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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Soimtagsphilosophen.

Jchfrage zur Sachfrage zurück, und beide finde" da eine Antwort, die durch die
verschiednen Standpunkte hindurch deren Vertreter zugleich der gemeinsam ge¬
suchten Sache und sich selbst einander näher führt, als sie für sich kommen
konnten. Denn alle Wahrheit, von der überhaupt die Rede wird, ist ein Ge¬
meinsames, auch der Streit darüber entsteht nur aus der vermißten Gemeinsam¬
keit, wie dort bei dem wahren Bilde des Schlosses. Daß aber diese Gemein¬
samkeit sich herstelle, dazu gehört, daß der Einzelne die Kunst lerne, sich vor¬
übergehend selbst zu vergessen über dein Ganzen, sich gleichsam selbst zu über¬
springen, er springt ja damit weiter in das Ganze hinüber. Dazu gehört aber
Kraft, und das ist wirkliche Güte, nicht Schwäche, wie mau sie oft aufgefaßt
findet, ja die höchste Kraftäußerung, deren die menschliche Seele fähig ist. Diese
Kraftäußerung der Selbstverleugnung lohnt sich aber reichlich, denn man erhält
sich aus dem Ganzen selbst gleichsam ganzer zurück, d. h. einiger nicht nur mit
der Sache draußen, die für alle ein und dieselbe ist, sondern auch mit den
Andern, die sie angeht. Ein besonders deutlicher Fall, wie das Einzelleben erst
im Gesamtleben recht zu sich selbst kommt. So hilft das Wahre dem Guten
zum Leben und das Gute dem Wahren.

Ich habe nicht einen Vorgang zeichnen wollen, der hoch in der Idee schwebt,
sondern einen, der im Leben sich täglich schon vollzieht und ohne den es gar
nicht so gehen könnte, wie es eben geht, von der Familie bis zur Wissenschaft.
Aber es könnte, scheint mir, noch besser gehen, wenn man sich das recht zum
Bewußtsein brächte, daß auch die Widerstrebenden sich rascher überzeugten, wo
sie ihren wahren Vorteil finden, als sie es dann durch den Drang der Dinge doch
lernen müssen. Wir alle werden ja von diesem in die Schule genommen und
müssen an jener Kunst lernen, mit oder ohne Lust dazu. Mir ist es aber, als
könnte schon in der wirklichen Schule in geeigneter Weise davon die Rede sein,
die Schüler, die verständigen wenigstens, würden schon aus eigner Erfahrung
Ja dazu sagen können. Es wird in der Schule so viel von Sprachen und Sprache
gehandelt. Die Sprache ist das unentbehrliche Werkzeug alles Streites und der
Einigung, aber durchaus kein vollkommenes, läßt vielmehr dem guten Willen, auf
den alles ankommt, Spielraum genug, zumal wo es sich um Dinge handelt,
die nicht in die Sinne fallen, so fest wie jenes Schloß, wie in den meisten
Fällen. Denn in dem Vorräte von Wendungen, welche die Sprache darbietet,
finden sich nur wenige, die ganz scharf aussprechen, was man eben sagen und
bestimmen will, die meisten haben gleichsam angrenzende mögliche Auffassungen
neben sich, die nur durch genaue und gutwillige Vorstellung des Andern bei¬
seite gehalten werden. Fortwährend kommt man, zumal in der unwillkürlichen
Erregung des Streites, auch bei guter Übung, in den Fall, Wendungen zu brauchen,
die mehrseitig sind, oder auch solche, die nicht alles sagen, was eben nötig wäre,
die sich aber aus dem Zusammenhange ergänzen. Da kommt nun alles auf des
Einzelnen guten Willen an, daß er bei dem Worte des Andern sich das Fehlende


TagebuchblLtter eines Soimtagsphilosophen.

Jchfrage zur Sachfrage zurück, und beide finde» da eine Antwort, die durch die
verschiednen Standpunkte hindurch deren Vertreter zugleich der gemeinsam ge¬
suchten Sache und sich selbst einander näher führt, als sie für sich kommen
konnten. Denn alle Wahrheit, von der überhaupt die Rede wird, ist ein Ge¬
meinsames, auch der Streit darüber entsteht nur aus der vermißten Gemeinsam¬
keit, wie dort bei dem wahren Bilde des Schlosses. Daß aber diese Gemein¬
samkeit sich herstelle, dazu gehört, daß der Einzelne die Kunst lerne, sich vor¬
übergehend selbst zu vergessen über dein Ganzen, sich gleichsam selbst zu über¬
springen, er springt ja damit weiter in das Ganze hinüber. Dazu gehört aber
Kraft, und das ist wirkliche Güte, nicht Schwäche, wie mau sie oft aufgefaßt
findet, ja die höchste Kraftäußerung, deren die menschliche Seele fähig ist. Diese
Kraftäußerung der Selbstverleugnung lohnt sich aber reichlich, denn man erhält
sich aus dem Ganzen selbst gleichsam ganzer zurück, d. h. einiger nicht nur mit
der Sache draußen, die für alle ein und dieselbe ist, sondern auch mit den
Andern, die sie angeht. Ein besonders deutlicher Fall, wie das Einzelleben erst
im Gesamtleben recht zu sich selbst kommt. So hilft das Wahre dem Guten
zum Leben und das Gute dem Wahren.

