
wird sein Wasser im untern Laufe seichter und immer seichter, da es von der


Grenzboten I. 1333. 34
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0273" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202372"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341847_202098/figures/grenzboten_341847_202098_202372_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1018"> orige Woche traf, wie englische Blätter meldeten, in London ein<lb/>
Petersburger Telegramm ein, welches eine wichtige Nachricht<lb/>
aus Mittelasien brachte. Denen zwar, welche, wie wir, schon seit<lb/>
geraumer Zeit die Augen auf Turaniens ferne Lande gerichtet<lb/>
halten und jede Kunde von dem, was dort sich vorbereitet und<lb/>
vollzieht, sorgfältig verzeichnen, war sie keine Überraschung, allen aber, die sich<lb/>
klar darüber sind, was Rußland mit seiner Politik in diesen Gegenden als<lb/>
letztes Ziel erstrebt, wird sie bedeutend genug erscheinen, um eine kurze Be¬<lb/>
sprechung zu rechtfertigen. Sie lautet: Die russischen Ingenieure haben ihre<lb/>
längst schon beabsichtigte und seit einiger Zeit in Angriff genommene Brücke<lb/>
über den Ann Darja vollendet, und ihr Chef, der General Annenkoff, ist in<lb/>
Begleitung des Beg von Tschardjui in einem Eisenbahnwagen von Ufer zu Ufer<lb/>
gefahren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1019" next="#ID_1020"> Diese Mitteilung ist zunächst in geographischer Hinsicht von Interesse. Der<lb/>
Ann Darja oder Dschihoun, der Oxus der alten Geographen und Geschicht¬<lb/>
schreiber, fließt, wie sein mächtiger Schwesterstrom, der Shr Darja, Sihun oder<lb/>
Jaxartes, dem von Einöden umgebenen Becken des Aralsees zu, der aller<lb/>
Wahrscheinlichkeit nach gleich gewissen Teilen des gewaltigen Kaspi bestimmt ist,<lb/>
im Laufe einiger Jahrhunderte zu versumpfen und zuletzt einzutrocknen. Vom<lb/>
geschichtlichen Standpunkte betrachtet, war der Oxus die nördliche Grenzmarke<lb/>
der von Cyrus und später von Alexander dem Großen beherrschten turanischen<lb/>
Gebiete. Er ist ein breiter und wasserreicher Fluß, gespeist von den Gletschern<lb/>
der tibetanischen Bergketten und fast sechshundert deutsche Meilen lang, doch<lb/>
wird sein Wasser im untern Laufe seichter und immer seichter, da es von der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1333. 34</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0273] [Abbildung] Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien. orige Woche traf, wie englische Blätter meldeten, in London ein Petersburger Telegramm ein, welches eine wichtige Nachricht aus Mittelasien brachte. Denen zwar, welche, wie wir, schon seit geraumer Zeit die Augen auf Turaniens ferne Lande gerichtet halten und jede Kunde von dem, was dort sich vorbereitet und vollzieht, sorgfältig verzeichnen, war sie keine Überraschung, allen aber, die sich klar darüber sind, was Rußland mit seiner Politik in diesen Gegenden als letztes Ziel erstrebt, wird sie bedeutend genug erscheinen, um eine kurze Be¬ sprechung zu rechtfertigen. Sie lautet: Die russischen Ingenieure haben ihre längst schon beabsichtigte und seit einiger Zeit in Angriff genommene Brücke über den Ann Darja vollendet, und ihr Chef, der General Annenkoff, ist in Begleitung des Beg von Tschardjui in einem Eisenbahnwagen von Ufer zu Ufer gefahren. Diese Mitteilung ist zunächst in geographischer Hinsicht von Interesse. Der Ann Darja oder Dschihoun, der Oxus der alten Geographen und Geschicht¬ schreiber, fließt, wie sein mächtiger Schwesterstrom, der Shr Darja, Sihun oder Jaxartes, dem von Einöden umgebenen Becken des Aralsees zu, der aller Wahrscheinlichkeit nach gleich gewissen Teilen des gewaltigen Kaspi bestimmt ist, im Laufe einiger Jahrhunderte zu versumpfen und zuletzt einzutrocknen. Vom geschichtlichen Standpunkte betrachtet, war der Oxus die nördliche Grenzmarke der von Cyrus und später von Alexander dem Großen beherrschten turanischen Gebiete. Er ist ein breiter und wasserreicher Fluß, gespeist von den Gletschern der tibetanischen Bergketten und fast sechshundert deutsche Meilen lang, doch wird sein Wasser im untern Laufe seichter und immer seichter, da es von der Grenzboten I. 1333. 34

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/273
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/273>, abgerufen am 22.06.2024.