Ich habe nicht einen Vorgang zeichnen wollen, der hoch in der Idee schwebt,
sondern einen, der im Leben sich täglich schon vollzieht und ohne den es gar
nicht so gehen könnte, wie es eben geht, von der Familie bis zur Wissenschaft.
Aber es könnte, scheint mir, noch besser gehen, wenn man sich das recht zum
Bewußtsein brächte, daß auch die Widerstrebenden sich rascher überzeugten, wo
sie ihren wahren Vorteil finden, als sie es dann durch den Drang der Dinge doch
lernen müssen. Wir alle werden ja von diesem in die Schule genommen und
müssen an jener Kunst lernen, mit oder ohne Lust dazu. Mir ist es aber, als
könnte schon in der wirklichen Schule in geeigneter Weise davon die Rede sein,
die Schüler, die verständigen wenigstens, würden schon aus eigner Erfahrung
Ja dazu sagen können. Es wird in der Schule so viel von Sprachen und Sprache
gehandelt. Die Sprache ist das unentbehrliche Werkzeug alles Streites und der
Einigung, aber durchaus kein vollkommenes, läßt vielmehr dem guten Willen, auf
den alles ankommt, Spielraum genug, zumal wo es sich um Dinge handelt,
die nicht in die Sinne fallen, so fest wie jenes Schloß, wie in den meisten
Fällen. Denn in dem Vorräte von Wendungen, welche die Sprache darbietet,
finden sich nur wenige, die ganz scharf aussprechen, was man eben sagen und
bestimmen will, die meisten haben gleichsam angrenzende mögliche Auffassungen
neben sich, die nur durch genaue und gutwillige Vorstellung des Andern bei¬
seite gehalten werden. Fortwährend kommt man, zumal in der unwillkürlichen
Erregung des Streites, auch bei guter Übung, in den Fall, Wendungen zu brauchen,
die mehrseitig sind, oder auch solche, die nicht alles sagen, was eben nötig wäre,
die sich aber aus dem Zusammenhange ergänzen. Da kommt nun alles auf des
Einzelnen guten Willen an, daß er bei dem Worte des Andern sich das Fehlende


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[0258] TagebuchblLtter eines Soimtagsphilosophen. Jchfrage zur Sachfrage zurück, und beide finde» da eine Antwort, die durch die verschiednen Standpunkte hindurch deren Vertreter zugleich der gemeinsam ge¬ suchten Sache und sich selbst einander näher führt, als sie für sich kommen konnten. Denn alle Wahrheit, von der überhaupt die Rede wird, ist ein Ge¬ meinsames, auch der Streit darüber entsteht nur aus der vermißten Gemeinsam¬ keit, wie dort bei dem wahren Bilde des Schlosses. Daß aber diese Gemein¬ samkeit sich herstelle, dazu gehört, daß der Einzelne die Kunst lerne, sich vor¬ übergehend selbst zu vergessen über dein Ganzen, sich gleichsam selbst zu über¬ springen, er springt ja damit weiter in das Ganze hinüber. Dazu gehört aber Kraft, und das ist wirkliche Güte, nicht Schwäche, wie mau sie oft aufgefaßt findet, ja die höchste Kraftäußerung, deren die menschliche Seele fähig ist. Diese Kraftäußerung der Selbstverleugnung lohnt sich aber reichlich, denn man erhält sich aus dem Ganzen selbst gleichsam ganzer zurück, d. h. einiger nicht nur mit der Sache draußen, die für alle ein und dieselbe ist, sondern auch mit den Andern, die sie angeht. Ein besonders deutlicher Fall, wie das Einzelleben erst im Gesamtleben recht zu sich selbst kommt. So hilft das Wahre dem Guten zum Leben und das Gute dem Wahren. Ich habe nicht einen Vorgang zeichnen wollen, der hoch in der Idee schwebt, sondern einen, der im Leben sich täglich schon vollzieht und ohne den es gar nicht so gehen könnte, wie es eben geht, von der Familie bis zur Wissenschaft. Aber es könnte, scheint mir, noch besser gehen, wenn man sich das recht zum Bewußtsein brächte, daß auch die Widerstrebenden sich rascher überzeugten, wo sie ihren wahren Vorteil finden, als sie es dann durch den Drang der Dinge doch lernen müssen. Wir alle werden ja von diesem in die Schule genommen und müssen an jener Kunst lernen, mit oder ohne Lust dazu. Mir ist es aber, als könnte schon in der wirklichen Schule in geeigneter Weise davon die Rede sein, die Schüler, die verständigen wenigstens, würden schon aus eigner Erfahrung Ja dazu sagen können. Es wird in der Schule so viel von Sprachen und Sprache gehandelt. Die Sprache ist das unentbehrliche Werkzeug alles Streites und der Einigung, aber durchaus kein vollkommenes, läßt vielmehr dem guten Willen, auf den alles ankommt, Spielraum genug, zumal wo es sich um Dinge handelt, die nicht in die Sinne fallen, so fest wie jenes Schloß, wie in den meisten Fällen. Denn in dem Vorräte von Wendungen, welche die Sprache darbietet, finden sich nur wenige, die ganz scharf aussprechen, was man eben sagen und bestimmen will, die meisten haben gleichsam angrenzende mögliche Auffassungen neben sich, die nur durch genaue und gutwillige Vorstellung des Andern bei¬ seite gehalten werden. Fortwährend kommt man, zumal in der unwillkürlichen Erregung des Streites, auch bei guter Übung, in den Fall, Wendungen zu brauchen, die mehrseitig sind, oder auch solche, die nicht alles sagen, was eben nötig wäre, die sich aber aus dem Zusammenhange ergänzen. Da kommt nun alles auf des Einzelnen guten Willen an, daß er bei dem Worte des Andern sich das Fehlende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/258>, abgerufen am 22.06.2024.